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Jetzt erst recht!

Als jüngste Abgeordnete wurde Terry Reintke, 30, vor drei Jahren in das Europaparlament gewählt. Die Alumna der Freien Universität über die Streitkultur in Dahlemer Seminarräumen, und wie sie Menschen für Europa begeistern möchte.

26.06.2017

Terry Reintke studierte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, heute kämpft sie im Europaparlament für mehr Gerechtigkeit.

Terry Reintke studierte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut, heute kämpft sie im Europaparlament für mehr Gerechtigkeit.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Frau Reintke, Sie sind 2014 mit gerade mal 27 Jahren in das Europäische Parlament gewählt worden. Ihr Anspruch war es, „die gesamte Gesellschaft zu verändern“. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie nach drei Jahren? Haben Sie die Politik verändert? Oder hat die Politik Sie verändert?

Terry Reintke: Beides trifft zu, die drei Jahre im Parlament haben mich verändert, zum Positiven und zum Negativen. Ich bin in meiner Arbeit viel fokussierter. Ich priorisiere mehr, suche immer den effektivsten Weg, um Dinge in Gang zu setzen. Natürlich kann man in drei Jahren nicht die ganze Welt verändern, aber ich konnte in dieser Zeit Akzente setzen und konkret politische Entscheidungen mitgestalten. Privat gesehen bin ich deshalb vielleicht nicht mehr eine so gute Freundin wie früher, weil ich als Abgeordnete viel unterwegs bin.

wir: Haben Sie erlebt, dass man mit Ihnen wegen Ihres jungen Alters im Parlament anders umgeht?

Terry Reintke: Als junge Frau ist man in der Politik immer noch ein Paradiesvogel. Das sieht man auch an den Zahlen: Nur ein Drittel des EU-Parlaments sind Frauen – und nur zwei Abgeordnete sind unter 30. Nicht, dass ich die Erfahrung der älteren Kollegen nicht zu schätzen wüsste, aber junge Menschen sind in der Politik völlig unterrepräsentiert. Da fehlt die gesunde Balance. Demokratie lebt schließlich auch von Erneuerung.

wir: Das heißt, junge Menschen sind nicht so politikverdrossen, wie ihnen häufig unterstellt wird?

Terry Reintke: Was klassische Beteiligungsmöglichkeiten angeht – Parteiarbeit oder wählen zu gehen – ist es vielleicht so, dass junge Menschen sich weniger einmischen. Für mich steht aber fest, dass das nicht heißt, dass sie grundsätzlich kein Interesse an Politik haben. An ganz vielen Stellen sehen wir, dass junge Menschen sich in politischen Bewegungen oder lokalen Initiativen engagieren. Gleichzeitig ist es aber auch eine Aufforderung an alle Politikerinnen und Politiker: Junge Menschen zu beteiligen darf nicht damit aufhören, dass sie mal bei einer Diskussion dabei sind und eine Empfehlung abgeben dürfen.

wir: Seit Ihrer Jugend sind Sie politisch aktiv. Erinnern Sie sich an Ihren politischen Erweckungsmoment?

Terry Reintke: Eine Sache, die mich sehr stark politisiert hat, war der Irak-Krieg nach dem 11. September 2001. Da war ich 15 Jahre alt, bin viel zu Demonstrationen gegangen und habe auch selbst welche organisiert. Außerdem sollte in der Nähe meiner Heimatstadt Gelsenkirchen ein großes Kohlekraftwerk gebaut werden, gegen das ich mich eingesetzt habe. Ich war dann bei der Grünen Jugend aktiv, erst auf Bundesebene, schließlich auf europäischer Ebene.

wir: Welches Rüstzeug muss man haben, um in der Politik zu arbeiten?

