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„Die Wissenschaft ist gewiss nicht schlecht, wir Menschen sind es leider“

In dem szenischen Porträt „KERNFRAGEN“ wird Lise Meitner, Physikerin und Ehrendoktorin der Freien Universität, lebendig / Nächste Vorstellung am 15. Februar 2019, 17 Uhr

10.01.2019

Anita Zieher verkörpert Lise Meitner auf der Bühne des Max-Kade-Auditoriums

Anita Zieher verkörpert Lise Meitner auf der Bühne des Max-Kade-Auditoriums
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Herzlich liebe ich die Physik. Es ist eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt“, reflektiert Lise Meitner auf der Bühne des Max-Kade-Auditoriums. Die Pionierin der Kernphysik steht vor etwa 500 Zuschauern und lässt ihr Leben und Wirken Revue passieren. Ihr Lehrer, Max von Laue, sitzt im Publikum und kommentiert nostalgiegetragen, bisweilen amüsiert. Anita Zieher gibt Lise Meitner, die vor 50 Jahren starb und deren Geburtstag sich gerade zum 140. Mal jährte, eine Gestalt auf der Bühne. Die österreichische Schauspielerin ist Hauptdarstellerin in dem Theaterstück der Wiener Gruppe portraittheater, das im November 2018 im Audimax der Freien Universität uraufgeführt wurde. Christoph Gareisen ist der Physiker Max von Laue, Dietmar König der Chemiker Otto Hahn. Initiiert wurde die Inszenierung „KERNFRAGEN – Gedenken an Lise Meitner“ von Heinz-Eberhard Mahnke, Honorarprofessor am Fachbereich Physik der Freien Universität, Physiker am Helmholtz-Zentrum Berlin sowie Ägyptisches Museum und Papyrussammlung. Heinz-Eberhard Mahnke ist auch für eine Vorlesungsreihe zu Meitners Forschung im laufenden Wintersemester verantwortlich.

Auf der Bühne werden Wissenschaft und Kunst miteinander verwoben. Regisseurin und Dramatikerin Sandra Schüddekopf hat ein sehr persönliches Porträt entworfen, das die Frau hinter den Forschungsergebnissen zeigt – in ihren Freundschaften mit Otto Hahn und Max von Laue, in ihrer Hartnäckigkeit, aber auch in ihrer Frustration, wenn ihr Steine in den Weg gelegt werden. Und Steine gibt es viele. 1878 in Wien geboren war Lise Meitner erst die zweite Frau in Österreich, die in Physik promovieren konnte. Auch als sie 1907 nach Berlin kommt, muss sie feststellen, welch schweren Stand Frauen in der Männerdomäne der Naturwissenschaften haben. Unentgeltlich und als inoffizielle Assistentin fängt sie bei Max Planck, dem Begründer der Quantenphysik und späteren Nobelpreisträger, an, wird erst 1913 wissenschaftliches Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und forscht jahrelang in einem lichtlosen Verschlag. Lange wird die Wissenschaftlerin von den Studierenden spöttisch mit „Guten Tag, Herr Hahn“ begrüßt. Erst in der Weimarer Republik, 1922, kann sie sich habilitieren. Schließlich gelingt es ihr, als erste Frau in Deutschland eine Physikprofessur zu erhalten.

Anita Zieher mit Christoph Gareisen als Physiker Max von Laue

Anita Zieher mit Christoph Gareisen als Physiker Max von Laue
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

All das lässt Sandra Schüddekopf – die an der Freien Universität Theaterwissenschaft und Nordamerikastudien studiert hat – ihre Protagonistin selbst erzählen. Verwendet hat sie dafür Lise Meitners Aufzeichnungen und Briefe. Anita Ziehers unprätentiöse Spielweise, ihr Fokus auf Details, etwa kleine Gesten, und ihr Wiener Zungenschlag lassen fast vergessen, dass eine Schauspielerin das Leben der Physikpionierin darstellt.

