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Verfechter einer idealen Forschungsgemeinschaft

In seiner Abschiedsvorlesung am John-F.-Kennedy-Institut blickte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftsprofessor Irwin Collier auf seine wissenschaftliche Karriere zurück – und auf 24 Jahre an der Freien Universität

02.08.2018

24 Jahre an der Freien Universität Berlin: Die Abschiedsvorlesung von Prof. Irwin Collier war auch ein Rückblick.

24 Jahre an der Freien Universität Berlin: Die Abschiedsvorlesung von Prof. Irwin Collier war auch ein Rückblick.
Bildquelle: Carla Spangenberg

„Ein Privileg des Alters ist, dass man unter dem altruistischen Deckmantel, Erfahrungen zu teilen, über sich selbst sprechen kann.” Humorvoll und charmant begann Irwin Colliers Abschiedsvorlesung am John-F.-Kennedy-Institut, die den Titel „Reflections on academic communities, clans, and clubs” („Reflexionen über akademische Gemeinschaften, Clans und Clubs“) trug – begleitet von Musik des amerikanischen Folk-Sängers John Shreve.

Vom MIT (Cambridge, MA) an die Akademie der Wissenschaften der DDR

Sein akademischer Werdegang hatte Irwin Collier, 1951 im Mittleren Westen geboren, von der Yale University über das Massachusetts Institute of Technology (MIT) schon früh nach Deutschland geführt – zunächst in die DDR: Als Doktorand am MIT ging Collier 1978 mit einem International-Research-and-Exchanges (IREX)-Austauschstipendium für sieben Monate ans Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. Zuvor hatte der Amerikaner mehrere Jahre lang in Sommer-Intensivkursen Deutsch gelernt. In Ost-Berlin arbeitete er weiter an seiner Dissertation. In dieser Zeit erhielt er auch seine erste Stelle an der Freien Universität: Von Juli 1979 bis September 1980 war der Ökonom als wissenschaftlicher Angestellter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin beschäftigt.

Zurück in den USA nahm Collier zunächst eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Albert Hirschman in Princeton an. Dann wechselte er an die University of Houston, dort spezialisierte er sich auf komparative ökonomische Analyse, insbesondere auf den Vergleich von ost- und westdeutschen Lebensstandards.

„Reflections on academic communities, clans, and clubs” hatte Irwin Collier seinen Vortrag vom 4. Juli überschrieben.

„Reflections on academic communities, clans, and clubs” hatte Irwin Collier seinen Vortrag vom 4. Juli überschrieben.
Bildquelle: Carla Spangenberg

1994 Berufung an die Freie Universität

Über eine Stellenanzeige in der britischen Wochenzeitung The Economist wurde Collier auf eine am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität ausgeschriebene Professur aufmerksam – und wurde im Juni 1994 an das Institut für öffentliche Finanzen und Sozialpolitik berufen. Bis 2007 lehrte und forschte Collier dort zum Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik, zu internationalem Handel, Makroökonomie und Ökonometrie. Engerer Kontakt zum John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität entwickelte sich durch die im Jahr 2006 im Rahmen der Exzellenzinitiative eingerichtete Graduate School of North American Studies. Seinen Wunsch, an das JFKI zu wechseln, beschrieb Collier mit der Absicht, „Teil einer Forschergemeinschaft zu werden, die ganz im Zeichen der liberalen Tradition der besten amerikanischen Universitäten“ stehe; und mit der Attraktivität eines Programms, das sich der historischen Entwicklung der modernen analytischen Forschung widmet.

Ideale Forschungsgemeinschaft: nicht ausgrenzend, selbstkritisch und teamgeistfördernd

In seiner Abschiedsvorlesung referierte Collier über die Ideale von Forschung und Wissenschaft. Er kritisierte den Zusammenschluss von Wissenschaftlern in „Clans und Clubs“ – damit meint er Schulen und Netzwerke, die durch Rivalität und Exklusivität geprägt seien. Diese hätten zudem ein Diversitätsproblem im Hinblick auf Geschlecht und Ethnie ihrer Mitglieder und hinterfragten ihre Forschung nicht kritisch. Eine ideale Forschungsgemeinschaft hingegen zeichne sich dadurch aus, nicht ausgrenzend zu sein, Selbstkritik zu üben und Teamgeist zu fördern.

