„Der digitale Wandel ist Fakt“
Andreas Brandtner ist seit Mai 2018 Direktor der Universitätsbibliothek der Freien Universität
21.08.2018
Andreas Brandtner beschäftigt sich damit, wie Forschung, Lehre und Studium optimal mit Information und Informationsinfrastruktur unterstützt werden können. Seit Mai 2018 ist er der neue Leiter der Universitätsbibliothek der Freien Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Den professionellen Zugang zu Bibliotheken hat Andreas Brandtner schon während seines Studiums gefunden. Ende der achtziger Jahre, als der Österreicher in einem regionalen Literaturarchiv in seiner Geburtsstadt Linz Schriftstellernachlässe bearbeitete. In den Semesterferien lernte er, wie man Nachlässe und Autografen aufarbeitet, „so, wie das in Archiven gemacht wird, also nach Regelwerk.“
Nachlassbearbeitung – das heißt lesen, entziffern, datieren, ordnen und zuordnen von Briefen, Tagebüchern, Notizen, Werkfragmenten, Zeitungsartikeln. „Man tritt in ein komplexes System ein und versucht, es zu verstehen und nachzuvollziehen“, erläutert der promovierte Germanist. Das wirklich Reizvolle an der archivalischen Ordnung und Gesamtdokumentation eines Nachlasses aber sei, mit dem Unbekannten in Berührung zu kommen: „Wenn Sie den nächsten Karton aufmachen, wissen Sie nicht genau, was dort drinnen ist. Sie befinden sich auf einer Entdeckungsreise.“
Weg vom Hantieren mit Gegenständen, hin zur Organisation
Nach der Promotion über Parodien auf Amerikareiseberichte aus dem 17. Jahrhundert folgten für Brandtner längere Stationen im 1996 neu eingerichteten Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und in der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute: Wienbibliothek im Rathaus). Während dieser Zeit entwickelte Andreas Brandtner immer mehr Interesse für die im Hintergrund von Bibliotheken waltende „Maschine“, die Informationen so aufbereitet, dass sie gezielt in die Nutzung gegeben werden können. Wie organisiert man eine der Allgemeinheit zugängliche, allmählich wachsende Sammlung und Überschau des menschlichen Wissens? Und wo kann man Organisation lernen, wenn man bereits ein Fachstudium absolviert hat? Antworten auf diese Fragen fand Andreas Brandtner im postgradualen Kulturmanagementstudium. Später kamen ein Postgraduiertenstudium der „Library and Information Studies“ in Wien sowie ein Master of Business Administration in „Arts Management“ in Salzburg, Chicago und Shanghai hinzu.
Die Trennung von seinem ursprünglichen Fach der Germanistik vollzog Brandtner an der Universitätsbibliothek Wien. Als stellvertretender Leiter habe er dort zum ersten Mal nichts mehr mit den Inhalten des Fachs zu tun gehabt, die er vorher als Literaturarchivar gebraucht habe.
Kernaufgabe Kommunikation
Bevor Brandtner nach Berlin kam, war er sieben Jahre lang Direktor der Universitätsbibliothek Mainz. Mit der Leitung der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin ist er Chef von über 300 Mitarbeitern geworden, er verwaltet ein Gesamtbudget von mehreren Millionen Euro. In seine Verantwortung fallen 8,5 Millionen Medieneinheiten, dazu gehören neben 70 000 elektronischen Zeitschriften auch 730 000 E-Books.
„Wenn Sie meinen Kalender ansehen, stellen Sie fest, dass meine Arbeit hauptsächlich aus Gesprächen besteht.“ Kommunikation, Vernetzung und Kontaktpflege: Er trifft an der Freien Universität Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, stellt sich in den Fachbereichen vor, verabredet sich mit Experten sowie Vertretern anderer Bibliotheken im In- und Ausland, um voneinander zu lernen. Das Bibliothekswesen ist international. „Für Bibliothekare in Berlin, Wien oder Mainz ist es wichtig, was die Kolleginnen und Kollegen in Birmingham, Kopenhagen oder Canberra machen.“
Eine Aufgabe des Bibliothekars sei es, sagt Andreas Brandtner, für eine positive, dem Lesen und Schreiben zuträgliche Atmosphäre zu sorgen. Im Idealfall entstehe so eine „besondere Qualität des Ortes“, wo die intellektuellen Innovationen und menschlichen Bedürfnisse der Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer gleichermaßen vor äußerlichen Beeinträchtigungen geschützt sind. Und wo Zutritt und Verweilen an keinerlei Bedingungen wie Konsum oder Produktivität gebunden sind.
