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Gebete ohne Gott

Sakrales Sprechen in der Lyrik um 1900

08.12.2009

Hängen bei der älteren Generation Albrecht Dürers „Betende Hände“ an der Wand, stehen bei Bildungsbürgern wie Thomas Mann Replikate der antiken Skulptur des sogenannten „Betenden Knaben“ auf Schreibtisch oder Kaminsims.

Hängen bei der älteren Generation Albrecht Dürers „Betende Hände“ an der Wand, stehen bei Bildungsbürgern wie Thomas Mann Replikate der antiken Skulptur des sogenannten „Betenden Knaben“ auf Schreibtisch oder Kaminsims.
Bildquelle: Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin, © Bild-Kunst, Bonn 2009

Nach Gottfried Benn, gezeichnet von Tobias Falberg, ist das moderne Gedicht „an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind“.

Nach Gottfried Benn, gezeichnet von Tobias Falberg, ist das moderne Gedicht „an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind“.
Bildquelle: wikicommons

Dass „die Geschichte des Gebets in der deutschsprachigen Literatur noch ungeschrieben“ sei, hat man in der jüngsten Auflage des „Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft“ mit Recht bemängelt. Das Gebet als eine rhetorische Form, die traditionell unter dem Namen der oratio devota, also eigentlich der frommen Rede, an der ganzen Macht der eloquentia sacra Teil hat, stellt unter anderem eine eminent produktive Leitfigur der Klassischen Moderne dar: „Wie haben wir alle gebetet“, wundert sich Richard Huelsenbeck, Mitbegründer der Künstlergruppe Dada Berlin, im Blick auf diese Entwicklung. Einen Hauptbestandteil des Phänomens bildet eine neuartige Gebetslyrik. In der nachfolgenden Tour d’Horizon durch die lyrische Produktion der Klassischen Moderne soll zunächst die besondere Anschlussfähigkeit gebetssprachlicher Muster an praktisch alle gattungsgeschichtlichen Einzelströmungen demonstriert werden, danach die Strukturverwandtschaft des Redens zu Gott mit wesentlichen Modernitätsmerkmalen.

Verschiedene Beziehungsmöglichkeiten zwischen moderner Lyrik und klassischer Gebetssprache lassen sich zunächst insofern auseinanderhalten, als dass die Poesie ihr Profil mit oder gegen die Struktur des Gebets schärfen kann. Im ersten Fall sollte man von Gebetsinversionen sprechen und darunter Texte fassen, die namentlich von den hervorstechenden emotionalen Intensivierungsqualitäten gebetshaften Sprechens profitieren. Die programmatische Lyrikanthologie des Frühnaturalismus, unter dem Titel „Moderne Dichter- Charaktere“ 1885 erschienen, stellt hier das Gründungsereignis dar.
Sie entfesselt eine regelrechte poetische Gebetswut, zu der unter anderem Heinrich und Julius Hart („Gott“ und „Zu Gott!“), Hermann Conradi („Osterpsalm“) sowie Arno Holz („Osterbitte“) begeistert beisteuern. Ein Weltgefühl, das seine Legitimation aus der Beschwörung kommender Umbrüche bezieht, muss bei einer Rhetorik des Veränderungswunsches Halt finden, die im Bittgebet angelegt ist. Gebetet wird demnach, so Julius Hart:

Daß aufgehe aus dem feurigen Samen
Der Gottesliebe
Goldstrahlend, sonnenumgluthet
Der Baum ewiger Freude.