Terry Reintke: In erster Linie braucht man eine große Leidenschaft für das, was man tut. Eine der größten Gefahren für die Demokratie ist, wenn sich Politiker nicht mehr als Akteure, sondern als Verwaltungsbeamte wahrnehmen. Die zweite Sache, die im Politikerleben hilft, ist hart aber sachlich miteinander streiten zu können. Da fühle ich mich wegen meines Studium an der Freien Universität gut gerüstet. Harte Angriffe nicht persönlich zu nehmen, das lernt man in der Politikwissenschaft sehr gut, gerade am Otto-Suhr-Institut (OSI). Ich habe natürlich auch inhaltlich sehr viel gelernt, aber diese Art zu streiten, abzuwägen oder bewusst in bestimmte Konflikte zu gehen, ist vielleicht das Wertvollste, was ich hier im Studium mitgenommen habe.

wir: Das klingt, als wurde in den Seminaren heftig diskutiert?

Terry Reintke: Ja, ich hatte schon viele kontroverse Seminare, zum Beispiel zu feministischer Theorie. Da gab es viele intensive Streitgespräche zur Frauenquote: Ist das eigentlich demokratisch? Das ist heute mein Politikbereich und da fühle ich mich sehr gut gewappnet für Diskussionen. Aber eigentlich war schon mein Erstsemesterkolloqium sehr prägend. Da habe ich angefangen, Dinge überhaupt in Frage zu stellen. In der Schule war das immer so: Man liest einen Text oder Artikel und nimmt die Meinung der Autorin oder des Autors erst einmal so hin. Als ich dann ans OSI gekommen bin, war das ganz anders. Da haben wir einen Text gelesen und 15 Leute zeigen auf und stellen die Grundannahmen infrage, auf denen der Autor seine Meinung gebildet hat. Das hat mir ziemlich imponiert.

wir: Gab es für Sie einen bestimmten Grund, warum Sie zum Studium nach Berlin und an die Freie Universität gekommen waren?

Terry Reintke: Das OSI gilt als wild und streitbar und ist bekannt für eine sehr politische Studierendenschaft. Das waren schon Beweggründe. Und natürlich die Stadt Berlin.

wir: Ins Ausland sind Sie dann während Ihres Studiums aber doch gegangen ...

Terry Reintke: … ja, ich habe 2008/2009 zwei Semester in Edinburgh studiert. Dort bin ich auch zur Europapolitik gekommen. Ich wollte mich auch in Schottland politisch engagieren, habe zuerst den Kontakt zur schottischen Grünen Jugend gesucht, aber auch viel mit anderen jungen Menschen aus Europa diskutiert. Das war ein Punkt, an dem ich gemerkt habe: Wir kommen zwar alle aus anderen Ländern und haben unterschiedliche Lebensläufe, aber wir haben eine ähnliche Vorstellung davon, was sich politisch ändern muss.

wir: Schottland hatte beim Brexit-Referendum im vergangenen Jahr mehrheitlich gegen den EU-Ausstieg gestimmt. Auch Sie haben sich leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU stark gemacht und besonders junge Menschen zur Wahl aufgerufen. Der Brexit kam trotzdem. Wie gehen Sie mit solchen Niederlagen um?

Terry Reintke: Der 24. Juni 2016 wird als ganz schwarzer Tag in meiner Erinnerung bleiben. Wir haben die Auswertungen in Brüssel mitverfolgt, bis in die Nacht hatten wir nicht mit diesem Ergebnis gerechnet. Aber das gehört zum Politiker-Dasein: Du kriegst eins auf die Nase, dann stehst du wieder auf. Man muss lernen, mit Niederlagen umzugehen, Selbstkritik zu üben und weiterzumachen. Sonst kann man nicht erfolgreich Dinge verändern. 

Politikerin Reintke: "Harte Angriffe nicht persönlich zu nehmen, das lernt man in der Politikwissenschaft sehr gut."

Politikerin Reintke: "Harte Angriffe nicht persönlich zu nehmen, das lernt man in der Politikwissenschaft sehr gut."
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

wir: Im Europäischen Parlament setzen Sie sich für die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Flüchtlingen ein. Macht es Sie nicht wütend, wenn Autokraten wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei oder Ungarns Regierungschef Viktor Orban Bürgerrechte und Pluralismus immer weiter einschränken?

