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Autobahnen, Pendeltrips und Langstreckenflüge

Wenn Tiere auf Wanderschaft gehen – Zu Wasser, zu Lande und in der Luft

09.12.2010

Wenn Tiere auf Wanderschaft gehen – Zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

Wenn Tiere auf Wanderschaft gehen – Zu Wasser, zu Lande und in der Luft.
Bildquelle: iStockphoto/DavidCallan deutsch.istockphoto.com/stock-photo-10270243-spotted-hyena-in-kruger-park-south-africa.php?st=54d40fb

Tüpfelhyänen bewegen sich in ihren Territorien auf sogenannten „Hyänen-Autobahnen“.

Tüpfelhyänen bewegen sich in ihren Territorien auf sogenannten „Hyänen-Autobahnen“.
Bildquelle: Höner/Wachter

Gnus sind typische Beutetiere der Tüpfelhyänen.

Gnus sind typische Beutetiere der Tüpfelhyänen.
Bildquelle: istockphoto/Paul Banton

Tüpfelhyänen sind wahre Dauerläufer: Ein säugendes, niederrangiges Weibchen legt bei der Nahrungssuche jährlich bis zu 4.000 Kilometer zurück.

Tüpfelhyänen sind wahre Dauerläufer: Ein säugendes, niederrangiges Weibchen legt bei der Nahrungssuche jährlich bis zu 4.000 Kilometer zurück.
Bildquelle: Höner/Wachter

Bei den Insekten ist das Zugverhalten des Monarchfalters am besten untersucht.

Bei den Insekten ist das Zugverhalten des Monarchfalters am besten untersucht.
Bildquelle: istockphoto.com/GomezDavid

Das größte lebende Säugetier tut es, eins der kleinsten ebenso. Tiere wandern an Land, zu Wasser und in der Luft. Ob Buckelwal oder Flohkrebs, ob Tüpfelhyäne oder Monarchfalter: zu Tausenden verlassen Tierarten heimische Breiten, um in entfernte Gebiete aufzubrechen. Dabei sind sie zu sensationellen sinnesphysiologischen Leistungen fähig. Sie rufen Verhaltensprogramme auf, die teilweise genetisch festgelegt sind und durch Erfahrungen erweitert werden. Hyänen ziehen in Gebiete mit üppigerer Nahrung, Monarchfalter suchen ihr Winterquartier auf, Pinguine finden am Ende der Reise den Partner ihres Lebens. Gründe gibt es viele, lange und kraftraubende Wanderungen auf sich zu nehmen. Wenngleich große Tierwanderungen beeindruckende Spektakel sind, so sind sie auch bedroht durch Klimawandel und menschliche Einflüsse.

Das schwarz gepunktete Fell, der Gang und die Statur mit dem zu den mächtigen Schulterblättern ansteigenden Rücken sind unverwechselbar. Durch ein Fernglas sieht Professor Heribert Hofer die Tüpfelhyäne durch das kniehohe Savannengras traben. Rechts ragt ein fast mannshoher Termitenhügel gen Himmel, vereinzelt spannen Schirm-Akazien ihre weiten, flachen Baumkronen über den Boden. Am Termitenhügel schlägt die Hyäne eine Linkskurve ein. Das Tier hat an der rechten Schulter eine Doppelreihe regelmäßiger, ovaler Flecken, die Beine sind bis zur Pfote unregelmäßig gepunktet. Jede Tüpfelhyäne hat ein anderes, ganz individuelles Fellmuster – wie wir Menschen den Fingerabdruck. Heribert Hofer ist sich sicher: Das auf ihn zulaufende Tier muss „I027“ sein, ein säugendes Weibchen aus dem Isiaka-Clan. Während der ersten drei Jahre seiner 1987 begonnenen Forschung im Serengeti Nationalpark in Tansania hat er die Muster von fast 400 Tieren zu unterscheiden gelernt.

23 Jahre Forschung, 1.500 Tiere, 6 Generationen

23 Jahre später kennen er und seine Kollegen mehr als 1.500 Tiere aus bis zu sechs Generationen. Das erlaubt ihm bei Beobachtungen im Feld, die Hyänen auf einen Blick einem bestimmten Familienverbund, den Clans, zuzuordnen. Tüpfelhyäne „I027“ kommt gerade von einem Pendeltrip zurück. Heribert Hofer, seit 2000 Professor für Interdisziplinäre Zoo- und Wildtierkunde der Freien Universität Berlin und Direktor des Leibniz- Instituts für Zoo- und Wildtierforschung, hat gemeinsam mit seiner Kollegin und Frau Marion East viel Zeit in der Serengeti verbracht. Als erstes Forscherteam haben sie im Freiland das Pendelverhalten der Tüpfelhyänen entdeckt und beschrieben.