Hierbei macht sich bereits das Rühmungsvokabular des Lebenskults um 1900 geltend, das wesentlich aus der Topik und Tradition des Preisgebets stammt und etwa von Alfred Mombert in Gedichten wie „Morgengebet“ (1894), „Mein Vater“ (1896), „Plejaden-Gott“ (1919) beherrscht wird, besonders aber von Rainer Maria Rilke in seinem Gedichtband „Stunden-Buch“ (1905) . An den pathetischen Stimmlagen der eloquentia sacra richten sich zahlreiche Beiträge der expressionistischen Lyrikanthologie „Menschheitsdämmerung“ (1920) aus, darunter „Warum mein Gott“ und „Veni Creator Spiritus“ von Franz Werfel oder „Abendgebet um Lotte“ von Johannes R. Becher, der mehr noch in seinem Zyklus „De Profundis“ (1914) mit der Eindringlichkeit der Gebetsinbrunst schaltet. Den größeren Takt in solcher Bewegtheit stellen die gebetshaften Gedichte Else Lasker-Schülers unter Beweis: „An Gott“, „Zebaoth“ und „Gebet“, um nur ihren diesbezüglichen Anteil an der „Menschheitsdämmerung“ zu nennen, beziehen aus der Anbetungssprache komplexe Stimmungslagen zwischen Gewaltsamkeit und Erfüllung, Bedrohung und Schutz: „O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest“.
Von den genannten emphatischen Verwendungen der Gebetsdiktion lassen sich die nüchterneren abheben. Stefan Georges feierlicher „Gebete“-Zyklus (1907) schließt sich in diesem Sinn – statt an das Privatgebet des Laien – an die gemessenen Offizien der Klerikerliturgie an: „entzündet [...] vom heiligen brauche“. Das Kriterium der erhöhten Kontrolliertheit trifft ebenso auf eine Gebetspoesie zu, die Glaubensbindungen nicht ohne Weiteres zur Disposition zu stellen bereit ist und deshalb gewisse Pietätsgrenzen beachtet. So hat man es bei Ernst Stadlers „Gebeten der Demut“ (1913) und „Franziskanischen Gebeten“ (1915), Übertragungen aus dem französischen renouveau catholique, mit einem Literaturkonzept zu tun, das „die Zweifel [...] aus dem Herzen weggejagt“ sehen will. Im protestantischen Zusammenhang belebt Rudolf Alexander Schröder das geistliche Gedicht neu, wofür er nahezu das komplette Spektrum der rhetorica celestis aktiviert: einschließlich der „Anrufung“ (1922) und des „Veni Creator“ (1927), der „Weihnachtslitanei“ (1938) und des „Pfingstpsalms“ (1942).

Gebetskontrafaktur

Das zweite Interaktionsverhältnis zwischen Gebet und Literatur wäre als Gebetskontrafaktur zu bezeichnen. Es funktioniert über die „grause Parodie“, das diffamierende „Nachkrähn“ des Gebets (wie ausdrücklich in Georg Heyms „Fieberspital“ von 1910). Zum einen kann die Gebetskommunikation, indem sie als Agentin von Vertröstungs- und Herrschaftspraktiken enttarnt wird, selbst Gegenstand der Kritik sein, so in ausgesprochen frontaler Polemik bei dem politischen Anarchisten Erich Mühsam oder humoristisch bei Christian Morgenstern. „Das Gebet“ und „Des Galgenbruders Gebet und Erhörung“, beide in Morgensterns „Galgenliedern“ (1905) enthalten, setzen die oft seit der Reformation behauptete Infantilitätsneigung des Betens ins Bild („Sie falten die kleinen Zehlein, die Rehlein“) und phantasieren eine ironisch ordnungsfeindliche Gegenethik aus. Öfter noch entfaltet sich dadurch kritisches Potenzial am Gebet, dass sich dessen Anforderungen angesichts heilloser Realitätsbedingungen und Bewusstseinslagen als unerfüllbar erweisen und der Mensch somit an ihm scheitert. Zum Beispiel inszeniert die materialistische Perversion des „Paternoster“ in Arno Holz’ Gedicht „Religionsphilosophie“ (1892) die Vorteilsmentalität des hier sprechenden Gründerzeitbourgeois:

Gidb mir mein täglich Brod
und etwas Butter drauf!
[…] ein Winterpaletot
macht Dich doch auch nicht ärmer!