Informationen mögen heute immer und überall verfügbar sein. Bibliotheken wie die Universitätsbibliothek der Freien Universität werden zu Orten der Beschäftigung mit diesen Informationen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Dabei ist die Bibliothek für ihn viel mehr als der bloße Bücherspeicher, der nichts weiter zu bieten hat als die in sich gekehrte Leseerfahrung. Die Digitalisierung, so Brandtner, rücke die Bücher ein Stück weit aus dem Fokus und schaffe Raum für eine breitere Bibliotheksnutzung. „Die Aufgaben, die Bibliotheken übernehmen, werden vielfältiger. Heute findet dort gemeinschaftliches Arbeiten und Lernen statt, man trifft sich, Bibliotheken sind Orte des Informationsaustauschs.“ Und da Informationen heute immer und überall verfügbar seien, würden Bibliotheken zu Orten der Beschäftigung mit diesen Informationen.
Vermittlung von Informationskompetenz
„Die digitale Transformation“, konstatiert Brandtner, „ist einfach Fakt.“ Der Medienwandel weg vom Papier hin zur elektronischen Ausgabe lasse sich auch am Leihverhalten der Bibliotheksnutzer ablesen. „Bei der Anzahl der ausgeliehenen Printtitel sehen wir massive Einbrüche.“ Am weitesten fortgeschritten sei diese Entwicklung bei den Naturwissenschaften. „Wenn es einmal eine bücherlose Bibliothek geben wird, dann zuerst bei der Medizin, der Physik, der Chemie, der Biologie.“ Naturwissenschaftliche Artikel, die im Durchschnitt eine halbe Stunde Lesezeit beanspruchen, müssten wegen ihres hohen Aktualitätswertes schnell zur Verfügung stehen – weil sie auch schnell veralten.
Durch die allgegenwärtige Möglichkeit, über Suchmaschinen jederzeit irgendein Suchergebnis zu erhalten, entsteht Andreas Brandtner zufolge mithin ein „täuschendes Gefühl von allwissender Informiertheit“, das aber zugleich den schalen Beigeschmack hinterlasse, eben doch das Entscheidende verpasst zu haben. Dieser Dekontextualisierung des Wissens begegnet er deshalb mit vorsichtiger Skepsis. Die „Vermittlung von Informationskompetenz“ gehört aus seiner Sicht zu den zentralen Aufgaben von Universitätsbibliotheken. Studierende der Freien Universität können in Kursen und Workshops lernen, wie man ältere Wissenspraxis mit neuester Mediennutzung verbindet und Herkunft und Herstellungsbedingungen von Information richtig einschätzt.
Open Access und Organisationsentwicklung
Grundsätzlich mit dem digitalen Wandel verknüpft ist das Publizieren im Open-Access-Modus. Mittlerweile haben auch große Verlage den freien Zugang zu wissenschaftlichem Wissen in ihr Geschäftsmodell integriert, was zu einer Verlagerung in den Medienetats der Bibliotheken führt: „Wir subskribieren nicht mehr – die jährlich anfallenden Abonnementzahlungen sind das alte Modell –, sondern wir zahlen Autorengebühren. Ziel ist dabei auch, dass die Kosten etwa gleichbleiben“, erklärt Andreas Brandtner. Mit anderen Worten: Autorinnen und Autoren, nicht mehr Bibliotheken, zahlen nun für die Publikation. An der Freien Universität werden Autorengebühren allerdings nicht individuell entrichtet, sondern organisatorisch abgefangen durch die Einrichtung von Publikationsfonds, die von der Universitätsbibliothek aufgebaut und verwaltet werden.
Schwerpunkt von Brandtners Arbeit in der Universitätsbibliothek werde neben einer möglichst guten Informationsversorgung für Forschung, Studium und Lehre die „konsequente Organisationsentwicklung“ sein. Dazu gehöre zum Beispiel die engere Verzahnung von Universitätsbibliothek und dem Center für Digitale Systeme (CeDiS), um den gegenwärtigen Anforderungen an Servicequalität und Innovation gerecht zu werden. Formal gehören diese beiden Einrichtungen bereits seit Anfang 2018 zusammen. „Jetzt geht es darum, sie wirklich zusammenzuführen.“
Andreas Brandtner engagiert sich dafür, die Universitätsbibliothek für ein Morgen zu sichern, von dem niemand genau weiß, wie es aussieht. „Man darf nicht stehenbleiben und sagen, ‚So, das ist es jetzt‘“, sagt der Direktor. Bibliotheken sollten attraktive und herausgehobene Orte sein, von denen man etwas erwarten könne, das über eine gute Dienstleistung hinausgeht: „Bibliotheken sind wichtige Einrichtungen für unsere Gesellschaft. Sie stellen eine wesentliche Grundlage für freie Wissenschaft dar – und damit für die Entwicklung und den Schutz einer demokratischen Gesellschaft.“