Gutgelaunte Reflexionen über den Abschied
Der Germanistikprofessor Hans Richard Brittnacher hat sich in den Ruhestand verabschiedet
11.07.2018
Die Literatur, insbesondere die Lyrik, steckt voller Abschiede: ob traurig und endgültig oder heiter und fröhlich. Es schien daher nur folgerichtig, dass sich Hans Richard Brittnacher als Germanistik- und Literaturprofessor mit einer Vorlesung über den Abschied in den Ruhestand verabschiedet hat. Etwa 400 Gäste hatten sich dazu im Hörsaal 1a in der Silberlaube der Freien Universität versammelt.
Der Abschied ist eine einschneidende Erfahrung. In ihm, sagte Brittnacher, „haust das Gespenst des Unwiederbringlichen, er sitzt „wie eine Spinne im Netz der versäumten Möglichkeiten“. Wie die Erfahrung des Abschieds in der Lyrik zu „poetischem Wohlklang“ findet, veranschaulichte Hans Richard Brittnacher in einigen „gutgelaunten Reflexionen“ im ersten Teil seiner Vorlesung.
Abschied in der Literatur
Die Einsicht, dass das Lieben und Leben Schauplätze beständigen Übens von Verlust sind, entdeckte Hans Richard Brittnacher in Rilkes 13. Gedicht aus dem zweiten Teil des Zyklus Sonette an Orpheus. In einer Reihe von Apellen lehrt Rilke dem mythischen Orpheus – dieser Symbolfigur der Dichtung –, wie er Abschied zu nehmen hätte. Wenn es Orpheus gelänge, den allerletzten Abschied von seiner verstorbenen Geliebten Eurydike anzuerkennen, gewönne er „die paradiesische Sprache der Poesie“ zurück, die er an den Tod verloren glaubte. Die elegische Klage, die auf die Fortdauer des endgültig Untergegangenen im Medium der Kunst vertraut, beinhaltet für Hans Richard Brittnacher das Glücksversprechen der Poesie: „Der Klangzauber mildert den Abschiedsschmerz.“
Ein weiteres, irdischeres Beispiel für das Motiv des Abschieds erläuterte Brittnacher am Gedicht „Bohnen und Birnen“ von Günter Grass. Die Fantasie des Schriftstellers hätte sich an der handfesten Realität erprobt, an allem, was man anfassen, schmecken und riechen kann. Das erkläre auch, warum das „Bohnen-Gedicht“ immer noch etwas von der Materialität der Dinge behalte, obgleich es in seiner Sprache surrealistische Bilder herstelle, sagte Brittnacher.
Nichtsdestotrotz entstehe hier im Vertrauen, dass die Sprache an einfache Gegenstände wie Bohnen und Birnen noch heranreicht, eine poetische, rational nicht erfassbare Welt für sich. Als Jahreszeitengedicht handelt es vom nahenden Herbst, der ja, so Brittnacher, „der Frühling der Melancholiker“ sei. Es sei eine Momentaufnahme des Sterbens, die daran erinnert, dass unsere Tage gezählt sind. Grass‘ welkende Blumen mahnen zum Lebensgenuss (bevor es zu spät ist).
Abschied von der Literatur
Im zweiten Teil seiner Vorlesung setzte sich Hans Richard Brittnacher polemisch mit der Tendenz der Literaturwissenschaft auseinander, sich selbst an die Stelle der literarischen Texte zu setzen, und dabei ihren eigentlichen Gegenstand, die Literatur, zu verabschieden. Zum einen habe die Krise des Fachs mit dem dramatischen Bedeutungsverlust der Literatur zu tun. In einer längst bücherlos gewordenen Welt sei das Lesen zur „extravaganten Kulturpraxis“ geschrumpft, einem so sonderbaren Verhalten, „das eher die Ethnografie als die Germanistik beschäftigt“, sagte der Wissenschaftler.
Zum anderen gelänge es der Literaturwissenschaft nicht mehr zu erklären, was die Literatur unvergleichlich und damit auch unersetzlich mache. Besonders kulturwissenschaftliche Konzepte wie Hybridität, Liminalität oder der spatial turn hätten die Germanistik „gekapert“. Die Literatur werde dabei zum bloßen Anschauungs- und Belegmaterial literaturfremder Fragestellungen reduziert. Neben der „Besatzungsmacht der Kulturwissenschaft“ kritisierte Hans Richard Brittnacher den Bolognaprozess als „Refeudalisierung der Universität“, bemängelte die zu geringe Zahl der Lehrenden, gruselte sich vor Bibliotheken ohne Bücher und beargwöhnte ein Studium der Literaturwissenschaft, das fast schon „ohne die lästige Lektüre der Primärtexte“ auskomme.
Die Sommersonnenwende als lehrreiche Metapher für den Lebenszyklus
Das Datum der Abschiedsvorlesung, die kurz nach dem 21. Juni, dem längsten Lichttag der nördlichen Hemisphäre, stattfand, nahm der Baseler Literaturprofessor und Laudator Alexander Honold zum Anlass für einen Ausflug in die Astronomie. So, wie sich die Sommerhitze erst so richtig austobt, wenn die Sonne ihren astronomischen Höhepunkt überschritten hat – so ähnlich stehe dem Gelehrten Brittnacher die ganze Wucht seiner Schaffenskraft erst noch bevor, prophezeite er. Eine Kraft, die durch weit mehr als 100 Aufsätze, ein halbes Dutzend Monografien und zahlreiche Sammelbände strahlt.
Brittnachers Thema seien die Ausgegrenzten, Missachteten und von der Normalgesellschaft für krank oder verrückt Erklärten. Er habe Spaß am Abseitigen und Gespenstischen und an den „nicht mehr schönen Künsten“, sagte Honold, ohne dass diese Neigung ihn zu einem „rabenschwarzen Nihilisten“ gemacht habe, im Gegenteil – auch wenn seine 1994 bei Suhrkamp erschienene Dissertation über die Ästhetik des Horrors Hans Richard Brittnacher den Spitznamen „Horror-Harry“ eingebracht habe.
Jedem Abschied wohnt ein neuer Anfang inne
Hans Richard Brittnacher habe viele Jahre lang in fachlicher und menschlicher Hinsicht eine unentbehrliche Rolle gespielt am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, sagte die Direktorin des Instituts Professorin Elke Koch. Brittnacher, dessen „weiser Blick schmerzlich fehlen wird“, habe fast alle Studierenden auf einem Stück ihres Wegs begleitet, für Generationen von Absolventen sei er das Vorbild von literarischer Kennerschaft schlechthin.
Der Abschied bedeutet für Hans Richard Brittnacher auch einen neuen Anfang mit positiven Neuerungen: keine überfüllten Sprechstunden, keine Gremiensitzung, keine Stapel von Hausarbeiten mehr – „und was da der akademischen Sisyphosarbeiten mehr sind“, wie Alexander Honold betonte. Und so wird man von dem Literaturwissenschaftler auch in Zukunft weiterhin Wichtiges über die deutschsprachige Literatur lesen können.