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Rede von Hildegard Hamm-Brücher anläßlich der Immatrikulationsfeier im Sommersemester 2004, FU Berlin


Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher, Staatsministerin a. D. und Kuratorin der Ludwig-Maximilians-Universität München

Chancengerechtigkeit und lebenslanges Lernen - Anmerkungen zu hochschul- und demokratiepolitischen Herausforderungen

Rede anläßlich der Immatrikulationsfeier im Sommersemester 2004
zur Begrüßung der neuimmatrikulierten Studierenden am 14. April 2004

1. Einstimmung
Ihr neues Studienjahr beginnt in einer innen- und hochschulpolitisch unruhigen Zeit mit einer bewusst herausgehobenen Veranstaltung, in der die Erstsemester unter Ihnen nicht nur formal bürokratisch immatrikuliert, sondern in einer Feierstunde in die akademische Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden aufgenommen werden. Zwar gibt es zum Studienbeginn keine Schultüte mehr, wohl aber soll dies ein besonderer Tag sein, an dem für Sie ein neuer Lebensabschnitt beginnt, auf den Sie ein wenig feierlich "eingestimmt" werden sollen.

Was kann ich dazu beitragen?

Ich stehe hier vor Ihnen als eine im parlamentarischen Pulverdampf ergraute Bildungspolitikerin, aber auch und vor allem als eine "Zeitzeugin", die den wechselvollen Werdegang unserer zweiten Demokratie in Deutschland seit dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und ihrer Neugründung miterlebt und zeitweise mitgestaltet hat. Das heißt, ich werde kein lupenreines hochschulpolitisches Referat halten, vielmehr versuchen, einschlägige Anmerkungen in einen weiter gefassten demokratiepolitischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Dies ist ein Versuch, ­ nicht mehr, aber auch nicht weniger ­ von dem ich hoffe, dass er Ihnen ­ beginnend mit einem kurzen Rückblick ­ einige Einblicke in miteinander zusammenhängende hochschulpolitische- und zeitgeschichtliche Zeitläufe vermittelt.

2. Mein Rückblick beginnt mit einem diesbezüglichen Kurz-Steckbrief:
Erstens: Während des Zweiten Weltkrieges habe ich an der LMU in München Chemie studiert und 1945 bei dem Chemiker und Nobelpreisträger Heinrich Wieland promoviert. Er war einer der letzten großen deutschen Naturwissenschaftler, der zur Weltelite zählte und zudem ein aufrechter und mutiger Anti-Nazi war (z.B. nahm er Studenten auf, die (wie ich) von den Nürnberger Rassegesetzen betroffen und stets gefährdet waren!). Sein Institut war ein "Zentrum der Exzellenz", in dem knochenhart gearbeitet wurde (mindestens zehn Stunden am Tag, immer auch samstags und höchstens drei Wochen Semesterferien) und es war mitten in der braunen Wüste ­ eine "Oase der Anständigkeit", in der weder gespitzelt noch denunziert oder NS- Sprüche geklopft wurden. Für jeden seiner Schüler war Wieland Vorbild und Ansporn.
Lebenslang.

Zweitens: Ich stehe in der Tradition des politischen Denkens und Handelns der Studenten der Weißen Rose und wünsche mir seither nicht nur, dass ihr Opfergang für nachwachsende Generationen unvergessen bleibe, sondern dass er auch in unseren Universitäten als geistig-politisches Vermächtnis fortwirkt, so wie es in den heute noch bewegenden Flugblättern niedergelegt ist. Ich zitiere aus dem Vierten Flugblatt:

"... aus Liebe zu kommenden Generationen muss nach Beendigung des Krieges ein Exempel zu statuiert werden, dass niemand auch nur die geringste Lust verspürt, Ähnliches aufs Neue zu versuchen..."
Und aus dem fünften Flugblatt:
"Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt, entscheidet Euch, ehe es zu spät ist..."

Für mich, die ich überlebte, hieß das und heißt das bis heute: Zu jeder Zeit teil- und Anteil zu nehmen am Geschick unseres demokratischen Gemeinwesens und nicht weg zu sehen, wenn dieses von demokratieschädlichen oder gar -feindlichen Entwicklungen neuerlich gefährdet wird.

