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„Erst einmal gab es Streik!“

Markus Hesselmann ging nach dem Studium zum Tagesspiegel, war Korrespondent in London und lernte dort den Online-Journalismus kennen. Ein Gespräch über Soziale Medien und warum digitaler Journalismus ein Debattenforum sein sollte

04.06.2018

Markus Hesselmann arbeitet seit 20 Jahren beim Berliner Tagesspiegel, er war unter anderem Ressortleiter Berlin und Chef des Online-Auftritts. Seit 2017 leitet er das lokale Newsletterprojekt „Tagesspiegel Leute“

Markus Hesselmann arbeitet seit 20 Jahren beim Berliner Tagesspiegel, er war unter anderem Ressortleiter Berlin und Chef des Online-Auftritts. Seit 2017 leitet er das lokale Newsletterprojekt „Tagesspiegel Leute“
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Herr Hesselmann, Sie sind 1988 aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gezogen, um an der Freien Universität Publizistik, Anglistik und Germanistik zu studieren. Wie war das erste Semester?

Markus Hesselmann: Mein Studium hat erst einmal mit einem großen Streik angefangen! Es gab damals, 20 Jahre nach 1968, wieder Studentenproteste. Es gab einen Run auf West-Berlin. Die Hörsäle der Freien Universität waren also entsprechend voll. Das Studium war anonym, es gab kaum Kontakt zu den Professoren. Man war erst einmal auf sich allein gestellt. Für mich, für meinen Persönlichkeitstyp, war das genau das Richtige. Aber viele Kommilitonen waren frustriert, haben Hörsäle besetzt und sind auf die Straße gegangen. Die Studentenproteste mischten sich dann mit Teilen der Hausbesetzer-Szene und anderen linken Gruppen. Plötzlich ging es nicht mehr nur um Bildungspolitik und die Uni, sondern auch um Amerika und Nicaragua und was weiß ich. Das war eine Art linker Selbstfindung.

wir: Wie haben diese Proteste auf Sie gewirkt?

Markus Hesselmann: Für mich war das eine extrem spannende Zeit. Ich war noch ganz neu an der Uni und konnte bei den meisten Themen gar nicht wirklich mitreden. Aber ich hatte das Gefühl, dass an den Protesten was dran war und dass das eine spannende Erfahrung sein könnte, da mit anzupacken. Mich hat der „autonome“ Aspekt daran gereizt, die Möglichkeit, das Unileben selbst mitzugestalten. Also habe ich mitgemacht. Nicht an vorderster Front – aber wir haben ein Semester lang mit heiligem Ernst „autonome Seminare“ gehalten. Eines über Fußball und eines über Popmusik. Wir haben uns ernsthaft theoretisch mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt und uns selbst strukturiert. Im Nachhinein muss ich sagen: Das war eine Schule fürs Leben. Ich profitiere heute noch von der Erfahrung – wie ganz allgemein vom Studium an der Freien Universität.

wir: Welche Erfahrungen haben Sie mitgenommen?

Markus Hesselmann: Ich habe mein Studium damals mit dem Ziel begonnen, etwas für mich selbst zu machen. Das war an der Freien Universität möglich. Das Studium dort hatte ich immer als sehr autonom empfunden. Man musste selber etwas aus seinem Studium machen. Wenn man nur gewartet hat, dass ein Professor kommt und einem etwas präsentiert, wurde da nichts draus. Man war auf sich gestellt, aber dadurch war man auch sehr frei, es gab keinen Druck. Man konnte sich in der Bibliothek austoben und sich auf seine Hausarbeiten konzentrieren. Man hat gelernt, was Selbstbestimmung heißt. Ich denke, das ist gerade heute wichtig, da wir in einer Gesellschaft leben, in der klassische Berufslaufbahnen immer seltener werden und man noch mit 40 oder 50 Jahren neue Sachen lernen muss.

wir: Mehr Betreuung heißt also nicht gleich besseres Studium?

Markus Hesselmann: Ich denke nicht. Ich habe später zwei Auslandssemester im englischen Reading gemacht. Dort gab es ein klares Curriculum, ein enges Betreuungsverhältnis und klare Arbeitsstrukturen. Das hatte auch was, aber wenn ich mich zwischen dem sehr schulischen Studium in England oder dem etwas chaotischen Studium an der Freien Universität entscheiden müsste … dann jedes Mal wieder für die Freie Universität.

wir: Welche Themen haben Sie im Studium besonders interessiert?

