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Exzellenz? Ja, und zwar als inklusive, diverse und geschlechtergerechte Exzellenz!

Die Soziologin Kathrin Zippel hielt ihre öffentliche Antrittsvorlesung als Einstein-Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gender Studies an der Freien Universität

20.12.2022

In der Mitte: Kathrin Zippel mit Robin Celikates (links), Günter M. Ziegler (2. v. links), Joachim Trebbe (2. v. rechts) und Christian von Scheve (rechts).

In der Mitte: Kathrin Zippel mit Robin Celikates (links), Günter M. Ziegler (2. v. links), Joachim Trebbe (2. v. rechts) und Christian von Scheve (rechts).
Bildquelle: Michael Fahrig

Die Soziologin und Gender-Forscherin Kathrin Zippel hat ihre akademische Karriere in den USA begonnen und ist nun nach Deutschland zurückgekehrt. Ihre Antrittsvorlesung am 1. Dezember im Rahmen der Ringvorlesung „Diversität und Exzellenz - Ein Spannungsverhältnis?!“ der Berlin University Alliance illustrierte, auf welche Weise Zippel die wissenschaftliche Forschung in Berlin bereichern wird.

Thema von Kathrin Zippels Vortrags war die erstaunliche Laufbahn eines Begriffs: jenes des „implicit bias“, der die Diversitäts- und Gleichstellungspolitik in den USA geprägt hat wie kein anderer. Am besten übersetzen könnte man „implicit bias“ mit „unbewussten Denkmustern“, also unbewussten Verzerrungen der Wahrnehmung, die auf Vorurteile und Stereotypen zurückgehen.

Der Begriff des „implicit bias“ zielt darauf ab, dass wir uns dessen bewusstwerden, wie unser Gehirn die Wirklichkeit ordnet und verarbeitet: Es benutzt dabei Schemata und Muster, die Dinge miteinander verknüpfen, Leerstellen füllen, und Zusammenhänge herstellen. Das ist lebensnotwendig, weil es die Komplexität der Welt einordnen hilft, kann aber auch trügerisch sein. In dem Einsatz von Mustern und Schemata können sich Fehler einschleichen: Ohne es zu wollen und ohne es zu merken, bestimmen Vorurteile und Stereotype über soziale Gruppen unsere Wahrnehmungen und unsere Entscheidungen. Viele Menschen gehen etwa unbewusst davon aus, dass Frauen für den Ingenieurberuf weniger begabt seien als Männer oder dass junge Menschen sich mit digitaler Technologie besser auskennen als ältere.

Unser Gehirn folgt also mentalen Faustregeln und nimmt Abkürzungen, mit denen es aber nun mal sehr oft danebenliegt. Oder, wie Kathrin Zippel es ausdrückt: unser Gehirn kann „uns Streiche spielen“. Das Gute dabei: Wir können versuchen, uns unserer eigenen unbewussten Schnellschlüsse bewusst zu werden. Und noch viel wichtiger, wir können versuchen, institutionelle Prozesse so zu gestalten, dass wir den Einfluss von „implicit bias“ minimieren. Inzwischen gehört der Begriff des „implicit bias“ deshalb zum Standardrepertoire der Fortbildung in staatlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen und in der Privatwirtschaft.

Kathrin Zippel hielt ihre Antrittsvorlesung im Henry-Ford-Bau.

Kathrin Zippel hielt ihre Antrittsvorlesung im Henry-Ford-Bau.
Bildquelle: Michael Fahrig

Zippel zeigte in ihrer Vorlesung anschaulich, welche Konjunkturkurve der Begriff des „implicit bias“ in den vergangenen Jahrzenten Jahren hingelegt hat. Als Untersuchungsgegenstand wählte Zippel dabei das ADVANCE-Programm der US-amerikanischen National Science Foundation: Das ist eines der Flaggschiffe der dortigen Gleichstellungsprogramme, welches mit Hunderten Millionen Dollar an Fördergeldern innovative Maßnahmen unterstützt, um institutionelle Barrieren für das Vorankommen von Professorinnen in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieur- und Naturwissenschaften und Technik) zu beseitigen. Zippel und ihre Kollegin Laura Nelson stützten sich dabei auf die komputationale Textanalyse von über 70 Förderanträgen des ADVANCE-Programms, deren Antragsprosa sie mithilfe einer Diskursanalyse semantischer Netzwerke untersuchten.

