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(K)ein Grund zur Angst?

Europas Ringen mit der Religion

08.12.2009

In der anhaltenden „Werte-Debatte“, wie etwa im Streit um den Berliner Ethikunterricht, sind die verschiedenen religiösen Reaktion auf neue gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beobachten.

In der anhaltenden „Werte-Debatte“, wie etwa im Streit um den Berliner Ethikunterricht, sind die verschiedenen religiösen Reaktion auf neue gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beobachten.
Bildquelle: Inga Haar

Gemeinsames Erleben von Religion und Religiösität, wie beim ersten Weltfriedensgebet 2003 in Aachen, gelingt in der pluralen und individualistischen Gesellschaft immer seltener.

Gemeinsames Erleben von Religion und Religiösität, wie beim ersten Weltfriedensgebet 2003 in Aachen, gelingt in der pluralen und individualistischen Gesellschaft immer seltener.
Bildquelle: Picture alliance/dpa

Auch wenn das Gehirn des Menschen mittlerweile vermessen und gescannt werden kann – den Sinn des Lebens können allein die Naturwissenschaften wohl nicht klären.

Auch wenn das Gehirn des Menschen mittlerweile vermessen und gescannt werden kann – den Sinn des Lebens können allein die Naturwissenschaften wohl nicht klären.
Bildquelle: fotolia, Konstantin Sutyagin

Europas Angst vor der Religion – so betitelte der international angesehene amerikanische Religionssoziologe José Casanova sein jüngstes Buch. Die Angst vor Religionen, die er in Europa um sich greifen sieht, habe bedenkliche Folgen. Sie führe nicht nur dazu, dass die sogenannte Säkularisierung in Europa anders verlaufe als in anderen Teilen der Welt. Casanova sieht in ihr auch einen der Gründe, warum gerade in Europa das Gespräch der Religionen und Kulturen konfliktreicher geführt wird als andernorts. Deshalb ist es für Religionswissenschaftler und Theologen wichtig, den von Casanova gelegten Spuren kritisch nachzugehen – geht es doch um ein gesellschaftlich hoch aktuelles Problem.

Fürchten sich Europäer vor Menschen, die an einen Gott glauben und einer Religion angehören? Ein pauschales „Ja“ wäre als Antwort zweifellos nicht angemessen. Schließlich bezeichnet sich eine große Mehrheit der Europäer, auch der Deutschen, nach wie vor als religiös – was immer das für den Einzelnen auch heißen mag. In den meisten europäischen Ländern sind weit mehr als die Hälfte der Einwohner Christen, Moslems oder Juden. Die Annahme, all diese Menschen hätten Angst vor der Religion, also vor sich selbst, ist deshalb wenig sinnvoll. Ein pauschales „Nein“ trifft die Situation aber genauso wenig. Es gibt in Europa auch unter Gläubigen auf die Religion bezogene Ängste – und zwar nicht nur auf die Religion anderer, sondern auch auf die eigene Religion.

Europas lange Religionsgeschichte

Eine erste Form der Angst vor Religion entstammt der langen europäischen Religionsgeschichte, 1600 Jahre vor allem eine Geschichte des Christentums. Viele fürchten nicht das Christentum als solches, sehen durchaus seine vielen positiven, humanen Seiten. Vielmehr richtet sich die Furcht auf eine zu enge Verbindung zwischen Politik und Glaube, genauer, eine zu enge Verbindung zwischen religiösen Überzeugungen und politischer oder militärischer Gewalt. Diese Verbindungen erwiesen sich immer wieder als verhängnisvoll: Wenn, wie schon in den Sachsenkriegen, militärische Gewalt heiliggesprochen wurde, indem man sie in den Dienst der Ausbreitung der Kirche stellte; oder wenn die Kirche, wie nicht nur zu Zeiten der Inquisition, sich des Staates bediente, um vermeintliche Ketzer und Ungläubige gewaltsam zu verfolgen. Beängstigend waren diese Verbindungen auch, wenn die religiöse Auseinandersetzung in den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts direkt zu einer militärischen wurde; oder wenn die Terrorregimes des 20. Jahrhunderts an diese Traditionen anknüpften und ihre Verbrechen selbstmächtig religiös überhöhten oder gar mit kirchlichem Segen versehen ließen.

