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„Die deutschen Studenten haben meine Seele gerettet“

Das Studienjahr 1967/68 verbrachte Douglas Nygren als Austauschstudent an der damals hochpolitischen Freien Universität. Knapp 50 Jahre später kehrte der US-Amerikaner nach Berlin zurück – um zu bleiben

04.12.2016

Douglas Nygren zog nach seiner Pensionierung zurück nach Berlin - in die Stadt, die er in besonders turbulenten Zeiten kennengelernt und erlebt hat.

Douglas Nygren zog nach seiner Pensionierung zurück nach Berlin - in die Stadt, die er in besonders turbulenten Zeiten kennengelernt und erlebt hat.
Bildquelle: Jonas Huggins

"Ami go home": Die USA stießen in der Studierendenschaft vor 50 Jahren auf wenig Gegenliebe. Das Archiv der Freien Universität dokumentiert die politischen Zeiten.

"Ami go home": Die USA stießen in der Studierendenschaft vor 50 Jahren auf wenig Gegenliebe. Das Archiv der Freien Universität dokumentiert die politischen Zeiten.
Bildquelle: Jonas Huggins

Er wollte Kafka im Original lesen können, liebte Beethoven und Bach. Als der US-Amerikaner Douglas Nygren sich auf ein Stipendium bewarb, um ein Jahr lang an der Freien Universität zu studieren, wollte er vor allem eines: Deutsch lernen. Tatsächlich lernte der Amerikaner von der University of Minnesota während seines Auslandsjahres 1967/68 eine Menge über Georg Büchner, nahm Sprachunterricht und spielte Klavier am Julius-Stern-Institut, das heute zur Universität der Künste gehört. Doch die Politik, sagt Nygren, habe damals alles überschattet und ihn auch fern der Heimat nicht losgelassen: „Jeden Tag Vietnamkrieg. Man hätte blind und taub sein müssen, um nicht zu merken, wie viel im Umbruch war.“

Bei vielen an der Freien Universität seien die USA wegen des Vietnamkriegs unbeliebt gewesen. Der Austauschstudent versuchte deswegen, nicht aufzufallen: Er trainierte sich seinen Akzent ab und verzichtete auf amerikanische Unterhemden. Stattdessen habe er Hemd und Rollkragenpullover getragen, sagt Nygren, wie die Deutschen. Er wollte, dass die Menschen ihn vorurteilsfrei kennenlernten, bevor sie seine Nationalität erfuhren. Im Studentendorf Schlachtensee hat er mit seinen deutschen Kommilitonen gekocht, ist mit ihnen ins Kino gegangen oder zum Tanzen. In der vorlesungsfreien Zeit kaufte Nygren sich ein Auto und fuhr mit einem Freund durch Österreich, Jugoslawien, Griechenland und Bulgarien bis nach Istanbul – und zurück. Eine weitere Reise führte ihn nach Moskau. Einige Freundschaften aus der Studienzeit in Berlin hätten bis heute gehalten, sagt der Amerikaner.

Jeden Tag, damals in Berlin, sei er mit dem Vietnamkrieg konfrontiert gewesen, sagt Douglas Nygren: „Es gab in meinem Haus einen Studenten, der mir jede Woche vorhielt, was in Vietnam geschehen war“, erzählt er. „Er sagte es auf Englisch, damit ich es auch wirklich verstand: ‚A hundred and nine American boys died last week. What are you going to do when it’s time for you to go?‘”

Ein prägendes Jahr

Das Jahr in Deutschland habe ihn stark beeinflusst, sagt der Amerikaner. Er habe Vorlesungen von Eberhard Lämmert besucht, dem späteren Präsidenten der Freien Universität, habe bei Peter Szondi gehört, dem Namensgeber des heutigen Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität. Zurück in Minnesota schrieb Nygren seine Bachelorarbeit über Entfremdung in den Werken von Georg Büchner. Bis heute hält sein Interesse an deutscher Sprache und Geschichte an. Doch nichts habe ihn so sehr geprägt wie die Gespräche über Politik, die er an der Freien Universität tagtäglich geführt habe, sagt Nygren.

Hungern gegen den Krieg

Als er in die USA zurückkehrte, war der Vietnamkrieg intensiver geworden und die Gefahr, eingezogen zu werden,  dramatisch gestiegen, erzählt der Amerikaner. Er beteiligte sich an Protestmärschen, wollte dem Krieg unbedingt entgehen. Wenige Monate nach seiner Rückkehr in die USA hörte er auf zu essen. Etwa 13 Monate lang habe er nur das Nötigste zu sich genommen, bis er ein Drittel weniger gewogen habe als heute. „Ich habe versucht, mich für die Regierung so unattraktiv wie möglich zu machen“, sagt Nygren.

Der Plan ging auf: Bei der Musterung wurde er für wehruntauglich befunden. Das Hungern, sagt Douglas Nygren heute, sei nicht der einfachste Weg gewesen. Er hätte sich auch aus religiösen Gründen von der Wehrpflicht befreien lassen können. „Das wäre aber eine Lüge gewesen“, sagt er. „Ich bin kein Pazifist. Gegen Hitler wäre ich in den Krieg gezogen.“

Rückkehr nach 50 Jahren

Nicht nur seine politischen Ansichten, auch sein Berufsziel hätten sich verändert. Statt nach seinem Masterabschluss in Germanistik in Harvard an der Universität zu bleiben und Deutsch zu lehren, begann er eine Karriere als Journalist. „Um die Lügen der Nixon-Regierung aufzudecken“, sagt Nygren. Später studierte er Sozialarbeit und wurde Kinder- und Jugendtherapeut. Diesen Beruf übte er 30 Jahre lang aus. Inzwischen ist Douglas Nygren längst pensioniert – und nach Berlin zurückgezogen. Er spielt weiterhin Klavier und arbeitet an deutschsprachigen Erzählungen. Die Sprache ziehe ihn immer noch in ihren Bann, sagt er.

Die deutschen Studenten, so Douglas Nygren heute, hätten ihm womöglich nicht nur das Leben gerettet, sondern auch seine Seele. Einer seiner deutschen Kommilitonen habe zu der Zeit begonnen, seinen eigenen Vater mit dessen Vergangenheit im Nationalsozialismus zu konfrontieren. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beschäftigt ihn weiterhin. Douglas Nygren erzählt, er habe sich gefragt: „Was würde ich meinen Kindern antworten, wenn sie fragen: Was hast du während des Vietnamkriegs getan?“ Heute – seine jüngste Tochter absolviert derzeit ein Masterstudium – könne er der Frage mit gutem Gewissen begegnen.

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