Das Dreipersonen-Stück zirkelt um die Entdeckung der Kernspaltung, die Lise Meitner mit Otto Hahn vorbereitet hatte. Als sie Hahn und seinem Mitarbeiter Fritz Straßmann am 17. Dezember 1938 gelang, war Lise Meitner bereits vor den Nationalsozialisten geflohen und im Exil in Schweden.

Deutlich wird in „KERNFRAGEN“ aber auch die Bedeutung des damaligen Wissenschaftsstandorts Berlin-Dahlem. Die Kaiser-Wilhelm-Institute waren ein „regelrechtes Zentrum für Nobelpreisträger“, betonte Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, in seiner Begrüßung. Lise Meitner befand sich im Wirkungskreis nicht nur von Max Planck, Max von Laue und Otto Hahn, sondern auch etwa von Fritz Haber und Albert Einstein – der die Physikerin hochachtungsvoll „unsere deutsche Marie Curie“ nannte. Fast alle wurden 1878/79 geboren, „ein besonders guter Jahrgang“, stellt Lise Meitner, Anita Zieher, in dem Theaterstück fest. Die Physikerin war tatsächlich 48 Mal für den Nobelpreis für Physik und Chemie nominiert, hat ihn aber letztendlich nie bekommen.

Die Berliner Cappella und der Kammerchor des Collegium Musicum begleiten den Abend musikalisch

Die Berliner Cappella und der Kammerchor des Collegium Musicum begleiten den Abend musikalisch
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Multimedial und quer durch verschiedene Kunstsparten bewegt sich das Dokumentarstück. Lichtkünstlerin Katrin Bethge visualisiert chemische Prozesse mit Flüssigkeiten und Pulvern im Retro-Stil über einen Overheadprojektor oder lässt regenbogenfarbene Lichtstreifen durch den großen Hörsaal flackern – als Anklang an Max von Laues Untersuchung von Kristallstrukturen. Auf die Bühnenrückwand als Film projiziert wird eine Art Talkshow, in der die drei Protagonisten über Forschung, Leben und Freundschaft bei einem Glas Champagner zurückblicken. Pianistin Andrea Marie Baiocchi untermalt mit melancholisch-minimalistischem Leitmotiv. Ein großer Chor – zusammengesetzt aus der Berliner Cappella und dem Kammerchor des Collegium Musicum – singt Brahmslieder und erinnert so daran, dass Lise Meitner und Otto Hahn nach getaner Arbeit gerne zusammen sangen. Doch auch die Liederabende werden in den dreißiger Jahren düsterer: „In dem Herzen ringt die Not / So als wär es gar der Tod“, mahnen die Verse aus Brahms‘ „Nachtigall, sag, was für Grüß“.

Dramatischer Höhepunkt des szenischen Porträts ist die Zeit des Nationalsozialismus. Aus diesen Jahren ist die Korrespondenz von Lise Meitner und Max von Laue fast vollständig erhalten. Während die Briefe damals tagelang unterwegs waren und ihre Ankunft ungewiss, hat Schüddekopf für die Inszenierung einzelne Sätze herausgegriffen und zu einem Gespräch komponiert. So versetzt „Kernfragen“ ungefiltert in die Emotionslage der Wissenschaftler – in Lise Meitners, die als Jüdin 1938 aus Berlin nach Stockholm flüchten musste, und in Max von Laues, der während des Kriegs die Bombardierung Berlins und der Institute erlebte. Im Dezember 1938 gelingt die bahnbrechende Entdeckung in der Nuklearphysik. 1934 hatten Lise Meitner und Otto Hahn die Arbeit dazu gemeinsam begonnen, vier Jahre später gelang dem Chemiker in Dahlem die erste Kernspaltung, während seine Kollegin die theoretische Erklärung aus Schweden lieferte.

