Als Berlin deutsch-deutsche Geschichte schrieb
Die Freie Universität ehrte auch 2025 wieder goldene und silberne Promotionsjubilare. Zwei von ihnen berichten von bewegten Zeiten: Dirk von Einsiedel erlebte als Physikstudent Mauerbau und Kennedy-Besuch in der geteilten Stadt. Die Rheinländerin Anja Schwarz studierte in der Zeit der Studierendenstreiks und des Mauerfalls Tiermedizin.
Dr. Dirk von Einsiedel, Physiker, Goldene Promotion
„Die Mauer ist gestern Abend gefallen – und ihr sitzt hier in der Schule, als wäre nichts passiert?“, so begrüßte Dirk von Einsiedel am Morgen des 10. November 1989 seine 10. Klasse an dem Dahlemer Gymnasium der Königin-Luise-Stiftung. „Physikunterricht? Daran war nicht zu denken – es wurde doch Geschichte geschrieben: Ich machte mich mit meinen Schülern auf den Weg zum Brandenburger Tor; ständig wurden wir mehr.“
Dirk von Einsiedel, heute 85 Jahre alt, goldener Physik-Promovend der Freien Universität, sagt rückblickend: „Ich habe immer an eine Wiedervereinigung geglaubt und fühlte einfach nur große Freude.“
Die Familie wurde zwangsenteignet
Das mag auch an seiner bewegenden Geschichte liegen: 1940 in die sächsische Wolkenburger Linie des alten Grafengeschlechts von Einsiedel hineingeboren, musste er 1945 als kleiner Junge miterleben, wie seine Familie im Zuge der Bodenreform in der sowjetisch besetzen Zone enteignet wurde und sofort Schloss Wolkenburg verlassen musste.
Der junge Dirk wuchs in der Nachkriegszeit zunächst in Minden/ Westfalen, später in West-Berlin auf. Dort begann er 1959 an der Freien Universität ein Physikstudium – „Es gab damals gerade mal 6000 Studierende an der FU – heute unvorstellbar“, sagt von Einsiedel und lacht. Obwohl Mathe und Physik Lieblingsfächer waren, entpuppte sich das Studium als schwerer Brocken: „Mit meiner Schulphysik- und -mathematik hatte das wenig zu tun. Ich musste mich durchbeißen.“
Fackellauf für Professor Grotemeyer
Er hielt durch. Motiviert haben ihn Persönlichkeiten wie der Mathematikprofessor Karl Peter Grotemeyer, der unter den Studierenden großes Ansehen genoss. „Als dieser kurz davor war, den Ruf an eine andere Universität anzunehmen, haben wir Studierenden einen Fackellauf zu seinem Wohnhaus organisiert, um ihn zum Bleiben zu bewegen.“ Grotemeyer blieb tatsächlich. Der damalige Direktor des Mathematischen Instituts der FU wechselte erst 1969 an die Uni Bielefeld.
Die Physik wurde zeitweilig ein wenig zur Nebensache, als von Einsiedel miterlebte, wie 1961 brutal Tatsachen geschaffen, in Berlin Stacheldraht ausgerollt und die Mauer gebaut wurde. Von Einsiedel unterstützte Fluchthelfer, was für den jungen Mann brenzlig hätte werden können.
Mit Kennedy vor dem Henry-Ford-Bau
Zwei Jahre später stellte der Student sich mit Kommilitonen die ganze Nacht lang an, um US-Präsident John F. Kennedy zu sehen, der im Rahmen seines Berlin-Besuchs auch vor dem Henry-Ford-Bau auf dem Campus in Dahlem eine Rede hielt. „Sein Einstehen für Menschenrechte und Demokratie – das hat mich sehr beeindruckt. Umso mehr, wenn man erlebt, wie die USA jetzt regiert werden.“
Nach dem Vordiplom an der Freien Universität folgten Jahre in München und Marburg, wo er sein Diplom in theoretischer Physik ablegte. Dirk von Einsiedel kehrte an die FU zurück und promovierte in Experimentalphysik über Quadrupolwechselwirkung in Phasenübergängen von Ferroelektrika.
Von der Wissenschaft in den Schulunterricht
Eine Wissenschaftlerkarriere wollte er nicht einschlagen: „Ich habe einfach nie zu den Wissenschaftlern gehört, die auch nach Feierabend kein anderes Thema als ihre Forschung kennen“, sagt er rückblickend. „Damals wurden händeringend Lehrer gesucht, also dachte ich: Warum nicht?“
Er habe den Sprung ins Lehramt als Quereinsteiger mit nachgeholtem Referendariat nie bereut, sagt von Einsiedel mit Nachdruck. Und fügt schmunzelnd hinzu: „Naja, vielleicht während meiner ersten Wochen an der Königin-Luise-Stiftung. Da haben wir noch sehr miteinander gefremdelt, der Schulbetrieb und ich, denn ich hatte nie Pädagogik oder Fachdidaktik studiert. Ich fürchte, ich habe meine Schüler am Anfang etwas überfordert.“ Später wurde er Klassen- und Vertrauenslehrer, und unterrichtete neben Mathe und Physik auch das neu geschaffenen Fach Informatik.
Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. h.c. Günter M. Ziegler überreicht Dr. Graf von Einsiedel die Goldene Promotionsurkunde
Bildquelle: Patricia Kalisch
Mit Mitte 60 noch einmal Student
Nach der Pensionierung wollte er auf keinen Fall zu Hause herumsitzen. Seine Frau, Lehrerin wie er an derselben Schule, arbeitete damals noch. Also kehrte der Vater von drei Kindern und heute Großvater von sechs Enkeln zum zweiten Mal an die FU zurück – als Bachelor-Student der Biologie. So saß der Mittsechziger mit großer Begeisterung ab 2005 zusammen mit Zwanzigjährigen in Vorlesungen und Übungen und zog wieder den Laborkittel an. Er erinnert sich: „Das Schöne war: Meine Kommilitonen, die locker meine Kinder hätten sein können, und ich sind uns absolut auf Augenhöhe begegnet.“
Dr. Anja Schwarz, Veterinärmedizinerin, Silberne Promotion
Auch Anja Schwarz, die vor 25 Jahren in Veterinärmedizin promoviert wurde, hat Berlin und die Freie Universität in bewegten Zeiten erlebt. 1987 zog sie zum Studium nach Berlin. 1988/89 kam es, ausgehend von der Freien Universität, bundesweit zum sogenannten „UniMut“-Streik, mit Besetzungen von Instituten und Unigebäuden. Die Freie Universität wurde für fast ein ganzes Semester – bis zum 25. Februar 1989 – von „Besetzungsräten“ verwaltet und zur sogenannten „Befreiten Uni“. Schwarz und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen protestierten mit – gegen Sparmaßnahmen und konservative Bildungspolitik. Bei den Demos ebenfalls dabei: Die gutmütige Institutskuh Franziska, die die Studierenden kurzerhand mit auf die Straße nahmen – und die sich womöglich über den ungewohnten Auslauf freute.
Die bewegten 80er-Jahre in Berlin
„Ein wirklich prägendes Erlebnis, viel stärker als alle Studierendenstreiks, war aber natürlich der Mauerfall. Es waren so aufregende Zeiten, die mich in den Jahren danach umso stärker mit der Stadt verbunden haben“, sagt die 61-Jährige, die in Voerde, einem Städtchen im Niederrheingebiet in Nordrhein-Westfalen aufwuchs.
Nach einer Ausbildung zur Chemisch-Technischen-Assistentin konnte sie das langersehnte Studium der Tiermedizin beginnen. „Ich wollte unbedingt nach Berlin. Dass ich zunächst in der alten Heimat eine Ausbildung absolviert habe, um die Wartezeit auf einen der sehr begehrten Veterinärmedizinstudienplätze zu überbrücken, war aber sicherlich eine sehr gute Entscheidung“, sagt Anja Schwarz, die heute den Bereich Medical Affairs Germany bei dem weltweit tätigen Biopharma Unternehmen UCB leitet, das sich auf die Erforschung, Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems und immunologische Erkrankungen spezialisiert hat.
Von der Tiermedizin zur humanmedizinischen Forschung
Ihre praktischen Chemielaborerfahrungen hätten ihr im Grundstudium sehr geholfen und auch im späteren Berufsleben so manche Tür geöffnet, sagt Schwarz. „Oft fand man meine Bewerbung vor allem deshalb interessant, nicht wegen meiner Doktorarbeit“, berichtet sie und lacht.
Als Tierärztin hat sie indes nie gearbeitet. „Stellen waren damals dünn gesät, und ich wollte gerne in Berlin bleiben“, betont sie. Nach dem Studium erfüllte sie sich zunächst einen Traum und verbrachte 6 Monate in Brasilien, Argentinien und Chile. Vor allem Brasilien hat es ihr angetan – „dafür habe ich sogar Portugiesisch gelernt.“ Für ihre spätere Doktorarbeit orientierte sie sich fachlich um und arbeitete an der Charité, später am Robert-Koch-Institut, in der humanmedizinischen Grundlagenforschung. Die Arbeit schrieb sie über Blutdruckregulierung bei transgenen Mäusen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Günter M. Ziegler gratuliert Dr. Schwarz zur Silbernen Promotion
Bildquelle: Patricia Kalisch
Zurück ins Rheinland
„Das hat mir wirklich großen Spaß gemacht. Leider waren es immer nur befristete Wissenschaftlerstellen, wie meist üblich in der Forschung“, sagt Schwarz. „Deshalb habe ich mich irgendwann für die Wirtschaft entschieden.“ Seither hat sie für verschiedene Pharmaunternehmen gearbeitet. Verließ dafür 2009 sogar ihr geliebtes Berlin, zog erst nach München, dann zurück in die alte Heimat: Anja Schwarz lebt in Köln und am Niederrhein. So schließt sich ein Kreis. Aus der Welt ist Berlin damit natürlich nicht: In der Wohnung von Freunden in Berlin-Kreuzberg ist immer ein Gästebett für sie frei.
Mareike Knoke