Drittens: Nach 1945 waren es vor allem drei Lehrmeister, die zur grundlegenden Orientierung meines politischen Denken und Handelns beigetragen haben:

Die Schriften Karl Poppers, die mir halfen, "den Sinn der Geschichte" nach Hitler darin zu erkennen "aus unseren schrecklichen Irrtümern zu lernen" und ihre "scheinbar sinnlose Tragik ... als Aufgabe zu begreifen, unser bestes zu tun, um die künftige Geschichte, sinnvoller zu machen ...". Max Weber, der mich mehr als einmal mit einigen Passagen aus seinem Essay "Politik als Beruf" (1919) vor Resignation bewahrt und zum Durchhalten ermutigt hat, z.B. mit seiner Metapher, dass Politik ein höchst beschwerlicher Beruf sei, der sowohl des "geduldigen Bohrens harter Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft" bedarf als auch jener "Festigkeit des Herzens, die auch beim Scheitern aller Hoffnungen 'dennoch' zu sagen vermag". (Ich empfehle die Lektüre beider Texte).

Und schließlich gab es da Theodor Heuss, unseren ersten Bundespräsidenten, der uns Nach-Hitler-Deutschen ein nüchtern-konkretes Demokratieverständnis vermittelte und immer wieder mahnte, dass "Demokratie keine Glücksversicherung" sei, sondern "das Ergebnis politisch (geschichtlicher) Bildung und demokratischer Gesinnung", also sowohl eine Staats- als auch eine Lebensform ist.

3. Bedingungen für demokratische Gesellschafts- und Bildungssysteme
Dieses ebenso nüchterne wie leidenschaftliche Demokratieverständnis von Theodor Heuss verstand ich nach 1945 als einen Auftrag, der im Sinn des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg erfüllt werden musste, den er bereits 200 Jahre zuvor sinngemäß wie folgt beschrieben hatte: Es sei "ein sehr schweres Problem" "auf den Trümmern eines Unrechtsstaates (damals meinte das eine Monarchie) eine Republik zu bauen. Das gelänge nicht, ohne dass jeder Stein neu behauen würde". ­ Nun, nach dem Untergang der NS-Diktatur galt das in gleicher Weise für den Aufbau einer Demokratie. Aus den Trümmern des Unrechts- und Obrigkeitsstaates musste jeder Stein neu behauen werden, bevor er zu demokratisch verfassten Institutionen zusammengefügt werden konnte. Dazu sollte das Grundgesetz das Fundament bilden und ­ zunächst nur auf dem Papier ­ ein freiheitliches und menschenwürdiges Leben und Zusammenleben seiner Bürger garantieren. ­ Darum ging und geht es auch in der Realität ­ nun auch global..

Das "Steine neu behauen" galt im gleichen Sinne auch für die Erneuerung unseres ständisch gegliederten und obrigkeitsstaatlich reglementierten Bildungssystems. Die spezifische Aufgabe lautete: Demokratische Strukturen auch im Hochschulbereich für alle darin Lehrenden und Lernenden zu verwirklichen. Mit welchem Ziel? Darauf gibt es viele Antworten, keine ist jedoch so eindeutig und lapidar wie die, die John F. Kennedy (der "Berliner") ­ in sechs Worten zusammenfasst hat: "to be equal a n d excellent too!" Zu deutsch: Demokratische Gesellschaften und ihre Bildungssysteme müssen sich durch Chancengleichheit u n d Excellenz auszeichnen und beides garantieren! Erst dann, und nur dann, wenn 'Equality' auch 'Quality' hervorbringt ­ die, (wie im Sport) Spitzenleistungen durch Breitenförderung erzielt ­, kann beides zum Gütesigel eines demokratischen Bildungssystems werden. Wir brauchen beides und beides nicht erst an unseren Hochschulen, sondern von Jugend auf. Immer und überall müssen in Schule und Erziehung vielfältige Wege, Angebote, und Abschlüsse offen stehen, die sowohl allgemeine und berufliche Qualifizierungen als auch Spitzenleistungen ermöglichen.

