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„Das war richtige Detektivarbeit“

Die Kulturwissenschaftlerin Shelley Harten ist für ihre Dissertation mit dem Hedwig-Hintze-Frauenförderpreis des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften ausgezeichnet worden

25.04.2018

Für ihre Dissertation ist die Kulturwissenschaftlerin Shelley Harten (links) von Franziska Lesák (rechts), der ehemaligen Frauenbeauftragten des Fachbereichs, ausgezeichnet worden.

Für ihre Dissertation ist die Kulturwissenschaftlerin Shelley Harten (links) von Franziska Lesák (rechts), der ehemaligen Frauenbeauftragten des Fachbereichs, ausgezeichnet worden.
Bildquelle: Webteam, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften

Der Nahost-Konflikt ist ein sensibles Thema – in der Öffentlichkeit und in der Forschung. Shelley Harten hat das nicht abgeschreckt. Die Kulturwissenschaftlerin hat sich in ihrer Dissertation mit der Wahrnehmung der Palästinenser durch jüdische Künstlerinnen und Künstler zwischen 1906 und 1957 beschäftigt. Der Titel ihrer Dissertation lautet: „Repräsentationen des ‚Orients‘ und des ‚Arabers‘ in der visuellen Kunst des Jischuv und Israels 1906-1957“. Den Blick hat sie aus vielen Gründen in die Vergangenheit gerichtet. „Heute wird in der Politikwissenschaft von einer starken Blindheit von Israelis gegenüber Palästinensern gesprochen. Bis zur ersten Intifada verwehrte die israelische Politik den Palästinensern politisch den Anspruch auf eine Nation und noch immer werden sie von großen Teilen der israelischen Bevölkerung historisch, kulturell und rechtlich ‚ausgeblendet‘“, sagt Harten. Andererseits gebe es insbesondere in der frühen israelischen und zionistischen Kunst relativ viele Darstellungen von palästinensischem Leben.

In ihrer Doktorarbeit zeichnet Shelley Harten nach, wie die jüdischen Künstlerinnen und Künstler verschiedene Strategien der Zu- und Abwendung von der Bevölkerung der Palästinensergebiete in ihren Darstellungen des „Orients” und der „Araber” entwickelten. Sie zeigt auf, dass die künstlerischen Visionen einer kollektiven jüdischen nationalen Identität nicht von ihrem Bild von der arabisch-palästinensischen Bevölkerung zu trennen waren.

Das Thema der Dissertation war ein ständiger Balanceakt

In den fünf Jahren, die Harten an ihrer Promotion gearbeitet hat, ist sie mehrfach nach Israel gereist: „Ich habe mich mit rund 100 Künstlerinnen und Künstlern beschäftigt. Mein Fokus lag auf visueller Kunst – also auf Malerei, Skulptur und Grafik.“ Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit versuchte Harten, möglichst viele Originale anzusehen. Dafür recherchierte sie in Museumsarchiven und kontaktierte sogar die Familien einiger Künstler. „Das war richtige Detektivarbeit“, sagt sie.

Das Thema ihrer Dissertation war für Harten, die selbst eine israelische Mutter hat und mit Deutsch und Hebräisch zweisprachig aufgewachsen ist, ein ständiger Balanceakt. „Ich wollte weder eine antizionistische noch eine antiarabische Position einnehmen“, sagt sie. Deshalb habe sie versucht, die Künstlerinnen und Künstler stark historisch zu kontextualisieren.

Shelley Harten hat sich in ihrer Arbeit mit der Wahrnehmung der Palästinenser durch jüdische Künstlerinnen und Künstler zwischen 1906 und 1957 beschäftigt.

Shelley Harten hat sich in ihrer Arbeit mit der Wahrnehmung der Palästinenser durch jüdische Künstlerinnen und Künstler zwischen 1906 und 1957 beschäftigt.
Bildquelle: Leonie Schlick

Der Bezug zur Kunst ist für Shelley Harten eine Herzensangelegenheit. Beide Eltern arbeiten im künstlerischen Bereich, weshalb sie schon als Kind mit dem Thema in Berührung kam. Trotzdem entschied sie sich nach dem Abitur zunächst für ein Jurastudium: „Ich wollte Menschenrechtsanwältin werden.“ Schnell habe sie allerdings gemerkt, dass ihr die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte mehr liegt als Paragrafen und Gesetzestexte, und sie begann Geschichte im Hauptfach zu studieren sowie Politikwissenschaft und Ethnologie im Nebenfach. Harten spezialisierte sich auf Israel und war als studentische Hilfskraft drei Jahre lang an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft (heute: Arbeitsstelle Politik im Maghreb, Mashreq und Golf) beschäftigt. Ihre Magisterarbeit schrieb Harten 2010 über die israelische Mythenbildung.

Auszeichnung mit dem Hedwig-Hintze-Frauenförderpreis

Ein Jahr später begann Shelley Harten mit ihrer Doktorarbeit im Fach Geschichte mit dem Schwerpunkt Neue Geschichte, 2016 folgte deren Verteidigung – und nun die Auszeichnung mit dem Hedwig-Hintze-Frauenförderpreis des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften. Der Preis wird jährlich für eine herausragende Dissertation an eine jüngst promovierte Nachwuchswissenschaftlerin von der Frauenbeauftragten des Fachbereichs vergeben.

Für Shelley Harten bedeutet die Auszeichnung mit dem Frauenförderpreis nicht nur die Anerkennung ihrer fachlichen Expertise. Während der Arbeit an ihrer Dissertation ist sie Mutter geworden. „Für mich ist der Preis auch eine Anerkennung der Leistung das Familien- und Wissenschaftsleben zu verbinden.“ Gleichzeitig sei die Auszeichnung allgemein eine Würdigung für Frauen in der Wissenschaft.

Auch nach Abschluss ihrer Dissertation ist Shelley Harten ihrem Forschungsthema treu geblieben: Sie ist momentan Volontärin im Jüdischen Museum in Berlin-Kreuzberg und dort derzeit im Bereich „Neue Dauerausstellung“ tätig. In gewisser Weise bleibe sie damit in der Wissenschaft: „Denn auch im Museum muss man wissenschaftlich arbeiten und Denkräume gestalten“, sagt sie.

Weitere Informationen

Hedwig-Hintze-Frauenförderpreis des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften

Mit der Auszeichnung soll an die deutsche Neuzeithistorikerin und Publizistin Hedwig Hintze erinnert werden. Sie hatte 1924 bei Friedrich Meinecke – dem späteren Gründungsrektor der Freien Universität und Namensgeber des Instituts für Geschichtswissenschaft  – promoviert; 1928 habilitierte sie sich in Berlin als eine der ersten Frauen im Fach Geschichte. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft war die Wissenschaftlerin 1939 gezwungen, vor den Nationalsozialisten in die Niederlande zu fliehen. Dort erreichte sie der Ruf als Associate Professor of History an die New School for Social Research in New York – allerdings gelang es Hintze nicht mehr, rechtzeitig die Niederlande zu verlassen: Aus Angst vor der drohenden Deportation setzte die Wissenschaftlerin ihrem Leben 1942 in Utrecht ein Ende.