Die Kriegsjahre sind eine dunkle Zeit für die jüdische Wissenschaftlerin

Die Kriegsjahre sind eine dunkle Zeit für die jüdische Wissenschaftlerin
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der wissenschaftliche Durchbruch ist mit einem schweren moralischen Dilemma verbunden: Als die Atombomben auf Japan fallen, geht sie stundenlang spazieren, berichtet Lise Meitner dem Publikum. Von ihren Gefühlen überwältigt hält sie kurz auf der Bühne inne, während der Chor das dissonant-expressive „The Fruit of Silence“ von Peteris Vasks nach einem Text von Mutter Teresa erklingen lässt – wohl der emotionalste Moment des Abends. In den Medien wird Meitner fortan „Mutter der Atombombe“ genannt, Paparazzi belagern ihr Hotel, erdachte Interviews erscheinen. Die Physikerin fühlt sich kaum persönlich verantwortlich: „Die Wissenschaft ist gewiss nicht schlecht, wir Menschen sind es leider.“ Während ihrer Arbeit hätte sie das „Gespenst der schlechten Anwendungsmöglichkeit“ nicht vor Augen gehabt. Dennoch setzt sich die Pazifistin ihr Leben lang für den rein friedlichen Gebrauch der Kernenergie ein: „Die Entwicklung der letzten Jahre hat etwas Schatten in das von mir so geliebte lichtvolle Bild der Wissenschaft geworfen.“

Mit dem Nobelpreis für Chemie wird letztlich nur Otto Hahn geehrt, was Lise Meitner schwer enttäuscht. Auch ihre ehemalige Arbeitsstätte in Dahlem wird 1956 als „Otto-Hahn-Bau“ wiedereröffnet. Die Physikerin soll bei der Eröffnungsfeier den Festvortrag halten, lehnt aber ab, auch als Protest über die noch immer fehlende Reflektion über ihre Behandlung als Jüdin während des Nationalsozialismus. Mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde im Rahmen der Eröffnungsfeier will Max von Laue Lise Meitner nach Dahlem locken, was aber nicht gelingt. Die Auszeichnung nimmt Lise Meitner erst im Mai 1957 an der Freien Universität entgegen. 2010 wird der Otto-Hahn-Bau umbenannt: in Hahn-Meitner-Bau – als „Korrektur eines historischen Unrechts“, wie Universitätspräsident Günter M. Ziegler seinen Amtsvorgänger Professor Peter-André Alt zitiert.

Professor Dieter Meschede, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft – deren einziges weibliches Ehrenmitglied Lise Meitner ist – hebt in seiner Ansprache die Rolle der Kernforscherin als „Symbolfigur“ hervor. Durch „ihre Hartnäckigkeit und ihr Selbstbewusstsein“ und „nicht zuletzt ihre Zivilcourage“ sei diese eine „herausragende Persönlichkeit“.

Universitätspräsident Ziegler zieht am Ende des Abends Bilanz: „Ich finde es großartig, dass man heute Abend die Person zu sehen bekam, die mich genauso beeindruckt wie ihre Forschung. Die Figur ist sehr lebendig geworden.“ Er betont die Vorbildfunktion der Physikerin: „Es ist leider auch heute noch so, dass eigentlich zu wenige Frauen Physik, Chemie und Mathematik studieren. Hier braucht es Schlüsselfiguren historischen Ausmaßes wie Lise Meitner.“

Jennifer Gaschler

Weitere Informationen

Weitere Aufführung von „KERNFRAGEN – Gedenken an Lise Meitner“ am Freitag, 15. Februar 2019, 17 Uhr im Henry-Ford-Bau, Max-Kade-Auditorium, Garystraße 35, 14195 Berlin

Anmeldung unter: einladung@physik.fu-berlin.de

Vorlesungsreihe „Zum Gedenken an Lise Meitner – Ehrendoktorin der Freien Universität Berlin“ im Rahmen des Offenen Hörsaals

• Montags von 18.15 bis 19.45 Uhr

• Freie Universität Berlin, Gebäudekomplex Habelschwerdter Allee 45, Hörsaal 2, 14195 Berlin