Markus Hesselmann: Eine besonders tolle Erfahrung war ein Seminar über Erik Reger – einen der Gründer des Tagesspiegels, meinen heutigen Arbeitgeber. Reger war Schriftsteller und Journalist. Wie ich lebte er im Ruhrgebiet und ging später nach Berlin. Im Rahmen meines Studiums habe ich im Archiv der Akademie der Künste in seinem Nachlass geforscht und später meinem Professor geholfen, Regers journalistische Arbeiten neu herauszugeben. Das war eine ganz besonders tolle Erfahrung. Ich würde heute sehr gerne eine Stiftung finden, die es mir finanziert, eine Biographie über Erik Reger zu schreiben.

wir: Ist aus der Beschäftigung mit Erik Reger auch die Magisterarbeit geworden?

Markus Hesselmann: Nein, nein, das war dann ein ganz anderes Thema – und zwar Fußball! Ich habe mich mit der Sprache des Sports in verschiedenen Sprachräumen des Commonwealth beschäftigt. Großbritannien, Australien, Indien und Ghana. Ich habe untersucht, wie sich etwa Fußball-Metaphern in den verschiedenen englischen Dialekten zueinander verhalten. Dazu haben wir schon Verfahren der digitalen Linguistik eingesetzt. Das war damals relativ neu. „Über sowas kann man eine Magisterarbeit schreiben?“, hat mich der „Tagesspiegel“-Chefredakteur später beim Einstellungsgespräch gefragt.

wir: Beim „Tagesspiegel“ wurden Sie aber dennoch angenommen?

Markus Hesselmann: Nach meinem Abschluss hatte ich ein Vorstellungsgespräch für ein Volontariat beim Tagesspiegel. „Also was vernünftiges haben Sie ja nicht studiert!“, begrüßte mich die damalige Chefredakteurin. Aber ja, 1996 kam ich trotzdem zum „Tagesspiegel“ – und bin bis heute geblieben.

wir: Wie ging es damals los?

Markus Hesselmann: 1994, in dem Jahr in dem ich meine Magisterarbeit geschrieben habe, habe ich einfach auf gut Glück bei der Sportredaktion angerufen. Ich hatte damals Wasserball gespielt und einfach gesagt: „Hallo, ich kann für euch über Wasserball schreiben.“ Am Apparat war der damalige Sportchef Wolfgang Jost – zu meiner großen Überraschung hat er gesagt: „Ja, mach doch mal!“ Er hat mich dann gefördert, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Leider ist er 2009 bei einem Unfall gestorben.

wir: Nach dem Volontariat wurden Sie dann gleich Redakteur …

Markus Hesselmann:… genau. Ich habe erst frei für den „Tagesspiegel“ gearbeitet, dann ein Praktikum gemacht und 1996 dann mit einem Volontariat angefangen. 1998 wurde ich dann Redakteur und 2000 war ich stellvertretender Sportchef.

wir: Wow!

Markus Hesselmann: Ach, das klingt so karrieremäßig, aber ich sage mal: Wenn man das will, dann ist es kein Hexenwerk. Die meisten Journalisten wollen ja raus und schreiben, schreiben, schreiben. Die wollen nicht in der Redaktion sitzen, Konferenzen leiten und Seiten planen. Die Führungsjobs, die will eigentlich keiner. Mir hat das aber immer Spaß gemacht sich zu überlegen: Was muss heute in die Zeitung? Wer kann am besten zu welchem Thema schreiben? Wie soll unsere Aufmacherseite heute aussehen? Ich war immer ein leidenschaftlicher „Blattmacher“.

wir: Das Journalistenhandwerk hat sich durch die Digitalisierung in den letzten 15 Jahren radikal gewandelt. Das klassische „Blattmachen“ gibt es immer seltener. Wie haben Sie diese Zeit miterlebt?

Markus Hesselmann: Dahingehend war meine Zeit in England, meinem Sehnsuchtsort, prägend. Der „Tagesspiegel“-Chefredakteur Lorenz Maroldt hatte es mir damals ermöglicht, von 2007 bis 2008 als Korrespondent nach London zu gehen. Dort habe ich erlebt, wie die britischen Zeitungen, insbesondere der „Guardian“, mit dem Internet umgegangen sind, die waren uns meilenweit voraus. Das war für mich ein Kick: Ich hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört, Print-Zeitungen zu lesen. Ich habe das richtig kultmäßig zelebriert und mir ein papierloses Büro auferlegt, ohne Drucker. Das einzige, was ich ausdrucken musste, waren meine Presse- Akkreditierungen für das Wembley-Stadion. Da musste ich immer zu einem pakistanischen Copyshop um die Ecke.