Zwar kann man mit guten Gründen darauf verweisen, dass es auch politisch Mächtige gab, die sich in ihrem Handeln im besten Sinne des Wortes vom Liebesgebot der Bibel leiten ließen. Zahlreiche Politiker und Religionsführer tun ihres Glaubens wegen nach wie vor viel Gutes. Auch lässt sich nicht leugnen, dass der christliche Glaube zu den Wurzeln des neuzeitlichen Freiheits- und Rechtsverständnisses zählt. Doch all das lässt sich nicht aufrechnen gegen die unseligen Verbindungen zwischen Christentum, Kirchen und Politik. Die Angst vor einem zu engen Bündnis zwischen Religion und staatlicher sowie militärischer Gewalt, die in Europa besonders lebendig scheint, ist und bleibt berechtigt.

Die Angst kennen - der Angst entkommen

Wer die Gründe seiner Angst kennt, kann ihr diese Gründe zu nehmen suchen und so die Angst beruhigen. Mit diesem Ziel strebt man in Europa seit langem nach einer Entflechtung von religiösen Überzeugungen und politischer Macht. Dieses Bemühen reicht zurück bis in die frühmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser. In Luthers sogenannter Zwei-Reiche-Lehre gewann die Entflechtung eine neue Gestalt – und auch in der Entwicklung des neuzeitlichen Staates wurde um sie gerungen: Die amerikanische Verfassung kam als erste zu einer konsequenten Trennung von staatlicher Macht und religiösem Selbstbestimmungsrecht – räumlich weit entfernt von Europa, und doch ganz unter dem Eindruck staatlicher Repressionen in religiösen Fragen, vor denen die europäischen Einwanderer geflohen waren. In Europa verläuft der Prozess der Trennung bis heute wesentlich langsamer und vielfältiger. Er gewinnt in jüngster Zeit jedoch erheblich an Dringlichkeit und Geschwindigkeit, weil die religiöse Pluralität innerhalb der europäischen Gesellschaften auch dort rasant wächst, wo lange Zeit eine religiöse oder gar konfessionelle Homogenität herrschte. Neben der Zahl der neuen und fremden Nachbarn, die einer anderen Religion zugehören, wächst zudem rasch eine weitere Gruppe, die die Pluralität steigert: Menschen, die sich bewusst oder auch nur faktisch von jeder Religion losgesagt haben oder nie in eine hineinwuchsen.

In Europa entstehen sakuläre Demokratien

Unter den hier angedeuteten Bedingungen und Motiven entstanden in Europa säkulare, freiheitliche Demokratien, in denen Menschen verschiedenster Religionen und Überzeugungen zusammenleben. Noch sind die „neuen“ Religionen neben den ehemals alleinigen nicht vollständig gleichberechtigt, denn nach wie vor ist die Übermacht der ursprünglich alleinigen Konfession oder Religion nicht nur demographisch spürbar. Doch im historischen Vergleich kommt es heute nur noch selten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen im Namen der Religion – und noch seltener zur Ausübung staatlicher Gewalt, die die aktive und passive Religionsfreiheit der Menschen missachtet. Schaut man in Europa, vor allem hierzulande, genauer auf das aktuelle Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religion, lässt sich allerdings feststellen, dass die angestrebte Entflechtung längst über das zunächst angestrebte Ziel hinausgegangen ist. Denn die sich als säkular definierenden Staaten weigern sich nicht nur, den Religionen als Instrumente zur Durchsetzung religiöser Interessen zu dienen. Sie binden sich auch nicht mehr an eine bestimmte Religion, ja nicht einmal mehr an religiöse Grundsätze als solche. Die Religion hat im Staat als politischem System, aber auch in der religions- und weltanschauungspluralen Gesellschaft wesentliche Funktionen verloren, die sie über viele Jahrhunderte hatte.

