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Auf Spurensuche bei Fontane

Uta Schürmann, 28, erkundet Räume, die von Poe, Dickens, Balzac und Fontane eingerichtet wurden

04.06.2010

Uta Schürmann interessiert sich als Literaturwissenschaftlerin für juristische Wendepunkte

Uta Schürmann interessiert sich als Literaturwissenschaftlerin für juristische Wendepunkte
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Eine Revolution erfasst das Rechtswesen Europas im 19. Jahrhundert: Ein Land nach dem anderen schafft die Folter ab; das erzwungene Geständnis verliert seine Rolle als wichtigstes Beweismittel. Es ist die Geburtstunde des Indizienprozesses, für den Spuren gesammelt und Beweise gesichert werden. Aber warum interessiert sich die Literaturwissenschaftlerin Uta Schürmann, 28, die seit Oktober 2009 an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule promoviert, für die juristische Wende?

„Die Entwicklung hin zum Indizienprozess hat enormen Einfluss auf die literarischen Erzählweisen der Zeit“, sagt sie. Autoren wie Edgar Allan Poe, Charles Dickens, Honoré de Balzac, Theodor Fontane müssen nicht mehr direkt eine Person beschreiben, um sie zu charakterisieren. Indem sie Räume entstehen lassen, in denen Protagonisten Spuren hinterlassen, erzeugen sie beim Leser ein Bild des Protagonisten. Mit solchen Spuren und mit der Liebe zum Detail beschäftigt sich Schürmann in ihrer Dissertation unter anderem. Der Arbeitstitel lautet „Das Interieur als erzählstrukturierender Handlungsort des europäischen Realismus“. In Fontanes „Stine“ etwa grübelt Waldemar, womit er sich umbringen soll – mit einem „kleinen Revolver, zierlich und mit Elfenbeingriff “ oder mit „Käpselchen“ aus Schlafpulver, die er in einem „Schächtelchen“ verwahrt. Da zeichnet Fontane in wenigen Worten den Charakter eines Menschen nach, indem er Gegenstände beschreibt – und lakonisiert das Drama des Suizids. „Indem dingliche Details geschildert werden, erstickt Fontane ein Stück weit die Gefühle“, sagt Schürmann. Sie habe den Verdacht, dass Fontane pathetische Momente subtil sabotiere. Für dessen Literatur und für die Rolle des Interieurs in der Literatur des 19. Jahrhunderts interessierte sie sich schon während ihres Studiums der Germanistik, Komparatistik und Kunstgeschichte. Jetzt erweitert sie den Fokus ihrer Spurensuche: Da die Privatisierung des Innenraums besonders ein Symptom der zunehmenden Urbanisierung der Zeit ist, konzentriert sich Schürmann auf die literarischen Strömungen der drei großen europäischen Metropolen Paris, London und Berlin und damit auf ein Konglomerat verschiedener Autoren, darunter neben Fontane auch Heyse, Raabe, Balzac, Hugo, Flaubert, Poe und Dickens.