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„Die Menschen möchten reden“

Der Psychologe Hans-Werner Rückert hat vor 40 Jahren die Studienberatung und Psychologische Beratung an der Freien Universität mitaufgebaut / Ein Gespräch mit ihm anlässlich seines Wechsels in den Ruhestand

06.11.2017

Verabschiedung nach 40 Jahren an der Freien Universität: Hans-Werner Rückert, 23 Jahre lang Leiter der Studienberatung und Psychologischen Beratung, und Siegfried Engl, Leiter der Studienberatung.

Verabschiedung nach 40 Jahren an der Freien Universität: Hans-Werner Rückert, 23 Jahre lang Leiter der Studienberatung und Psychologischen Beratung, und Siegfried Engl, Leiter der Studienberatung.
Bildquelle: Michael Fahrig

Wie Hans-Werner Rückert seine beraterische Arbeit beschreiben würde? „Ich helfe anderen dabei, gut basierte Entscheidungen zu treffen.“ Ob es dabei um die Studienfachwahl geht, um Prüfungsangst, Essstörungen oder das Prokrastinieren – das ewige Aufschieben von Aufgaben, ein Phänomen, dem der Psychologe mehrere Bücher gewidmet hat: Hans-Werner Rückert hat in den vergangenen 40 Jahren an der Freien Universität Tausende Studierende in Krisensituationen beraten. Im Gespräch mit campus.leben schaut der 67-Jährige, der die Studienberatung und Psychologische Beratung der Hochschule 23 Jahre lang geleitet hat, zurück und nach vorn: Er erzählt vom Zeitgeist der siebziger Jahre, von erfolgreichem Scheitern – und dem Glück, zwei berufliche Standbeine zu haben.

Herr Rückert, noch nie war es so einfach, sich zu informieren, wie heute. Warum ist es für viele Abiturienten trotzdem so schwierig, das richtige Studienfach zu finden?

Weil es nicht reicht, etwas im Internet zu lesen. Die Menschen möchten reden. Reden ist ja weit mehr, als nur Informationen einzuholen: zu kommunizieren hat Qualitäten der Selbstvergewisserung. Außerdem wächst mit den bereitgestellten Informationen das Austauschbedürfnis. Das zeigt sich schon in der Schule: Es gibt in der Regel in der Sekundarstufe II und der Oberstufe keinen Mangel an Flyern, Broschüren und Hinweisen auf Informationen im Internet. Was fehlt, ist die persönliche Beratung. Wir möchten unsere Eindrücke aus dem Internet im Gespräch überprüfen.

Zur Verabschiedung im Oktober waren viele Kolleginnen und Kollegen und Wegbegleiter gekommen.

Zur Verabschiedung im Oktober waren viele Kolleginnen und Kollegen und Wegbegleiter gekommen.
Bildquelle: Michael Fahrig

Hinzu kommt, dass sich das Studienangebot „atomisiert" hat: Früher gab es 60 Studiengänge, heute sind es 8000. Die kann man sich nicht alle ansehen. Gleichzeitig herrscht ein gesellschaftlicher Druck, das Angebot zu überblicken, sich gut zu entscheiden. Nicht ein Studium anzufangen, dann vielleicht das Fach zu wechseln oder sogar ganz abzubrechen. Das gilt bei vielen als Verschwendung von Lebenszeit. Diesen Druck, unter dem viele junge Menschen stehen, muss man auffangen. Nicht, indem man mit ihnen die 8000 Studiengänge durchgeht, sondern indem man mit ihnen redet.

Was sagen Sie ihnen?

Komm erstmal an. Was interessiert Dich? Was sind Deine Neigungen? Wo kannst Du Dir vorstellen, dein persönlich Bestes zu leisten? Vergiss mal die Optionsvielfalt.

Weil zu viele Möglichkeiten überfordern?

Ich halte nichts von pauschalen Bewertungen. Nicht alles überfordert alle. Es kommt immer darauf an, aus welchem Milieu man kommt, welche Werte man mitbekommen hat, in welchen ökonomischen Verhältnissen man aufgewachsen ist. Eine gute Orientierung bieten die Soziologen des Sinus-Instituts mit ihrer Einteilung der Bevölkerung in zehn soziale Milieus. Etwa das konservative Leistungsmilieu: Da ist genug Geld und wenig Druck, die Kinder studieren Jura oder Medizin – oft das, was die Eltern auch schon gemacht haben, es kommt auf ein Semester mehr oder weniger nicht an.