Der Guardian hat für seine Online-Version die besten Autorinnen und Autoren geholt

wir: Was hat der „Guardian“ anders gemacht?

Markus Hesselmann: Der Guardian hatte Schluss gemacht mit dem Vorurteil, dass online alles kürzer und oberflächlicher sein muss als in der gedruckten Zeitung. Die haben ihre besten Autorinnen und Autoren geholt und ihnen gesagt: Ihr habt so viel Platz wie ihr wollt, jetzt könnt ihr euch richtig „ausschreiben“. Als ich wieder in Berlin war, hatte ich das Ziel, den Online-Journalismus auch bei uns nach vorn zu bringen. 2009 hatte ich dann die Chance, die Leitung der Online-Redaktion zu übernehmen.

wir: Wie sind Sie damals vorgegangen?

Markus Hesselmann: Man muss sagen, dass der „Tagesspiegel“ digital schon damals gut aufgestellt war, wir sind seit 1996 im Web präsent. Aber ich muss zugeben, dass ich unseren Online-Auftritt vor meiner Zeit in England nicht wirklich wahrgenommen hatte. Ein Grund war, dass die Online-Redaktion ganz woanders untergebracht war als der Rest des Teams – zwischenzeitlich sogar mal in einem anderen Gebäude. Mein Ziel war daher von Anfang an, die Redaktionen zusammenzuführen. Paradoxerweise war es als Online- Chef sozusagen mein Ziel, die Online-Redaktion aufzulösen. Das habe ich dann auch getan. Viele Redakteurinnen und Redakteure von damals sind bis heute bei uns geblieben – aber eben nicht als „Onliner“, sondern als Redakteure, die zu ihren speziellen Fachgebieten arbeiten. Was zählt ist der Inhalt eines Artikels und nicht, wo er erscheint. Wir haben heute beim „Tagesspiegel“ keine Trennung mehr zwischen Print und Online. Wir haben einen integrierten „Newsroom“, in dem alle als Mitglieder der Redaktion gemeinsam arbeiten, zum Beispiel auch Social-Media- und Community Manager.

wir: 2017 haben Sie die Leitung des Online-Bereichs weitergegeben und sich dem Projekt „Tagesspiegel Leute“ zugewandt. Was verbirgt sich dahinter?

Markus Hesselmann: „Tagesspiegel Leute“ ist unser lokales Newsletter-Projekt. Wir haben 12 Newsletter – jeden für einen Berliner Bezirk. Wir bieten unseren Leserinnen und Lesern wöchentliche News aus ihrem Kiez im E-Mail-Postfach. Für mich ist das ein sehr spannendes Projekt. Zum einen formal: Es handelt sich um ein digitales Produkt, das aber Dinge bietet, die man aus Print kennt. Es ist wie eine kleine Zeitung und ein sehr persönliches Produkt, das in einem regelmäßigen Rhythmus im Briefkasten landet. Für mich bietet sich dabei also gewissermaßen wieder die Chance des „klassischen Blattmachens“. Zum anderen bietet sich die Möglichkeit, unsere Lokalberichterstattung auf eine bessere Basis zu stellen. Früher hatte der gedruckte „Tagesspiegel“ bis zu zwölf Lokalseiten, heute sind es um die sechs. Mit dem Newsletter haben wir heute Autorinnen und Autoren für jeden Bezirk und eine Menge Platz für lokale News. Wir merken, dass das bei den Leuten ankommt und wollen dies weiter ausbauen. Bei über 130.000 Newsletter- Abonnements sind wir da inzwischen bezirksübergreifend.

„Wir haben mit heiligem Ernst autonome Seminare gehalten – eines über Fußball, eines über Popmusik“

„Wir haben mit heiligem Ernst autonome Seminare gehalten – eines über Fußball, eines über Popmusik“
Bildquelle: Miriam Klingl

wir: Wie erklären Sie sich den Erfolg solcher Newsletter?