„Die Leistung der Tüpfelhyänen ist enorm. Ein säugendes, niederrangiges Weibchen legt im Jahr 3.000 bis 4.000 Kilometer zurück, um in nahrungsreiche Gebiete zu wandern, in denen saisonal Gnu-Herden grasen. Das ist das Dreifache der Strecke, die Gnu-Herden bei ihrer Wanderung durch die Serengeti zurücklegen“, sagt Hofer. Dieses Wanderverhalten der Tüpfelhyänen ist ungewöhnlich, aber höchst beeindruckend. Vielen ist nicht bekannt, dass Hyänen überhaupt solch weite Strecken zurücklegen und deshalb vielen anderen wandernden Tierarten in nichts nach stehen. „Ganz im Gegenteil“, betont Hofer, „Hyänen zeigen dabei ein ganz ausgeklügeltes Sozialverhalten und sind beeindruckend flexibel.“ In der Serengeti haben die hervorragenden Jäger ein definiertes Territorium, das sie verteidigen. Doch nur etwa drei Monate im Jahr tummeln sich dort so viele Beutetiere, dass alle Clanmitglieder davon satt werden. Den Rest des Jahres gehen die Hyänen der Serengeti auf Pendeltrips und folgen den wandernden Herden von Gnus, Zebras oder Thomson-Gazellen.

70 Kilometer in einer Nacht

Niederrangige Weibchen lassen ihre Jungen im Gemeinschaftsbau zurück und laufen nachts bis zu 70 Kilometer. „Zu solchen drei bis vier Tage andauernden Pendeltrips brechen säugende Weibchen etwa 45 bis 50 Mal im Jahr auf. Das summiert sich auf bis zu 4.000 Kilometer, die sie zurücklegen“, fasst Heribert Hofer zusammen. Die große Gnu-Wanderung von bis zu einer Million Weißbartgnus führt je nach Regenfall von der Serengeti aus in Richtung Norden ins südliche Kenia. Da die Niederschlagsmenge örtlich und zeitlich variiert und nicht immer die gleichen Weidegründe für Gnus attraktiv sind, ist für Hyänen der Aufenthaltsort ihrer Beutetiere nicht genau vorherzusehen. „Die Gnu-Herden verteilen sich auf einer Fläche so groß wie die Schweiz“, sagt Hofer.

Das bedeutet für die Hyänen, dass sie ihre Beutetiere suchen müssen. Wie sie sich dabei vom heimischen Bau aus orientieren, ist höchst komplex und nicht vollständig erforscht. „Wir vermuten“, so Hofer, „dass es eine Mischung aus geruchlicher und akustischer Orientierung ist, und die Tüpfelhyänen zudem eine Vorstellung im Sinne einer Landkarte haben. Sie bewegen sich im eigenen Territorium und in dem angrenzender Clans auf sogenannten „Hyänen-Autobahnen“, vergleicht er die Wege durch das Savannengras. Auch Tüpfelhyäne „I027“ ist auf ihrem Pendeltrip einer solchen „Autobahn-Route“ gefolgt. Diese Routen sind bekannt und werden von allen Mitgliedern des Clans benutzt. Allerdings führen sie auch durch fremde Territorien benachbarter Clans. „Erkennen Hyänen eine Clan-fremde Pendlerin daran, dass sie als Durchreisende zielgerichtet, schnell und ohne anzuhalten das fremde Territorium durchstreift, lassen sie sie in Ruhe“, sagt Heribert Hofer.

Kein anderes Raubtier denkt so zusammenhängend

Ein derart komplexes Territorialverhalten kennen Wissenschaftler von keinem anderen Raubtier oder Primaten. Irgendwann aber entscheiden Hyänen individuell, je nach Aufenthaltsort der Gnus, die bekannten Pendelrouten zu verlassen. Sie sind dann zwar schon im potenziellen Aufenthaltsgebiet ihrer Beutetiere, wo genau sich die Gnus aber aufhalten, wissen die Tüpfelhyänen nicht. „Sie orientieren sich dann sehr stark nach dem Gehör, denn eine muhende Gnu-Herde ist über viele Kilometer zu hören“, sagt der Zoologe.