Dann gibt es das technokratische Aufsteigermilieu: Das sind Kinder aus bildungsfernen Familien ohne Rückenwind, weil die Eltern selbst nicht studiert haben. Sie entscheiden sich vielleicht für ein Studium der Ingenieurwissenschaften, weil das einen sicheren Arbeitsplatz verspricht. Diese Kinder sind sehr ängstlich, kennen aber keine Bewältigungsstrategien, um mit dieser Angst fertig zu werden.

Oder die Gruppe der Optimierer, die Performer: Für sie ist das Leben ein Lotterielos mit Anspruch auf den Sechser. Es muss der große Wurf werden. Deshalb versuchen sie zu optimieren: das Studium, den Auslandsaufenthalt, Sprachkenntnisse, sogar Freundschaften schließen sie unter strategischen Gesichtspunkten. Das gab’s früher natürlich auch schon, etwa in den Verbindungshäusern, aber es ist viel stärker geworden. Mit einer solchen Haltung setzt man sich extrem unter Druck. Und stößt an seine Grenzen, denn das Leben ist kein Prozess, den man beliebig optimieren kann. Es gehört auch Glück dazu, Risikobereitschaft…

… und Scheitern?

Da sprechen Sie ein großes Tabu an. Es war zwar schon immer so, dass man sich „voranscheiterte“. Aber dass auch erfolgreich fürs Leben sein kann, was zunächst einmal kein Erfolg ist, glauben einem nur Menschen aus bestimmten Milieus. Wer heute scheitert, ist in den Augen vieler ein Loser.

Hans-Werner Rückert mit der Dienstjubiläumsurkunde zu 40 Jahren an der Freien Universität Berlin.

Hans-Werner Rückert mit der Dienstjubiläumsurkunde zu 40 Jahren an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Michael Fahrig

Wenn jemand in Ihre Beratung gekommen ist, haben Sie also erstmal nach dem Zuhause gefragt?

Familiäre Prägungen haben massive Auswirkungen auf Menschen. Was machen die Eltern, was die Geschwister, was denkt Ihre Familie über das, was Sie machen, welche Phantasien haben Sie und welche Träume? Studieren Sie Pharmazie, weil Sie es wollen, oder weil Sie die Familienapotheke übernehmen sollen? Das sind für Psychologen Standardfragen und schaffen basales Hintergrundwissen. Fehlt das, ist man ohne Kompass auf hoher See.

Sie haben sich schon früh für Beratung an der Universität interessiert: Als Student haben Sie eine Beratungsstelle an der Universität Kiel mitaufgebaut – wie kam es dazu?

Wir haben in den siebziger Jahren auch Psychologie studiert, um bestimmten unterprivilegierten Bevölkerungsschichten bei der Emanzipation behilflich zu sein – so nannten wir das damals, das entsprach dem Zeitgeist. In unserer „Roten Zelle Psychologie“ – abgekürzt „Rotzpsych“ – haben wir gemerkt, dass wir uns am Psychologischen Institut zwar theoretisch mit Beratung beschäftigen, aber dass es keine Beratung gibt. Also sind wir aktiv geworden. Der Fachbereich hat uns damals unterstützt, wir haben eine kleine Villa bekommen, in der wir unter Supervision und Anleitung gelernt haben. Wir haben Eltern in Erziehungsfragen beraten, haben eine Grundlagenausbildung in Verhaltens-, Gesprächs- und Spieltherapie erhalten. Diese Erfahrungen waren für mich wichtig beim Aufbau der Studienberatung und Psychologischen Beratung an der Freien Universität.

Das war 1977 – Sie haben direkt nach Ihrer Diplomprüfung eine Stelle an der Freien Universität angenommen, um die Einrichtung zu entwickeln – was haben Sie damals vorgefunden?

Strukturen und Routinen waren noch im Entstehen, und es gab viel Raum. Das hat mich gereizt. Wir haben neben der Einzelberatung offene Abende veranstaltet, um auch die zu informieren und zu erreichen, die sich an der anonymen Massenuniversität verlassen fühlten. Das stieß auf große Resonanz. Von Anfang an haben wir auch Workshops und Kurse für Studierende angeboten und über unsere Arbeit in Zeitschriften und Büchern publiziert. Daran haben sich viele Kolleginnen und Kollegen an anderen Universitäten orientiert.

