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Geschichte nimmt keine Rücksicht auf Landesgrenzen

Der US-amerikanische Historiker Max Paul Friedman wurde mit dem Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgezeichnet – er forscht derzeit am Lateinamerika-Institut der Freien Universität

08.08.2019

Max Paul Friedman forscht als Alexander-von-Humboldt-Preisträger am Lateinamerika-Institut der Freien Universität.

Max Paul Friedman forscht als Alexander-von-Humboldt-Preisträger am Lateinamerika-Institut der Freien Universität.
Bildquelle: Thomas Hauzenberger

Der etwas sperrige Begriff Transnationalismus ist so etwas wie eine Herzensangelegenheit für Max Paul Friedman. Er umfasst Phänomene, die sich nicht allein aus der Perspektive einer Nation heraus untersuchen und erklären lassen – etwa Migration oder die staatenübergreifende Zirkulation bestimmter Kulturtechniken. Es sei „nicht ausreichend“, die Geschichte einzelner Nationen zu untersuchen, ohne dies in einen größeren Zusammenhang zu setzen, sagt der Historiker: „Gesellschaftliche Prozesse haben sich stets über Landesgrenzen hinweg vollzogen.“ Als Beispiel nennt Friedman unter anderem die Bemühungen der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas um Anerkennung und Emanzipation, bei deren Erforschung eine nationale Perspektive in die Irre führen würde, weil deren Geschichte unabhängig von den heutigen Landesgrenzen betrachtet werden müsse.

Für seine Arbeiten wurde der Experte für Lateinamerika und die Außenpolitik der USA bereits mit mehr als 50 Preisen und Stipendien geehrt; seine neueste Auszeichnung führt ihn nach Berlin: Der mit 45 000 Euro dotierte Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung ist mit einem Forschungsaufenthalt an einer deutschen Hochschule verknüpft.

Transnationalismus als neue Perspektive für die Wissenschaft

Am Lateinamerika-Institut der Freien Universität (LAI) arbeitet Friedman mit dem Historiker Professor Stefan Rinke zusammen. Das Ergebnis der Kooperation sollen mehrere Workshops sein, die im Winter dieses Jahres und im Juli 2020 in Berlin und Washington stattfinden und sich dem Konzept des Transnationalismus widmen werden. „Nationalismus und Nationen sind nichts Organisches, sondern von Menschen konstruiert“, erläutert Friedman. „Geschichte hat einen wichtigen Anteil an dieser Konstruktion – so begreifen sich unterschiedliche Menschen, die an sich nichts miteinander zu tun haben, als einer Nation zugehörig.“

In den interdisziplinär angelegten Workshops sollen nicht nur Beispiele für transnationale Phänomene verhandelt werden; es soll vor allem auch ein Austausch darüber stattfinden, was eine transnationale Perspektive für unterschiedliche Disziplinen bedeutet. „Wir wollen Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen, aus der Geschichts- und Literaturwissenschaft, aber zum Beispiel auch aus der Soziologie oder der Anthropologie zusammenbringen, um über zwei Fragen zu diskutieren: Wie funktioniert das Konzept von Transnationalismus in der eigenen Forschung, und wie wird der Begriff im eigenen Fach genutzt.“ Sein Kollege Stefan Rinke – die beiden verbindet eine langjährige Zusammenarbeit – hat zum Beispiel schon vor 20 Jahren von Transnationalismus gesprochen. In seinem Buch „Der letzte freie Kontinent" thematisierte der LAI-Historiker die Migrationsbewegungen der Deutschen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg Richtung Lateinamerika aufmachten.

Politik der guten Nachbarschaft

Darüber hinaus möchte Friedman seinen Aufenthalt in Berlin nutzen, um an einem Buch über die Beziehungen zwischen Lateinamerika und den USA seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Kalten Krieges zu arbeiten. Die einzelnen Staaten Lateinamerikas lebten lange in der Angst, die übermächtige Weltmacht aus dem Norden könnte ihre politischen Interessen in Lateinamerika notfalls auch mithilfe militärischer Interventionen durchsetzen – wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus üblich war. Um sich dagegen zu wappnen, schlossen sich Diplomaten mehrerer lateinamerikanischer Länder mit dem Ziel zusammen, kriegerische Auseinandersetzungen als politisches Mittel zu delegitimieren. Den Anfang machten argentinische Juristen, die erkannt hatten, dass diplomatische Zusammenarbeit auf internationaler Ebene die einzige Chance war, um die eigenen Interessen gegenüber dem nordamerikanischen Nachbarn zu vertreten. Diese Bestrebungen führten dazu, dass die USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt schließlich darauf verzichteten, mit militärischer Übermacht zu drohen: Sie schwenkten um auf eine Politik der guten Nachbarschaft.

Kritischer Blick auf Vergangenheit und Gegenwart

Schon im Rahmen seiner Dissertation „Nazis and Good Neighbors: The United States Campaign against the Germans of Latin America in World War II" beschäftigte sich Friedman mit den USA und Lateinamerika: Er forschte zu einer FBI-Operation (Federal Bureau of Investigation) während des Zweiten Weltkriegs, die das Ziel verfolgte, nach Südamerika emigrierte Nazis ausfindig zu machen und nach Texas zu verschleppen, um sie dort zu internieren. Die mit dieser Mission beauftragten US-amerikanischen Agenten sprachen allerdings weder Spanisch noch Portugiesisch oder Deutsch und waren deshalb gar nicht in der Lage herauszufinden, bei welchen Exildeutschen es sich tatsächlich um Nationalsozialisten handelte. Anstatt gezielt nach Nazis zu fahnden, setzten sie ein grundsätzliches Kopfgeld auf Deutsche aus. Das führte dazu, dass viele Menschen zu Unrecht inhaftiert wurden – unter ihnen auch emigrierte Juden, von denen sich einige eben erst vor den Konzentrationslagern in Europa nach Südamerika hatten retten können. Auch im Rahmen dieses Projekts hatte Friedman am LAI geforscht.

Unter Trump bedrohliche neue Entwicklung

Heute kritisiert Friedman den zur Schau gestellten Zynismus der amtierenden US-Regierung: „Dass die USA mit autoritären Staaten kollaborieren oder militärisch intervenieren ist keine neue Entwicklung. Aber dass Trump frei heraus Diktatoren lobt, während er demokratische Verbündete diskursiv angreift, dass die US-Administration keinen Hehl daraus macht, stark an den Ölreserven Venezuelas interessiert zu sein, ist eine neue Entwicklung.“ Sie sei deshalb so bedrohlich, weil dadurch totalitäre Regime weniger Anreiz hätten, die Menschenrechtslage im eigenen Land zu verbessern.