Um nach erfolgreicher Jagd zum Gemeinschaftsbau im eigenen Territorium zurückzufinden, schlagen die Tiere wieder die frequentierten und bekannten Pendelstraßen ein. Zusätzlich orientieren sie sich an Duftspuren, die vorangegangene Hyänen hinterlassen haben. Bereits im Alter von 12 bis 18 Monaten lernen Jungtiere im Schlepptau ihrer Mutter diese bekannten Pendelstraßen kennen und speichern sie vermutlich intern ab. Bei seinen Feldstudien ist Heribert Hofer Individuen wie „I027“ tage- und nächtelang im Schritttempo hinterhergefahren, um das besondere Wanderverhalten der Tüpfelhyänen Stück für Stück aufzuklären. „Denn die hochintelligenten Hyänen haben“, so Hofer, „immer noch zu Unrecht einen schlechten Ruf.“

Das Pendelverhalten der Tüpfelhyänen aus der Serengeti ist nur ein Beispiel für die enormen Leistungen, die Tiere auf ihren Wanderungen vollbringen. Warum Tiere auf Wanderschaft gehen, ist in den meisten Fällen bekannt: In den Zielgebieten herrschen ein üppigere Nahrungsangebote, günstigere klimatische Bedingungen – oder die Wanderer treffen dort auf Artgenossen, mit denen sie sich fortpflanzen. Laut Weltregister wandernder Tierarten (GROMS – Global Register of Migratory Species) gelten zwischen 5.000 und 10.000 Arten als wandernd, darunter 4.500 Wirbeltierarten, die hin und zurück migrieren. Vogelwanderungen sind vergleichsweise gut untersucht. Der Kenntnisstand über ziehende Fledermaus-, Fisch- oder Insektenarten ist dagegen lückenhaft.

Mit dem Leichtflugzeug auf Falterforschung

Im Reich der Insekten ist der Zug des Monarchfalters am besten untersucht. Rekordverdächtig ist er obendrein. Einem orange-braunen Exemplar des Schmetterlings haben Wissenschaftler im Rahmen des Monarch-Forschungsprojektes der Universität von Kansas vor einigen Jahren einen kleinen Radio-Transmitter an den Unterleib geklebt. Obwohl das elektronische Päckchen halb so schwer war wie der Schmetterling selbst, konnte der Falter ohne Einschränkungen fliegen. Ihm folgten die Wissenschaftler teilweise per Leichtflugzeug und erhielten erstaunliche Details über seine Wanderroute.

Der Monarchfalter zieht in sein Winterquartier, wenn an den Ufern der nordamerikanischen Seenplatte die Spätsommertage kürzer und kälter werden – für bis zu 100 Millionen Monarchfalter ein Zeichen zum Aufbruch. In einer gigantischen Massenbewegung flattern dann nach und nach, in Gruppen oder einzeln, rund 40 Tonnen Biomasse durch die Lüfte. Sie überqueren fast die gesamten USA, um nach knapp zwei Monaten in ihrem Winterquartier in Zentralmexiko, den Transvulkanbergen von Michoacán, zu landen. 4.000 Kilometer fliegen die Monarchfalter in eine Richtung – nahezu punktgenau steuern sie bestimmte Nadelbäume an, die Oyameltannen. Die auf Deutsch als Heilige Tannen bezeichneten Bäume wachsen auf vulkanischen Böden bis zu 60 Meter hoch. Traubenartig lassen sich riesige Schwärme der Monarchfalter auf ihren Ästen und Stämmen nieder und besetzen sie mit Abermillionen Flügelpaaren fast bis zur Unkenntlichkeit. Bis März harren die Insekten dort aus. Weshalb sie die mehr als 4.000 Kilometer lange Reise zu genau diesen Oyameltannen auf sich nehmen, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Was Wissenschaftler aber mittlerweile recht gut verstehen ist, wie sich die Monarchen auf ihrem Transkontinentalflug orientieren. Amerikanische Wissenschaftler haben zum Orientierungsverhalten der Monarchfalter Versuche gemacht. „Sie verfrachteten die Insekten auf südlichem Kurs von der Mitte der Vereinigten Staaten an die Ostküste, ließen sie dort sofort wieder frei und beobachteten, dass die Schmetterlinge weiterhin auf Kurs gen Süden flogen“, beschreibt der Biologe Torsten Meiners vom Institut für Biologie der Freien Universität das Vorgehen der amerikanischen Kollegen. Die Monarchen verfolgten weiterhin die eingeschlagene Richtung, als hätte kein Ortwechsel stattgefunden. Ihr Kurs führte allerdings nach Florida und nicht ins mexikanische Winterquartier. „Dann ließen die Wissenschaftler den Schmetterlingen in luftigen Käfigen einige Tage am neuen Ort Zeit bevor sie sie wieder fliegen ließen“, sagt Meiners.