Gab es an anderen Universitäten zu der Zeit schon Studienberatungen und Psychologische Beratungsstellen?

Systematisch nicht. Die ersten Einrichtungen – etwa an der Universität Hamburg – sind als Modellversuche Anfang der siebziger Jahre entstanden als Reaktion auf die sechziger Jahre: Damals studierten nur fünf Prozent eines Altersjahrgangs – in der Regel Kinder aus Professorenhaushalten. Es ging damals darum, auch diejenigen zu einem Studium zu motivieren, die keinen akademischen Hintergrund hatten. Dafür brauchte es an den Universitäten Beratung. Die psychologische Beratung wurde damals, wenn überhaupt, von Medizinprofessoren aus der Psychiatrie übernommen, die sich um psychisch belastete Studierende kümmerten. Erst seit den achtziger Jahren gehören Studienberatungen und Psychologische Beratungen zum Standard an deutschen Universitäten.

Heute gibt es ein großes Angebot an Beratung und Begleitung für Studierende – das Mentoring-Programm, das Erstsemestern vom ersten Tag an erfahrene Studierende zur Seite stellt, ist ein Beispiel. Begrüßen Sie diese Entwicklung?

Etwa die Hälfte der Studierenden braucht keine Beratung, die andere aber schon. Inzwischen streben 50 Prozent eines Abiturjahrgangs an die Universität. Wenn das gesellschaftlich und bildungspolitisch gewünscht ist, muss man das begleiten. Denn ein großer Teil stammt nicht aus Akademikerfamilien und wird zu Hause nicht auf ein Studium vorbereitet. Diese Studierenden brauchen Hilfe beim Erschließen von akademischen Denksystemen, weil auch die Schule sie nicht ausreichend vorbereitet: Dort werden noch immer kleinteilig Hausaufgaben überprüft, anstelle die Jugendlichen dabei zu unterstützen, Selbststeuerungsfähigkeiten zu erwerben – also die Kompetenz, sich selbst zu eigenständiger Arbeit zu motivieren, diese zu strukturieren und den Fortschritt zu überwachen.

Außerdem sehen wir, dass junge Menschen in den vergangenen Jahrzehnten nicht gesünder geworden sind. Ein Drittel der Schülerinnen ist magersüchtig, das erreicht jetzt auch die Jungs, auch Depressionen sind weit verbreitet.

Woran liegt das?

Das ist der Preis, den westlich-zivilisierte Länder zahlen, das ist in Schweden, Norwegen, England und den USA genauso. Schülerinnen und Schüler stehen heute unter starkem Druck. Früher war der Realschulabschluss noch eine wirkliche Alternative. Heute steht man ohne Abitur als Loser da. Unser ganzes Bildungssystem ist angstbesetzt: Angst, kein gutes Abitur zu machen, Angst, keinen Studienplatz zu finden, Angst, keinen Masterplatz zu bekommen. Und Angst sorgt dafür, dass man zum Einzelkämpfer wird.

Was hat sich für Sie in der Beratung durch die Bologna-Reform – die Umstellung der Magister- und Diplomstudiengänge auf Bachelor und Master – verändert?

Ganz klar: Das Bachelor-Master-System erfordert mehr Unterstützung. Die engmaschige Prüfungsstruktur, die regelmäßigen Leistungsanforderungen stellen andere Anforderungen als das Magister-Diplom-System, in dem es in manchen Fächern nur eine Zwischenprüfung und am Ende eine Abschlussprüfung gab. Uns hat das überrascht: Wir hatten erwartet, dass der Druck abnimmt, wenn sich die Prüfungen über das ganze Studium verteilen. Aber die Tatsache, dass schon im ersten Semester jede Prüfung für den Abschluss zählt, dass bei Nichtbestehen Maluspunkte vergeben werden sollten und nach einer gewissen Anzahl von Maluspunkten die Exmatrikulation folgen sollte – auch wenn das so nie praktiziert worden ist – hat gerade bei Studierenden aus bildungsfernen Elternhäusern Druck aufgebaut. Und dazu geführt, dass in den Beratungsstellen die Nachfrage seit etwa 2005 um 20 Prozent gestiegen ist.