Markus Hesselmann: Ich denke, heute steuern immer weniger Menschen bewusst Webseiten an und suchen aktiv nach Informationen. Durch soziale Medien wie Facebook oder Twitter haben wir uns daran gewöhnt, dass die Nachrichten über Empfehlungen von Freunden und Bekannten zu uns kommen. An diese Lesegewohnheit knüpfen die Newsletter an: In der alltäglichen Flut an Informationen bieten sie ausgewählte Nachrichten. Dazu kommt natürlich, dass man online in der Regel wenig Informationen über Lokales bekommt. Wir berichten in den Newslettern ja wirklich auf Bezirksebene. Die Politikerinnen und Politiker in den Bezirksversammlungen sind zum Teil ziemlich überrascht, dass man ihnen plötzlich wieder so auf die Finger schaut. Die meisten finden das aber gut.

wir: Auch die politische Landschaft in Deutschland hat sich in den letzten Jahren verändert. Was ist für Sie zeitgemäßer Journalismus?

Markus Hesselmann: Für mich hat der Journalismus in den letzten Jahren eine neue Funktion bekommen. Uns kommt jetzt die Rolle zu, die Politik nicht nur kritisch zu begleiten, sondern auch vernünftige gesellschaftliche Debatten anzustoßen und diese zu moderieren und weiterzuentwickeln. Guter Journalismus muss heute ein Debattenforum sein und den demokratischen Diskurs fördern. Das ist aber auch eine Gratwanderung.

wir: Warum?

Markus Hesselmann: Es gibt Leute, die haben das Gefühl: Medien und Politik machen gemeinsame Sache. Diesem Gefühl müssen wir entgegenwirken und uns ganz klar auf unsere kritische Funktion besinnen. Aber wir dürfen uns auch nicht zu einem bloßen „Politikbashing“ verleiten lassen. Wenn wir nur auf die Politik schimpfen, dann tragen wir am Ende zur Demokratieverdrossenheit bei. Wir müssen also die Politik kritisch begleiten – aber den Gedanken der Politik als solchen, des öffentlichen Diskurs als solchen, den müssen wir fördern.

wir: Merkt man die Veränderung der politischen Landschaft auch auf Bezirksebene?

Markus Hesselmann: Natürlich. Auch in einigen Bezirksversammlungen sitzt heute die AfD. Ich muss mir ganz genau überlegen, wie ich damit umgehe. Ich kann das Thema nicht einfach ignorieren, schließlich haben Mitglieder dieser Partei demokratisch legitimierte Ämter und Mandate. Auf der anderen Seite will ich nicht dazu beitragen, rechte Parolen zu verbreiten. Oder etwa Aufmerksamkeit auf Anfragen der AfD lenken, die einen einzigen Zweck befolgen, nämlich Krawall zu machen. Man muss die Strategie dahinter analysieren, – und immer auch Gegenentwürfe zu deren Sprache bringen. Und mir sind positive Gegenbeispiele ganz wichtig. Es gibt etwa beim Thema Unterkünfte für Geflüchtete in den Berliner Bezirken viele private Initiativen, die richtig gute Arbeit leisten. Solche positiven Beispiele gehen im derzeitigen Diskurs oft unter. Uns ist es wichtig, sie sichtbar zu machen.

wir: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem alten Institut und wissen Sie, was die Publizistik heute macht?

Markus Hesselmann: Ich habe zweimal Praxisseminare an der Freien Universität gegeben, die mir sehr großen Spaß gemacht haben. Das eine war im Jahr 2006, das andere 2011. In diesen fünf Jahren habe ich einen unglaublichen Wandel festgestellt. 2006 war für viele Studierende noch ganz klar, dass sie Journalistinnen und Journalisten werden wollen. 2011 war die Situation eine ganz andere. Da hieß das Berufsziel eher „was mit Medien“ – ob das ein journalistisches Medium war, eine Stiftung oder ein Online- Startup spielte nicht mehr so eine Rolle. Wenn ich heute Vorträge oder Seminare mit jungen Menschen halte, kennen die zum Teil den „Tagesspiegel“ noch gar nicht. Das war früher anders. Ich will das gar nicht werten. Für mich ist diese Umbruchsituation eine der spannendsten Zeiten überhaupt, um Journalist zu sein. Für junge Leute, die heute Publizistik studieren, gibt es unzählige Möglichkeiten, die es zu meiner Zeit noch nicht gab. Ich bin offen und gespannt, was da alles noch kommen wird!

Das Interview führte Dennis Yücel