Nur auf Universitäten begrenzte Maßnahmen zur so genannten Elite-Förderung genügen meines Erachtens nicht. Sie setzen zu spät ein und begrenzen zudem das Reservoir möglicher Leistungseliten auf akademische Begabungen. Die Gebote der Chancengleichheit u n d Excellenz müssen jedoch in gleicher Weise und von frühauf auch für alle kulturellen, manuellen und künstlerischen Begabungen gelten. ­ Und noch etwas ist wichtig: Wirkliche "Eliten" können weder durch privilegierte Studiengängen oder Diplome produziert, patentiert und garantiert werden. Die eigentlichen, die bleibenden Eliten einer Gesellschaft kristallisieren sich erst durch außergewöhnliche Leistungen, menschliche Vorbildhaftigkeit und lebenslange Bewährung heraus. (Dazu folgen später noch einige Anmerkungen.)

4. Reformansätze und Hindernisse
Um unser Bildungssystem wirklich chancengerecht und zugleich offen für Hochbegabungen zu gestalten, dazu genügen keine Teilreparaturen. Dazu bedarf es umfassender Reformen an Haupt und Gliedern. Deshalb ist zu fragen, wie es um unsere Reformfähigkeit im Allgemeinen und im Bildungswesen im Besonderen steht?

Hierzu einige kritische Anmerkungen:

Wir Deutschen können uns nicht gerade als ein besonders reformfreudiges und Reform erprobtes Volk bezeichnen. Wirkliche Reformer ­ wie z.B. Humboldt, Hardenberg, Stein oder Scharnhorst ­ wurden immer erst posthum geehrt. Freiwillig und mutig haben wir überfällige Reformen bisher selten in Angriff genommen, und "Ruckreden" haben auch nur wenig bewirkt. "Reformiert darf werden, aber ändern darf sich nichts", witzelte jüngst ein prominenter Fachmann.

Das entspricht in etwa auch meiner Erfahrung! Seit Gründung der BRD habe ich so viele Ansätze und Aufbrüche für Reformen in Staat und Gesellschaft miterlebt, als Abgeordnete und Staatssekretärin nicht nur Bildungsreformen mitinitiiert und verantwortet, sondern auch Parlaments- und Parteireformen, dass meine diesbezüglichen Hoffnungen auf Erfolge eher gedämpft sind. Die meisten Ansätze zu Reformen sind immer irgendwann, irgendwo steckengeblieben, wurden verwässert oder auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt ­ mit der Besorgnis erregenden Folge zunehmender Politik(er)verdrossenheit und Resignation bei den Bürgern, die jedoch bei Reformen in eigener Sache auch nicht gerade von Reformbegeisterung strotzen.

Ohne Panikmache oder schwarz-weiß Malerei kurz zusammengefasst: Unser Land ist derzeit in keiner besonders guten Verfassung, und dies nicht nur hinsichtlich wirtschaftlichen und sozialen Reformbedarfs, sondern auch demokratiepolitisch und im weitesten Sinn geistig-kulturell. Aufbruchstimmung herrscht nirgends, Höhenflüge lassen auf sich warten.

Die heute anstehenden reformatorischen Herausforderungen betreffen ja keineswegs nur unser Bildungssystem, (auf dessen Ist-Zustand werfen die für unser Land unterdurchschnittlichen Ergebnisse der PISA STUDIE ein alarmierendes aber leider bereits wieder verblassendes Schlaglicht), ­ sie betreffen fast alle Bereiche in Staat und Gesellschaft. Überall gilt im Sinne Max Webers das "Bretter-Bohren" und "Dennoch-Sagen"! Und deshalb wiederhole ich: Wir dürfen die anstehenden bildungspolitischen Herausforderungen nicht isoliert betrachten, sondern müssen sie in Bezug setzen zu anderen Fehlentwicklungen und Gravamen, die sich in unserem Gemeinwesen aufgestaut haben. Nicht zuletzt sind sie auch die Folge offenkundiger Blockaden bei überfälligen Entscheidungsprozessen (vom Zuwanderungsgesetz bis zum Flaschenpfand, beispielsweise).

5. Konkrete Herausforderungen
Mit Blick auf dieses wenig erfreuliche Gesamtbild, scheinen die besonderen Herausforderungen für unsere Universitäten vergleichsweise weniger bedrohlich. Und doch sind sie es!