Uns hat sich ganz klar gezeigt: Fordern ohne zu fördern, funktioniert nicht. Das angloamerikanische System hätte da ein Vorbild sein können. Dort gibt es ein ausgedehntes System an Beratungsstellen, in das viel Geld investiert wird. Es gibt nächtliche Hotlines, an die sich Studierende wenden können, wenn sie Arbeiten schreiben und natürlich auch, wenn sie ernsthafte Probleme haben. Zum Vergleich: Eine Universität von der Größe der Freien Universität hätte in den USA etwa 23 beratende Psychologen. Bei uns sind es zwei, dazu kommen zwei Stellen für Psychotherauten und -therapeutinnen in Ausbildung.

Welche Tipps würden Sie Abiturienten heute geben?

Ich würde drei Dinge empfehlen. Erstens: Kenne Dich selbst! Bringe etwas über Dich in Erfahrung, frage Dich: Was fasziniert mich, was packt mich, wo ist Feuer? Wenn ich mich unheimlich für Ameisen interessiere und im Garten einen Ameisenhaufen angelegt habe, weil ich immer schon Entomologe werden wollte etwa. Kenne Dich selbst, halte ich für essenziell. Etwas über sich selbst herauszufinden, wird leider in der Schule skandalös vernachlässigt, man könnte da viel mehr machen, über Arbeitsgemeinschaften, Schülerzeitungen etc.

Zweitens: Kenne Merkmale des Studiums, für das Du Dich interessierst. Informiere Dich. Wenn Dich beispielsweise Literatur interessiert, recherchiere, wie ein Literaturstudium aussieht. Wie sieht das Studium in Freiburg aus, wie an der Freien Universität? Fahre hin, schau Dir die Universität an, es ist wichtig, den Genius loci zu spüren.

Und drittens: Triff eine Entscheidung, die die beiden Parameter in ein produktives Verhältnis bringt. Wenn jemand sagt: Ich interessiere mich für Menschen und möchte ihnen helfen, darum möchte ich Psychologie studieren. Dann sage ich: Das weißt du über dich – aber was weißt Du über die akademische Psychologie? Dann findet man heraus, dass das Studium naturwissenschaftlich geprägt ist, dass ein großer Anteil Mathematik ist, Statistik, und dass es keine psychotherapeutische Ausbildung ist. Die kann sich später anschließen. Also muss man sich fragen: Trägt mein Interesse für Menschen und dass ich ihnen helfen will, als Motivation? Man kann das nur beurteilen, wenn man die Studieninhalte kennt.

Sie haben durch Ihre Beratung viele Menschen kennengelernt, von vielen leidvollen Schicksalen erfahren – wie hält man das aus?

Man braucht eine gute Ausbildung. Ich habe mich nach dem Studium zum Gesprächs- und Verhaltenstherapeuten ausbilden lassen, danach zum Psychoanalytiker. Als ich 1989 fertig war, war ich 39. Während des Zivildienstes habe ich in der Psychiatrie gearbeitet. Man lernt, auf sich aufzupassen, eine Außenhaut zu entwickeln: Dass man Dinge im Kontext der Beratungsstunde an sich heranlässt, aber nach Feierabend nicht mit nach Hause nimmt. Erfahrung spielt da eine große Rolle und Supervision. Aber es gibt natürlich immer auch Fälle, die die Außenhaut perforieren. Da fragt man sich, was habe ich falsch gemacht? Das geht einem lange nach.

Es hilft auch, nicht nur ein berufliches Standbein zu haben. Deshalb hat mir meine Doppelfunktion zugesagt: die Kombination aus psychologischer Arbeit mit Ratsuchenden und der administrativen Aufgabe, eine organisatorische Einrichtung zu leiten, in deren Rahmen ich seit 2009 auch auf europäischer Ebene mit Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet habe. 40 Jahre lang nur in einer Praxis zu sitzen, hätte ich mir nicht vorstellen können.

Wie geht es für Sie nach dem Abschied von der Freien Universität weiter?

Ich bin seit vielen Jahren auch in der psychotherapeutischen Ausbildung tätig, als Lehrtherapeut, Dozent und Supervisor. Das werde ich weiterführen, neben einer psychotherapeutischen Privatpraxis. Mit meinem neuen Standort in Lichterfelde-West bleibe ich sogar in der Nähe der Freien Universität.

Die Fragen stellte Christine Boldt