Georg Trakl, dessen Betern die Rosenkranzperlen „durch die erstorbenen Finger rinnen“ (in dem Gedicht „Amen“ von 1912), verspricht an anderer Stelle einen „Psalm“ im Gedichttitel (1912), doch findet das sprechende Ich dann weder eine adressierbare übergeordnete Instanz dafür, noch vermag es sich auf Wirklichkeitsalternativen zu besinnen, die in der Ausgangsfigur des Gebets als Bitten artikuliert werden. Der Ausfall eines überirdischen Adressaten stellt überhaupt eines der Hauptsymptome in der literarischen Anverwandlung der Oration dar und führt zu Verschiebungen wie in Yvan Golls „Gebet an einen Hund“ (1919) oder Bertolt Brechts „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“ (1928):

Du bist kein Unsichtbarer
Nicht unendlich bist du!
Sondern sieben Meter hoch.

Blasphemisch fällt Richard Huelsenbecks dadaistischer Klassiker „Phantastische Gebete“ (1916) aus. Umformungen wie die des „Vaterunser“-Schlusses in

denn dein ist das Reich
Und die Ewigkeit und alle Gesäße

zeugen von der robusten Aggressivität gegen jüdischchristliches Glaubensgut, die etwa auch Kurt Schwitters „Choral aus der Kirche“ (1927) auszeichnet. Als Teilnehmer der Berliner Dada-Abende hat Walter Mehring daraus für die Chansons und Bänkellieder seines „Ketzerbreviers“ (1921) gelernt, in dem er das Brevier, das Gebetbuch der Kleriker, für Agnostiker umschreibt. Um nur eine Stilprobe aus dem Gedicht „Litanei“ zu geben:

Alle die Dich loben, Gott,
Blutverdorben und bigott,
Herr, befreie uns davon –
Kyrie eleison!

Mehrings Kabarettdichtung steht unter den Vorzeichen der angewandten Lyrik, die am Gebet als genuinem Gebrauchsgenre anknüpft. Schon ihr erster Programmatiker, Otto Julius Bierbaum, betätigt sich mit Texten wie „Gebet zwischen blühenden Kastanien“, „Adoration“ und „Devotionale“ (alle 1901) in der erotischen Umwidmung von Mariengebeten. Mit der Wendung des religiösen Sinns in einen politischen und erotischen Sinn unter Beibehaltung von liturgischen Preisungsformeln operieren schließlich um 1920 Brechts „Psalmen“ und mehr noch die Parodie von Martin Luthers „Hauspostille“ (1544) als „Bertolt Brechts Hauspostille“ (1927), in der unter anderem die Gebetsgattung der sogenannten „Kleinen Tagzeiten“, also Gebeten zu den unterschiedlichen Stunden des Tages, zitiert wird. Der Protestsong, den Brecht hier berührt, bedient sich mit einigem Vorteil namentlich der Folie des Klagegebets, beispielsweise in Kurt Tucholskys pazifistischem „Gebet nach dem Schlachten“ (1924).

Die Struktur des Gebets als Artikulationshilfe literarischer Modernität

Die Struktur des Gebets scheint nach allem, was sich bis jetzt anführen ließ, als Artikulationshilfe literarischer Modernität dienen zu können. Die tiefenstrukturellen Ursachen dafür sind zunächst in der Vorschubleistung der Gebetssprache für die allfälligen Repräsentationskrisen in den Avantgarden um 1900 zu suchen. Ein abbildender Referenzaspekt des Gebets ist aus der Verlegenheit heraus, man habe es dabei mit einem Unsichtbaren zu tun, prinzipiell heikel. Die Zeremonie der „Anbetung“ gelte „immer dem Leeren“, „das Angeredete tritt ab, in den hintern Abgrund“, notiert Hugo von Hofmannsthal. Heinrich Hart in seinem Gedicht „Gott, was du bist .../ mein Sinn erfaßt es nicht“ (1885) versucht Gott mit immer neuen Seinsbestimmungen zu erfassen, worauf die Antwort einer anonymen Stimme immerzu lautet: „Ich bin es nicht!“ „Du bist nicht auszusprechen“, meint Oskar Loerke in dem Gedicht „Gott“ (1916). Und noch Paul Celan frappiert in „Psalm“ (1961) mit der paradoxen Anrufung „Gelobt seist du, Niemand“. Die Figur des Gebets fasst auf markanteste Weise genau jene leere Idealität ein, durch die der Romanist Hugo Friedrich die Abstraktionstendenzen der modernen Lyrik vorangetrieben sieht.