Terry Reintke: Ja, mich macht das manchmal rasend vor Wut. Ich versuche, diese Wut aber immer in etwas Konstruktives umzuwandeln. Nach dem Motto: Jetzt erst recht! Ich bin seit vielen Jahren regelmäßig in der Türkei und habe viele Freundinnen und Freunde dort, die in Menschenrechtsorganisationen aktiv sind. Und die riskieren täglich ihre Freiheit, einige von ihnen sind deshalb schon im Gefängnis. Ich frage mich dann: Was für ein Privileg habe ich eigentlich, dass ich mich politisch engagieren kann, ohne mein Leben in Gefahr zu bringen? Wenn ich mich nicht einsetze und den Kopf in den Sand stecke, wird die Situation nur noch schlimmer. Das treibt mich dann immer wieder an.

wir: Können Sie uns aus Ihren drei Jahren im Parlament ein Beispiel geben, bei dem Ihre Arbeit besonders Früchte getragen hat?

Terry Reintke: Ein Thema, das für mich im letzten Jahr eine sehr große Rolle gespielt hat, ist das neue Abtreibungsgesetz in Polen. Es gab einen Gesetzentwurf der polnischen Regierung, nach dem Abtreibungen verboten sein sollten, selbst in Fällen von Vergewaltigung oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Ich habe letztes Jahr sehr lange darauf hingearbeitet, dass wir eine Debatte dazu im Parlament in Straßburg führen. Als es so weit war, haben mein Team und ich für die Debatte 20 Aktivistinnen aus Polen eingeladen und eine politische Aktion veranstaltet. Wir haben das Thema in Polen und vielen anderen Ländern in die Abendnachrichten gebracht. Das war ein großer Erfolg. Endlich war der Gesetzentwurf ein großes Thema! Die Frauen konnten ihre Forderungen formulieren und haben Gehör bekommen. Und da habe ich gewusst: Deshalb machst du diesen Job. Nach starken Protesten hat Polens Parlament die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes dann auch im letzten Herbst abgelehnt.

wir: Welchen Rat geben Sie jungen Menschen mit auf den Weg, die eine politische Karriere wie Ihre anstreben?

Terry Reintke: Sie sollten für sich herausfinden, was sie bewegt, worin ihre Leidenschaft liegt, was sie emotionalisiert. Ist es die Flüchtlings- oder Frauenpolitik, die Energiewende, oder sind es die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland? Das sollte man für sich herausfinden. Dann kann man auch Durststrecken und Frustrationen überstehen, die es ja im Studium wie auch in der Politik gibt. Ich treffe oft sehr ehrgeizige junge Menschen, die mich fragen: „Soll ich lieber viele Praktika machen oder viele Sprachen lernen?“ Und ich sage dann: „Hey, du musst wissen, worauf du Lust hast, wofür du brennst. Das ist das Wichtigste.“ Wenn sich bei mir jemand bewirbt, dann ist mir die Leidenschaft für eine politische Sache wichtiger als ein Jahr im Lebenslauf, bei dem ich vielleicht nicht so genau weiß, was die Person eigentlich gemacht hat.

wir: Als junge Abgeordnete haben Sie von Ihrer Partei einen hohen Vertrauensvorschuss bekommen. Stehen Sie nicht selbst auch ständig unter Druck?

Terry Reintke: Ja, und mittlerweile habe ich für mich Regeln, um mit dem Druck umzugehen. Die erste: Mindestens ein Wochenende im Monat halte ich mir frei. Da mache ich nur schöne Sachen und treffe Menschen, die mir wichtig sind und die mich „erden“. Und die zweite Regel ist, dass ich einmal pro Woche in meiner politischen Arbeit etwas tue, das mir richtig Spaß macht. Zum Beispiel ein Treffen mit Schülerinnen und Schülern zum Thema „Junge Frauen in der Politik“. Wenn man nur von Ausschuss zu Ausschuss und Sitzung zu Sitzung hechelt, ermüdet man einfach.

wir: Gab es während Ihres Studiums an der Freien Universität auch außerhalb der Seminarräume Orte der politischen Diskussionen?