Denn unsere Hochschulen sollen ­ ausgerechnet in Zeiten rigoroser Sparzwänge, die von staatlicher Seite verordnet wurden ­ in eine bisher nicht gekannte Selbstständigkeit und Selbstverantwortung entlassen werden. Demzufolge werden sie mit allen bisher versäumten Reformen auf einmal konfrontiert: Sie müssen dem Gebot der Chancengerechtigkeit besser als bisher gerecht werden. Wie kann das gelingen? Wie sollen komplizierte Neuerungen wie z.B. die Auswahl der Studenten, neue Studienabschlüsse, die den angelsächsischen entsprechen, verkürzte Studienzeiten zu neuen Abschlüssen durchgesetzt werden? ­ Und das alles auf einmal! Und weiter: Genügen herkömmliche Studiengänge und Abschlüsse überhaupt noch für ein ganzes akademisches Berufsleben? Werden künftig nicht viel mehr berufsbegleitende Teilzeitstudiengänge angeboten werden müssen und lebenslanges Weiterlernen auch für Akademiker zu einer conditio sine qua non? ­ Welche zusätzlichen Anforderungen ergeben sich hierbei für den Beruf des Hochschullehrers und wie lässt sich mit den Folgen der auch im Hochschulbereich fortschreitenden Globalisierung Schritt halten? ­ Und last but not least: Wo und wie sollen "Zentren der Excellenz" entstehen und wer soll Zugang zu ihnen haben? (Diesbezüglich scheint mir die derzeitige Einigung zwischen Bund und Ländern, unterschiedliche Modelle zu erproben, recht vernünftig.)

Alle genannten Problembereiche werden in anderen Ländern längst diskutiert, wird ihre Umsetzung bereits erprobt. Diese und andere Entwicklungen dürfen unsere Hochschulen nicht neuerlich verpassen.

Leider mangelt es jedoch derzeit noch an gemeinsamen Vorstellungen, wie die "neue Freiheit" gestaltet und nutzbar gemacht werden soll. Auch hierzu noch einige Anmerkungen in Frageform:

Gibt es so etwas wie eine "IDEE" der Universität, die in die Zukunft weist? Unabhängigkeit statt Gängelband? ­ Offenheit statt Elfenbeinerner Turm? ­ Universalität statt föderaler Provinzialismus? ­ Oder: Wie kann ein Erfolg versprechender innovativer Wettbewerb in und zwischen Hochschulen entstehen und nutzbar werden? ­ Wie soll er finanziert werden? ­ Wie soll der Prozess der Erprobung, Auswertung und Verbreitung von Innovationen vonstatten gehen? Müsste nicht ein finanzieller Sonderfonds ausschließlich zur Erprobung von Innovationen geschaffen werden? Welche Rolle sollen künftig Wissenschaftsrat, Rektorenkonferenz und andere Bund-Länder-Beratungsgremien spielen? ­ Zur Frage der Studiengebühren ist meine Ansicht bekannt: Ja, aber n u r wenn es gelingt, sie in Verbindung mit einer Reform des Stipendienwesens chancengerecht zu lösen.

6. Abschließender Diskurs zur Elite-Diskussion
Gewachsene und in sich gefestigte Demokratien haben keine Probleme hinsichtlich der Notwendigkeit und Vereinbarkeit von "Equality and Quality". Zumindest theoretisch besteht Konsens, dass Staaten und offene Gesellschaften freier Bürger ­ im Sinne Karl Poppers ­ offene und chancengerechte Systeme bereitstellen müssen, in denen unterschiedliche Anlagen, Neigungen und Begabungen junger Menschen entdeckt, entfaltet und gefördert werden, in denen Chancen nicht nur einmal angeboten, sondern in allen Bereichen und für alle Bildungsstufen lebenslang nachhol- und wiederholbar sind. Hierzulande ist diese gewollte Zweigleisigkeit noch keineswegs selbstverständlich. Die einen tun sich mit dem Prinzip Chancengerechtigkeit schwer, die anderen mit dem Elitebegriff, besonders junge Menschen. ­ Weshalb? Es scheint mir wichtig, nach den Ursachen hierfür zu fragen:

Einmal, weil dieser Begriff bei uns immer noch mit Standes- oder Geldeliten und damit mit Privilegien assoziiert wird, und damit das Gebot der Chancengerechtigkeit neuerlich gefährdet oder gar vernachlässigt wird.