Monarchfalter "eichen" ihren Kompass

So konnten sich die Monarchfalter anhand von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen neu orientieren und ihren Kurs korrigieren, der sie dann ans gewünschte Ziel brachte. Der Biologe bezeichnet dies als eine Art Eichung. „Anhand der Sonne stellen sie ihren inneren Kompass auf die neue Umgebung ein“, sagt er. Eine innere Uhr kompensiert dabei den sich während des Tages verändernden Stand der Sonne. Eine weitere wichtige Rolle bei der Navigation und Orientierung spielt das Erdmagnetfeld. „So müssen sich die Schmetterlinge nicht nur auf ein Leitsystem verlassen.“ Bei bedecktem Himmel weisen polarisiertes Sonnenlicht und das Erdmagnetfeld den Weg. Vögel und Fledermäuse orientieren sich auf ihrem Zug auf ähnliche Weise. Doch ist es bei Schmetterlingen eine noch beachtlichere Leistung, wenn man ihr Nervensystem mit dem Gehirn von Vögeln oder Fledermäusen vergleicht. „Insekten haben im Gegensatz zu Wirbeltieren nur ein paar Nervenknoten als Gehirn, deshalb ist der Zug des Monarchfalters eine beachtliche Leistung und durchaus rekordverdächtig unter den Tierwanderungen“, sagt Meiners.

Die innere Uhr gibt das Signal zum Aufbruch

Bei Vögeln weiß man, dass Ihr Zugverhalten auf ererbten Programmen und angeborenen Verhaltensweisen beruht, die sie zusätzlich durch Erfahrung ergänzen können. Der Aufbruch wird genetisch gesteuert.
Ein zum Zug bereiter Vogel bekommt von seiner inneren Uhr ein Signal für den Start und zieht in die Richtung los, die ihm ein angeborenes Richtungsprogramm vorgibt. Diese ererbte Sollrichtung realisiert der Vogel mit Hilfe seiner Sonnen- und Magnetkompasse. Ob das Aufbruchverhalten bei Monarchfaltern ähnlich abläuft, ist unbekannt.

Nach circa vier Monaten in Zentralmexiko brechen die Schmetterlinge wieder gen Norden auf, Richtung große Seenplatte. Allerdings ist nicht immer gesichert, dass alle Monarchfalter die Monate in Mexiko überleben. Eine Kaltfront überraschte die Tiere 2002 mit ungünstigem, nasskaltem Wetter und tötete über 75 Prozent der beiden größten Kolonien. Solch starke Wetterschwankungen, die laut Experten zunehmen werden, könnten den Monarchfaltern mehr und mehr zum Verhängnis werden.

Auch andernorts sind große Tierwanderungen durch Auswirkungen des Klimawandels bedroht. Neben klimatischen Veränderungen führen aber auch Faktoren wie Siedlungsbau, zunehmende Bewirtschaftung von Freiflächen und die Einzäunung von Schutzgebieten dazu, dass Tiere an Land nicht mehr ungehindert wandern können.
Wissenschaftler haben die Pfade von 24 migrierenden Landsäugetieren untersucht und festgestellt, dass sechs afrikanische Arten, darunter Springbock und Säbelantilope, gar nicht mehr wandern. Auch beim Zugverhalten vieler Vögel beobachten Wissenschaftler in Verbindung mit der globalen Klimaerwärmung systematische Veränderungen: Die Zugstrecken werden kürzer, Vogelarten überwintern zunehmend öfter in ihren heimischen Brutgebieten, der Aufbruch ins Winterquartier verzögert sich, der Rückflug verfrüht sich und einige Vogelarten ändern ihre Zugrouten, um sich neue, näher gelegene Überwinterungsgebiete zu suchen.

Einige Weißstorchpopulationen fliegen nicht mehr nach Afrika, sondern überwintern in Europa. Ähnliches beobachten Forscher auch bei Nachtigallen und Mauerseglern. Diese Entwicklung vom Zugvogel zum Standvogel liegt im Trend. „Es kann sein, dass in 50 bis 100 Jahren kein einziger Zugvogel mehr Mitteleuropa verlässt. Bei vielen Gänsen, Kormoranen, Schwänen und Kranichen beobachten wir schon verkürzte Wanderstrecken“, prognostiziert Professor Peter Berthold, ehemaliger Direktor der Vogelwarte Radolfzell am Max-Planck-Institut für Ornithologie, „So haben die unverkennbaren, filigranen Flugformationen abertausender Kraniche, die von lautem Trompeten begleitet in den Herbst- und Wintermonaten gen Süden fliegen, schon einen feinen, bitteren Beigeschmack. „Auch die Nachtigall könnte in unseren Breiten bald an Weihnachten singen.“