Ideale, denen sich der Wissenschaftler verpflichtet fühlt. Juniorprofessor Jonathan Fox, langjähriger Mitarbeiter, schätzt Collier als Kollegen und Mentor: „Professor Collier hat eine kooperative Forschungs- und Lehrumgebung gefördert, erklärte er im Namen des gesamten Teams. „Er wird am John-F.-Kennedy-Institut fehlen.”

Gefragter Interviewpartner, Analyst des politischen und wirtschaftlichen Geschehens

Irwin Collier erklärt, er sei stets an der Anwendung theoretischer Erkenntnisse auf reale Entwicklungen interessiert. Dabei gelingt ihm die präzise Analyse des politischen und wirtschaftlichen Tagesgeschehens. Auch deshalb ist er ein gefragter Interviewpartner für die Medien und Experte in Talkrunden zum Thema Weltwirtschaft. Das war während der Grexit-Verhandlungen 2015 so, als er für das Ankurbeln des Wachstums in Europa plädiert hatte und gegen eine anhaltende Sparpolitik Griechenlands, die das Land weiter schwächen würde.

Nicht zuletzt seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump ist Colliers wissenschaftliche Expertise regelmäßig gefragt, wenn es um Handelspolitik und Protektionismus der amerikanischen Regierung geht. Den geplanten Einreisestopp für Menschen aus muslimisch geprägten Ländern per Dekret hatte Irwin Collier im Januar 2017 scharf kritisiert: „Am Holocaust-Gedenktag die Grenzen für Flüchtlinge zu schließen, erinnert an ein ganz dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte” – die Abweisung von aus Nazi-Deutschland emigrierten Juden an der amerikanischen Grenze im Jahr 1939. Aktuelle Themen aus der US-amerikanischen Tagespolitik griff auch der Folk-Sänger John Shreve auf: „Who’s gonna build your wall?”, fragte er mit einem Song von Tom Russell und mit Blick auf den geplanten Mauerbau an der Grenze zu Mexiko.

Der US-amerikanische Folks-Sänger John Shreve begleitete die Veranstaltung musikalisch.

Der US-amerikanische Folks-Sänger John Shreve begleitete die Veranstaltung musikalisch.
Bildquelle: Carla Spangenberg

Aufbruch in eine neue „Jahreszeit"

„To everything (turn, turn, turn) there is a season (turn, turn, turn) ” – dieses persönliche Motto gab der Sänger dem Wirtschaftswissenschaftler musikalisch mit auf den Weg. Die Jahreszeit der aktiven Forschung und Lehre an der Freien Universität mag für Collier vorbei sein, doch seine Leidenschaft für die Wissenschaft wird auch seinen Ruhestand prägen: Seit 2015 führt er ein Blog, auf dem er historisches Material zur ökonomischen Lehre in den USA von 1870 bis 1970 veröffentlicht. Durch Recherchen in den Archiven der Universitäten von Harvard, Columbia, Chicago, Yale, und Johns Hopkins, aber auch in der John F. Kennedy Presidential Library und der Library of Congress entwirft Collier durch Vorlesungsnotizen und Mitschriften ein umfassendes Bild. Und auch seine Expertenstimme will Collier in aktuellen Debatten weiter erheben.

Als Glück bezeichnet es der Wirtschaftswissenschaftler, in seinem Leben „immer zur rechten Zeit am rechten Ort“ gewesen zu sein. So war es auch im Herbst 1989: Dank eines Forschungsstipendiums der Volkswagenstiftung hielt sich Collier damals in Deutschland auf – und konnte am 9. November den Fall der Mauer miterleben.