Zum anderen, weil uns unsere wirklichen Eliten während der Nazizeit verloren gegangen sind, ­ dass sie verjagt und vernichtet wurden ­ auf Schlachtfeldern, im Widerstand und in KZs buchstäblich zu Grunde gingen.

Nach 1945 waren wir ein Volk ohne Eliten, und nie haben wir wirklich versucht, die in alle Welt verstreuten deutschen Eliten zurück zu gewinnen.

(Ich denke dabei an ausgestoßene Deutsche wie beispielsweise Hanna Arendt, Konrad Bloch, Saul Friedländer, Alfred Grosser, Hans Jonas, George und Hilde Mosse, Karl Popper, Fritz Stern, usw. usw.)

Deshalb tun wir uns bis heute schwer, das Ausmaß und die Dimension dieses Verlustes zu begreifen und der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Eliten nicht einfach mit Geld und Organisation neu zu produzieren und zu ernennen sind.

Wie es hierzulande heute um bleibende Eliten steht, wage ich nicht zu beurteilen. All zu oft verwechseln wir intellektuelle Wortführer mit geistigen Eliten, Stars und Sternchen mit Künstlereliten und politische Quoten-Prominenz mit (zumeist selbst ernannten) Eliten in Staat und Gesellschaft. Die Massenmedien tun ein übriges: Das Thema wird zur Mode und zur Show, mit dem man hofft "Quote zu machen": So à la: Deutschland sucht die Superuniversität! Deutschland braucht Eliten, koste es, was es wolle! Nein, vor allem kostet es bessere Einsicht, Bretter-Bohren und Dennoch-Sagen.

7. Wünsche an die FU und ihre Studenten, vor allem an ihre Erstsemester
Liebe Erstsemester, Sie haben für ihr Studium eine nach Jahren vergleichsweise junge Universität (Alma Mater) gewählt, an politischer Bedeutung ist sie jedoch die wohl zeitgeschichtsträchtigste. Hochschulpolitisch hat sie mehr als einmal unruhige Zeiten erlebt und von einem Elfenbeinturm konnte nie die Rede sein. Als die FU vor über 50 Jahren gegründet wurde, da war sie von großer Symbolkraft für den Freiheitswillen dieser Stadt und ihrer Entschlossenheit zu hochschulpolitischer und geistiger Erneuerung nach der Nazi-Diktatur und im Angesicht der aufwachsenden SED-Diktatur beizutragen. Und als Sie, liebe Erstsemester, vor etwa zwanzig Jahren auf die Welt kamen, da war Berlin immer noch so etwas wie eine Frontstadt (ziviler ausgedrückt, eine Nahtstelle im Kalten Krieg) und voller Ungewissheit über ihre Zukunft. Heute zählt sie zu den führenden Universitäten unseres Landes.

Diese zeitgeschichtliche Prägung ist mehr als eine Reminiszenz. Für die hier Lehrenden und Lernenden bedeutet sie auch ein Stück Herausforderung und Verpflichtung, mit Weitblick, Engagement und Zivilcourage mitzuwirken an der Weiterentwicklung und dem Selbstverständnis ihrer und aller Hochschulen in einem demokratisch und rechtsstaatlich verfassen Gemeinwesens und als Glied und Mitglied eines zusammenwachsenden europäischen Verbundes.

Persönlich wünsche ich Ihnen, liebe Erstsemester, dass Sie während Ihres Studiums nicht nur viele neue fachliche Kenntnisse für Ihren künftigen Beruf erwerben, sondern auch einen Standort finden für Ihr staats- gesellschafts- und demokratiepolitische Wirken und Bewirken. Also: Was auch immer Sie studieren, erweitern Sie Ihren geistigen und politischen Horizont und vernachlässigen Sie nicht Ihre Rechte und Pflichten als Bürger und zugleich als Bürgen unserer Verfassung. Als Zeitzeugin der dunkelsten Epoche unserer Geschichte und als Frau, die Politik als Lebensberuf im Sinne Max Webers erwählt hat, möchte ich Sie und uns alle beschwören:

Das Glück, dass wir in Freiheit und in einem Rechtsstaat leben dürfen, verpflichtet jeden von uns als mündige Bürger/innen auch dafür zu bürgen, dass Freiheit und Rechtsstaat nicht nur erhalten, sondern gestärkt und immer wieder neu verwirklicht werden.