Terry Reintke: Ja, ich war auch in der Hochschulpolitik aktiv. Nicht im Studierendenparlament, aber in der Fachschaft des Otto-Suhr-Instituts. Ich war auch so manche Stunde im „Roten Café“ in der Harnackstraße 1. Für mich gehörte die Hochschulpolitik zum Studium dazu, rückblickend war das sehr prägend für mein Politikverständnis. 2007 bin ich dann auch mit drei Kommilitoninnen und Kommilitonen zusammengezogen. Wir sind oft gemeinsam zu Demonstrationen gegangen und haben uns engagiert. Theorie und Praxis, das gehörte schon damals zusammen, das war für uns immer klar.

wir: Als ehemalige Studentin der Politikwissenschaft, die heute in der Praxis arbeitet: Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, das Ihnen am OSI gefehlt hat?

Terry Reintke: Vielleicht, dass ich nicht einmal mit einem Seminar im Bundestag oder einem Ministerium in Berlin war – also in einer Institution, in der das passiert, was man an der Uni theoretisch diskutiert. Ich würde mir wünschen, dass solche Besuche Teil des Studiums sind, um vor Ort zu erleben, wie Politik und Macht funktionieren, wie beides ausgehandelt wird.

wir: Was die Funktionsweise der Europäischen Union betrifft, üben Sie selbst gerne Kritik …

Terry Reintke: … ja und ich finde, auch pro-europäische Politikerinnen und Politiker müssen öfter sagen, was politisch falsch läuft in der Europäischen Union. Die soziale Ungleichheit in Europa etwa ist ein Thema, das mich sehr umtreibt. Und man darf auch sagen: Es sind Fehler gemacht worden in der Architektur der Europäischen Union. Es gibt Menschen, die profitieren mehr von der EU als andere. Das müssen wir ändern – gemeinsam! Gerade als Pro-Europäer ist es wichtig, über Gerechtigkeit zu streiten und die Menschen für europäische Themen zu begeistern. Das geht aber nur, wenn sich die Strukturen und die oft unverständliche Sprache ändern.

wir: Was meinen Sie damit?

Terry Reintke: Diese endlose Substantivierung! Ein Beispiel: Ich arbeite gerade an der „Revision der Arbeitnehmerentsenderichtlinie“, mit der die arbeitsrechtliche Gleichstellung in europäischen Staaten geregelt wird. Bei einer Podiumsdiskussion in einer Schule hätte ich mit diesem Begriff 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler verloren. Mit so einer Sprache kann man Jugendliche nicht begeistern. Andere Themen interessieren junge Menschen mehr. Da finde ich es wichtig, kontroverse, streitbare Aussagen zu machen, zum Beispiel, dass es nicht zu fassen ist, dass Edward Snowden in Europa kein Asyl bekommt. Das interessiert junge Menschen, so eine Aussage geht bei Jugendlichen auch über ein Grundrauschen hinaus. Die wollen dann wissen, was wir in der EU für den Asylantrag tun, welche Möglichkeiten wir dabei haben, wie in Europa Entscheidungen gefällt werden.

wir: Sie sind mit dem Superlativ „die Jüngste“ ins EU-Parlament gegangen. Mit welchem Superlativ möchten Sie am Ende Ihrer Karriere Ihre politische Arbeit verknüpft wissen?

Terry Reintke: Wenn es um meine politische Arbeit geht, dann als „die Erfolgreichste“, dass sich wirklich Dinge nach vorne bewegt haben. Aber wenn es um mich als Menschen geht, dann möchte ich als leidenschaftlich und neugierig in Erinnerung bleiben. Wenn ich mit diesen drei Superlativen in Verbindung gebracht werde, dann habe ich ein sehr erfolgreiches parlamentarisches Leben gehabt.

wir: Dafür wünschen wir Ihnen viel Erfolg! Vielen Dank für das Gespräch.


Die Jüngste

Terry Reintke, 30, stammt aus Gelsenkirchen und studierte von 2006 bis 2012 an der Freien Universität Berlin, in Edinburgh und Sarajevo Politikwissenschaft mit einem Fokus auf Frauen- und Genderthemen. 2012 schrieb sie ihre Diplomarbeit zu den Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf die bosnische Nachkriegsgesellschaft und arbeitete im Anschluss zwei Jahre im Deutschen Bundestag. Als Abgeordnete des Europaparlaments ist sie seit 2014 viel auf Reisen – und setzt statt auf Taxi und Hotel auf den öffentlichen Nahverkehr und das Gästebett bei Freundinnen und Freunden.