„Ein großer Wissenschaftler, ein liebenswerter Humanist“
Zum Tod von Biochemie-Professor Alexander Rich, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin
21.05.2015
In seinem 91. Lebensjahr, am 27. April 2015, starb der Biochemiker Professor Alexander Rich in Boston, USA. Er war William Thompson Sedgwick Professor für Biophysik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seit 1986 Ehrendoktor der Freien Universität Berlin. Wie sein Doktorvater, Doppel-Nobelpreisträger Linus Pauling, war auch Alexander Rich bis wenige Monate vor seinem Tod und in hohem Alter noch wissenschaftlich aktiv und nicht vom MIT emeritiert. Ein Nachruf der Biochemie-Professoren Volker A. Erdmann und Burghardt Wittig.
Mit Alexander („Alex“) Rich verliert die internationale Scientific Community einen der renommiertesten Nukleinsäure-Forscher, der nicht nur zur Struktur und Funktion von DNA und RNA entscheidende Beiträge geliefert hat, sondern auch über mehr als ein halbes Jahrhundert genialer Ideengeber und Richtungsweiser für die Biowissenschaften war.
Die wissenschaftliche Kooperation zwischen Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin und Professor Rich hatte vor mehr als 35 Jahren begonnen. Die Arbeitsgruppe von Professor Volker A. Erdmann, zunächst am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (1976-1980) und von 1980 an, nach seinem Wechsel an das Institut für Biochemie des Fachbereichs Chemie, bildete quasi den „Kristallisationskeim“ für die Zusammenarbeit mit Professor Rich am MIT. Im Jahr 1984 begann eine weitere enge Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Professor Burghardt Wittig, damals Heisenberg-Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Molekularbiologie und Biochemie der Freien Universität.
Diese Kooperationen führten dazu, dass aus den beiden Berliner Arbeitskreisen zahlreiche junge Wissenschaftler als Doktoranden oder Postdoktoranden ihre wissenschaftlichen Karrieren im Labor von Professor Rich am MIT beginnen oder fortsetzen konnten.
Der Lebenslauf von Alexander Rich liest sich wie der „amerikanische Traum“ in der Version für Wissenschaftler. Aus ärmsten Verhältnissen kommend konnte er mit seinem herausragenden intellektuellen Potenzial , aber auch durch harte Arbeit eine beneidenswerte Karriere aufbauen. Seine Eltern waren sehr arme Immigranten aus Russland, deren finanzielle Situation es nicht erlaubte, den Kindern eine Ausbildung oder gar ein Studium zu finanzieren. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage, die Rich zwang, während des Zweiten Weltkrieges für seinen Lebensunterhalt in Tages- und Nachtschichten in einer Fabrik für Gewehre oder auch auf einer Schiffswerft der Marine zu arbeiten, schaffte er es, 1947 seinen B.A. und 1949 den M.D. mit Auszeichnung von der Harvard University zu erlangen.
Alexander Rich war in der Tat wahrscheinlich der kreativste und bedeutendste Vordenker der Molekularbiologie im 20. Jahrhundert. So konnte er zum ersten Mal zeigen, dass sich zwei einzelsträngige DNA-Moleküle zu einem Doppelstrang vereinigen können. Bereits 1957 gelang ihm der Nachweis, dass DNA-Moleküle auch einen Triple-Strang bilden können. Mit seinem 1960 vorgelegten Beweis der DNA:RNA-Hybridisierung über „Watson-Crick-Basenpaare“ hat er die Aufklärung des molekularen Informationsflusses von DNA zu RNA zu Protein eingeleitet. Seine Erstbeschreibung und funktionellen Untersuchungen der Polysomen führten zu einem neuen Bild der Proteinfabriken in Zellen.
Mit der Kristallisation der Phenylalanin-spezifischen tRNA und deren atomarer Strukturbestimmung gelang Rich und Mitarbeitern 1974 nicht nur erstmalig die Strukturbestimmung einer Ribonukleinsäure mit biologischer Funktion, sondern auch der Beweis, dass für die Struktur und Funktion von RNA-Molekülen andere Wasserstoffbrücken-Bindungen als die bekannten Watson-Crick-Basenpaare von essenzieller Bedeutung sind. Im Jahr 1979 entdeckte er eine DNA-Struktur, die anders als die bekannten rechtsgängigen DNA-Doppelhelices (B-DNA und A-DNA), eine linksgängige Doppelhelix mit zickzackartigem Verlauf hat. Er nannte diese Strukturvariante „Z-DNA“ und konnte zusammen mit internationalen Arbeitsgruppen – auch der von Wittig – zeigen, unter welchen zellbiologischen und physikochemischen Bedingungen Z-DNA gebildet wird. Für die NASA Viking Mission zum Mars (1969 bis 1980), mit der unter anderem nach Leben auf dem Mars gesucht wurde, entwarf Rich die biologischen Experimente.
Eine seiner bemerkenswertesten Qualitäten war sein Mut, gewagte Hypothesen vorzutragen und sie somit der Zerreißprobe auch aggressiver wissenschaftlicher Diskussionen zu unterwerfen. So sagte er viele Jahrzehnte vor deren experimenteller Bestätigung den Mechanismus der biologischen Regulation durch Nukleinsäuren in „antisense“-Orientierung zur genetischen Kodierung voraus und postulierte, dass nicht nur Proteine Enzyme sein können, sondern auch DNA- und RNA-Moleküle. Seine bereits auf einer der Cold-Spring-Harbour-Konferenzen im Jahr 1974 vorgetragene Hypothese, wie sich die tRNA-Moleküle während der Proteinbiosynthese durch die Ribosomen bewegen können und dabei gleichzeitig die notwendige Wechselwirkung zwischen tRNA und mRNA erhalten bleibt, wurde viele Jahre später ebenfalls bestätigt.
Neben den vielen, jeweils höchsten Auszeichnungen der bedeutenden Wissenschaftsnationen, die Alexander Rich erhielt, seien hier beispielhaft erwähnt: Ehrenpromotionen unter anderen durch das Weizmann Institute of Science und die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, und die Mitgliedschaften in Akademien der Wissenschaften, wie etwa der National Academy of Sciences USA, der Französischen Akademie der Wissenschaften, der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Unter all den Auszeichnungen und Preisen, die Alexander Rich erhalten hat, fehlt sicherlich der Nobelpreis, für den er viele Male zu Recht vorgeschlagen wurde und den er wirklich verdient gehabt hätte.
Alexander Rich nutzte seine vielen, weltweiten Reisen zu wissenschaftlichen Vorträgen und Kooperationen auch immer dazu, Kollegen und deren Familien zu helfen, die durch Ideologien, religiöse Schranken oder politischen Isolationismus an ihren menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten gehindert wurden. Er war Berater von David Ben-Gurion bei der Gründung des Weizmann Institutes im noch jungen Staat Israel. Er reiste in den Hochzeiten des kalten Krieges in die Sowjetunion, um Kooperationen zwischen Wissenschaftlern beider Lager zu ermöglichen. Er spielte eine Schlüsselrolle bei den ersten Kontakten zwischen der chinesischen und der amerikanischen Akademie der Wissenschaften und beriet über Jahrzehnte den Papst zu naturwissenschaftlich-ethischen Fragestellungen.
Einer der größten Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts und ein konsequenter, liebenswerter Humanist hat die Wissenschaftswelt verlassen, die er mit seinem brillanten Intellekt und durch seine aufgeschlossene Freundlichkeit wegweisend geprägt hat.