Dabei zeigt sich: Über einen Zeitraum von 20 Jahren wird der Begriff des „implicit bias“ immer prominenter, er verdrängt andere populäre Konzepte wie Mentoring oder Netzwerke. Nun fragte Zippel: Woran kann es liegen, dass das Konzept der unbewussten Verzerrung, des „implicit bias“ derart rapide und umfassend erfolgreich war, dass es zu einem der Kernbegriffe der Diversitäts- und Gleichstellungsmaßnahmen in den USA geworden ist? Und warum ist es vor allen in akademischen Institutionen so beliebt? Ein Grund, so argumentiert Zippel, liegt darin, dass der Begriff die zentralen Grundwerte des universitären Forschens und Lehrens nicht infrage stellt, sondern vielmehr auf sie rekurriert. Er baut auf das Vertrauen in die Wissenschaft und ist methodisch nachprüfbar, anschaulich und vielseitig einsetzbar. Er ist quasi objektiv, unparteiisch und meritokratisch. Außerdem zeichnet sich das Konzept des „implicit bias“ dadurch aus, dass man daraus Handlungsempfehlungen ableiten kann, Trainings und Fortbildungen.

Armaghan Naghipour, Staatssekretärin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung, richtete ein Grußwort an Kathrin Zippel.

Armaghan Naghipour, Staatssekretärin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung, richtete ein Grußwort an Kathrin Zippel.
Bildquelle: Michael Fahrig

Aber, und darauf insistierte Kathrin Zippel, haben eben jene Eigenschaften, denen sich der Erfolg des Begriffs verdankt, auch ihre Schattenseiten: Das Bewusstsein von individuellen Verzerrungen in der Wahrnehmung und des Urteilens reicht nicht aus. Vielmehr müssen institutionelle, strukturelle Mechanismen beleuchtet und verändert werden. Denn Diskriminierung und Ungleichheit stecken ja nicht nur in unseren Köpfen, sondern sie sind auch die Folge davon, wie Institutionen aufgebaut sind und funktionieren, und wie diese unter anderem implizite „Biases“ verstärken, anstatt ihnen entgegenzuwirken.

Eine weitere Gefahr liege darin, dass die These von den „unbewussten Verzerrungen“ unseres kognitiven Apparats auch so verstanden werden kann, dass diese quasi verzeihlich, weil unausweichlich seien. Anstatt die reale Ungleichheit in der Machtverteilung zwischen Mehrheit und Minderheiten ins Blickfeld zu rücken, erklärt der Begriff Stereotypen weg, indem er sie auf Tricks unseres Gehirns reduziert. Das ist möglicherweise auch deshalb so beliebt, weil es natürlich ungleich schwieriger ist, akademische Institutionen zu verändern und reale Privilegien anzugehen als Seminare über Verzerrungen in der Wahrnehmung abzuhalten.

Am Ende ihres Vortrages argumentierte Zippel dafür, dass – obschon der Begriff des „implicit bias“ Verdienste habe, mehr Chancengerechtigkeit für Frauen und Angehörige von Minderheiten voranzutreiben –, man bei ihm eben nicht stehen bleiben solle: „Wir müssen sehr viel weitergehen“, sagte sie, „indem wir unser Verständnis davon, was Exzellenz bedeutet, selbst auf den Prüfstand stellen, und es so erweitern, dass es inklusiver ist.“ Und: Wir sollten uns selbst befragen, welche Art von wissenschaftlicher Exzellenz wir als Gesellschaft für wichtig erachten und welche Exzellenz uns als Gesellschaft weiterbringt. So wären am Ende Exzellenz und Diversität kein Gegensatzpaar mehr, sondern stattdessen miteinander verbunden.

Weitere Informationen

Kathrin Zippel ging nach ihren Vordiplomen in Mathematik und Politikwissenschaft in Hamburg in die USA, wo sie in Soziologie mit Nebenfach Women’s Studies an der Universität Wisconsin promoviert wurde. Sie war zuletzt Professorin für Soziologie an der Northeastern University in Boston und unterrichtete zugleich in Harvard und im Consortium for Graduate Studies in Gender, Culture, Women, and Sexuality, das beim MIT angesiedelt ist. Mit der Berufung zur Einstein-Profil-Professorin an der Freien Universität ist sie nun nach Deutschland zurückgekehrt.

Pressemitteilung zur Berufung von Kathrin Zippel als Einstein-Profil-Professorin 

Die Grußworte bei der Antrittsvorlesung sprachen: Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität und Mitglied des Steering Committee für Diversity and Gender Equality der Berlin University Alliance, Armaghan Naghipour, Staatssekretärin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung des Landes Berlin, Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin, Joachim Trebbe, Dekan des Fachbereichs Politik- und Sozialwissenschaften, und Christian von Scheve, Leiter des Instituts für Soziologie.