Während sich das Gebet also einerseits, nämlich hinsichtlich seines gewissermaßen unadressierbaren Adressaten, für Aporien der Referenz anbietet, unterhält es in anderer Hinsicht ganz entschiedene Außenbezüge. Der junge Hofmannsthal spricht von der „Macht des Gebetes, der Zauberformel“ und avisiert damit jene „magische Gewalt über die Welt“, die es bedeuten kann, „eine Welt in der Welt“ zu beschwören. Die sprachliche Weltsetzung ist eine Eigenschaft der Literatur, deren Metapher vorzüglich die Magie abgibt.

Die magische Sprachhandlung

Am Prinzip der magischen Sprachhandlung aber hat das Gebet mit der Aufstellung eines Bittkatalogs und dem mehr oder weniger demütigen Dringen auf Veränderung teil: Neben der realen Handlungsebene wird eine virtuelle aufgebaut, in der die Gegenstände der Welt im Hinblick auf ein Handlungsziel neu definiert werden. Modernistische Lyriker wie Klabund in dem Zyklus „Der schwarze Gott“ (1919) haben der Koinzidenz von Oration und Manipulation ungescheut Ausdruck verliehen. Klabund läßt einen „Primitiven“ beten:

Grauer Gott:
Gib Gut!
Dunkler Gott:
Gib Haus.

Wenn nun nach verbreiteter Auffassung die Dichtung das magische Denken in der modernen Kultur konserviert und sich mittels der „Macht des Wortes“ als die einzig verbleibende „metaphysische Tätigkeit“ behauptet (so Gottfried Benn), dann vermag sie sich durch die Anverwandlung der Gebetssprache in dieser Funktion zu bestätigen. So besitzt es einige Stimmigkeit, dass man in der Liebeslyrik – wie Ricarda Huch – zur Figur von Schutzgebeten greift:

Meinen Liebsten zu behüten,
Bitt’ ich dich, o Herr der Welt,
[...]
Einen Engel wolle senden,

oder dass Naturalismus und Expressionismus, wie Lasker Schüler es sagt, den ‚neuen Menschen‘ und einen „neue[n] Erdball“ mit drängenden Gebetsformeln heraufbeschwören: Komm, heiliger Geist, Du schöpferisch! Den Marmor unsrer Form zerbrich!

Das moderne Gedicht zeichnet sich schließlich durch seinen monologischen Charakter aus: Es ist, wie Gottfried Benn sich ausdrückt, „an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind“. Auf die Gebetslyrik und ihren Gott trifft dies besonders augenfällig zu. Bereits einer der Urheber des Gedankens von der modernen „Monolog-Kunst“, Friedrich Nietzsche, sah sich deshalb zur Auseinandersetzung mit der „ganzen Lyrik des Gebets“ gezwungen. Wenn aber gegen Nietzsches Diagnose um die Jahrhundertwende selbst die gottlosesten Lyriker beten, dann deshalb, weil das Gebet eine Disposition zur einsamen Rede besitzt, die es gleichsam zum Steigbügel in die Struktur der modernen Lyrik bestimmt. Es gibt so etwas wie ein gottloses Gebet. Trakls Texte „Psalm“, „De profundis“ und „Amen“ (alle 1912) bieten das Fanal einer adressatenlosen Isolation in Sprachgittern, hinter denen man von „Gottes Schweigen“ trinkt. Benn assistiert:

Ach, wir rufen und leiden
ältesten Göttern zu:
[...] Göttern, die schweigen,

Und auch der weltreisende Würzburger Dichter Max Dauthendey, der im Gedicht „Gebet“ (1915) euphorisch den „Gott der Lebensfülle“ anruft, handelt unter der Bedingung, „schweigend wortlos entlassen“ zu werden.