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„Man muss nicht immer richtig sein“

Auftaktlesung am 5. Juni, 19 Uhr: Masterstudentin Charlotte Wührer von der Freien Universität ist erste studentische Stadtschreiberin

05.06.2018

Charlotte Wührer studiert im Master English Studies an der Freien Universität.

Charlotte Wührer studiert im Master English Studies an der Freien Universität.
Bildquelle: Jonas Huggins

„The German language is being destroyed!”, lacht Charlotte Wührer. So oder so ähnlich klinge manch besorgte Reaktion auf ihre ersten Texte als Stadtschreiberin. Ein Deutschlehrer würde wohl vieles in den Texten rot anstreichen, denn Charlotte Wührer schreibt auf „Denglisch“: Der Text ist gespickt mit englischen Wörtern, und auch die deutsche Grammatik stimmt nicht immer.

Das Studierendenwerk, dessen Jury Charlotte Wührer als Stadtschreiberin ausgewählt hat, sieht das nicht als Schwäche. Im Gegenteil: Die „Authentizität ihrer Sprache" ist ein Grund, warum die Studentin sich gegen 51 andere Bewerberinnen und Bewerber durchsetzen konnte. Als deutschlandweit erste studentische Stadtschreiberin wird sie zwei- bis viermal pro Monat das Leben in Berlin in dem Blog „Berlin Stories“ literarisch reflektieren und ihre Texte auf Lesebühnen vortragen. Vergütet wird sie wie eine studentische Mitarbeiterin an der Universität.

Als Deutsche in England aufgewachsen

Denglisch ist für Charlotte Wührer die ganz natürliche Art, sich auszudrücken. Die 28-Jährige hat zwar deutsche Eltern, ist aber in Stoke-on-Trent in den englischen Midlands aufgewachsen. Seit ihrer Schulzeit spricht sie fast nur Englisch. Sie hat in Cambridge englische Literatur studiert und mit einem Bachelor abgeschlossen und in London eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, bevor sie 2012 nach Berlin kam – eigentlich nur, um Urlaub zu machen. Dann aber sei sie „hängengeblieben“.

Charlotte Wührer zog zu ihrer Schwester in eine Charlottenburger WG. In Berlin sei das Leben stressfreier als in London: „Hier musste ich nicht wissen, was der nächste Schritt sein soll oder was ich mit meinem Leben mache“, sagt sie. „Ich habe ganz viele Musiker, Künstler und Fotografen kennengelernt, kreative Leute, die sich Zeit dafür genommen haben, das zu machen, was sie wollen.“

Zwischen den Welten

Mittlerweile studiert Charlotte Wührer English Studies im Master an der Freien Universität. Die Schwerpunkte „Narratives of Migration“ und „Theorizing the Border“ interessieren sie – Bereiche, in denen sich ihre eigenen Erfahrungen widerspiegeln. Berlin, heute Kreuzberg, ist ihr Zuhause geworden. Aber wirklich deutsch fühle sie sich nicht. „In der Schule war ich ganz stolz darauf, dass ich anders war, einen deutschen Pass hatte und ein bisschen Deutsch sprechen konnte“, sagt sie. Hier merke sie jedoch, wie sehr sie durch England geprägt sei – das falle ihr nicht nur bei den Feinheiten der deutschen Deklination auf: Sie sei zu höflich und entschuldige sich zu oft. Ihre WG habe ihre sorrys bald nicht mehr ernstnehmen können und verlange nun jedes Mal 50 Cent für die Whiskeykasse, wenn es ihr herausrutsche. Eine gute Flasche Whiskey sei in der Zwischenzeit dabei herausgekommen, sagt sie. Sie sei zwar besser geworden, aber eine Berliner Schnauze habe sie noch nicht.

Denglisch transportiert, was sie als Autorin ausmacht

In ihren Texten gelinge es Charlotte Wührer, auch sehr persönliche Dinge auszudrücken: „Ich bin besser im Schreiben als im Reden“, sagt die neue Stadtschreiberin über sich selbst. Ihr erster Text für den Blog etwa handelt davon, wie sie die Trennung von ihrer Exfreundin überwindet, die nach Australien gezogen ist. Bei Pistazieneis im Kreuzberger Graefekiez, ihrem Lieblingsort in Berlin, findet sie etwas Trost. Sie liest ihre Texte lieber vor unbekanntem Publikum als vor Freunden, denn das Schreiben offenbare eine andere, eine intime Seite.

Ihr denglischer Sprachstil ist für sie mehr als nur verfremdetes Deutsch: Er transportiert, was sie als Autorin ausmacht – und wie sie Berlin sieht. „Die Leute sind offen, man kann anziehen und tun, was man will. Es ist Berlin, alle sind hier ein bisschen anders.“ Ein bisschen albern zu sein und experimentieren zu können, gehöre auch dazu. „Mach keinen Käse!“ habe ihre Bielefelder Oma oft zu ihr gesagt, wenn sie albern gewesen sei, schreibt Charlotte Wührer in einem Text: „Making linguistic cheese“ hat sie ihn überschrieben. „Ich finde es schön, wenn man Bilder übersetzt, es das Bild in der übersetzten Sprache aber nicht gibt.“ Das sei verspielt, überraschend und einfach lustig: „Man muss nicht immer richtig sein, um einen Punkt rüberzubringen oder um schön zu schreiben“, findet die Stadtschreiberin.

Weitere Informationen

Auftaktlesung Berlin Stories

Zeit und Ort

  • 5. Juni, 19 Uhr
  • Coffeebar „c.t.“, Universitätsstr./Ecke Dorotheenstr., 10117 Berlin

Mit dabei zwei Bewerberinnen, die eine lobende Jury-Erwähnung erhalten haben, unter ihnen Peregrina Walter von der Freien Universität. 

Blog Berlin Stories