Das Volk ist der neue Souverän

Eine Funktion der Religion war die Rückbindung von Recht und Ethik an eine göttliche Instanz. Doch nun gründet der Staat sein Recht nicht mehr auf eine durch den Glauben an Gott gesicherte Grundlage, sondern auf die Rechtssetzung durch den Souverän, das Volk. Gleiches gilt für die Ethik einer pluralen Gesellschaft. Die Ethik welcher Religion sollte ihr als Maßstab dienen? Auf welche allgemein akzeptierte transzendente Begründung kann man sich stützen, wenn die Zahl der nicht religiösen Menschen steigt? Es bleibt nur noch der reflektierte Konsens derer, die nach dem Guten suchen. Eine zweite Funktion bestand darin, für eine Gesellschaft, eine Nation oder einen Staat einen Sinnhorizont zu eröffnen, in dem die Gesellschaft sich selbst und ihre Aufgabe verorten konnte. Ein solcher Horizont wies nicht nur jedem Einzelnen seinen Platz in der Gesellschaft zu – sondern auch einem Volk seine welthistorische Bedeutung. Da solche Sinnhorizonte notwendig zusammenhängen mit dem Geschichts- und Zukunftsbild einer bestimmten Religion, verlieren sie in pluralen Gesellschaften an Überzeugungskraft. Auch dies gilt umso mehr, wenn die Zahl nicht religiöser Menschen in einer Gesellschaft wächst.

Die alltäglichen Riten einer Gesellschaft

Und schließlich war es lange Zeit die jeweils dominierende Religionsgemeinschaft, die durch ihre Riten Alltag und Festtage einer Gesellschaft und eines Staates begleitete. Ihre soziale Bedeutung haben solche Rituale vor allem darin, Menschen ihre Zusammengehörigkeit erleben zu lassen. Je stärker eine Gesellschaft einerseits die Individualität ihrer Mitglieder befördert, umso dringender bedarf sie andererseits solcher Riten, um nicht auseinanderzufallen. Auch dies gelingt in einer pluralen Gesellschaft kaum noch. Denn wo es keine allgemein geteilte Religion mehr gibt, kann kein einzelner religiöser Ritus mehr Einheit erfahrbar machen.

Die Begründung von Recht und Ethik, die Sinnstiftung sowie die rituelle Gemeinschaftsbindung – all diese Funktionen haben die Religionen innerhalb säkularer Gesellschaften Europas durchaus noch. Aber, und das ist das entscheidend Neue: nicht mehr für die Gesellschaften als ganze, sondern jeweils nur noch für die Mitglieder der einzelnen Religionen. Und über ihre Zugehörigkeit oder Distanz zu einer Religion entscheiden die Einzelnen. Wie brisant der Prozess dieser Verabschiedung der Religion aus wesentlichen Funktionen der Gesellschaft ist, zeigte sich deutlich an dem erbitterten Streit darüber, ob in die geplante Verfassung für die europäische Union ein Bezug auf Gott aufgenommen werden soll oder nicht.

Der EU-Vertrag verzichtet auf Gott

Dass der aktuelle Entwurf des EU-Vertrages auf eine Erwähnung Gottes verzichtet, illustriert die hier beschriebene Entkopplung von Religion, Staat und Gesellschaft in Europa. Nicht in der institutionellen Entflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften liegt die Besonderheit der aktuellen Situation in fast allen europäischen Staaten – diese Trennung gibt es in vielen Staaten, und sie ist etwa in den USA besonders strikt; auch nicht in der wachsenden religiösen und kulturellen Pluralität der Gesellschaften – denn die alltäglich erlebbare Vielfalt steigt überall auf der Welt. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass religiöse Haltungen immer weniger als Bezugspunkte für das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis und Handeln beansprucht werden.

Hinter dieser offenbar spezifisch europäischen Distanz zur Religion vermutet José Casanova eine zweite, spezifisch europäische „Angst vor der Religion“. Viele Europäer, so Casanova, halten Religion für etwas Irrationales. Selbst religiöse Menschen fürchten nicht selten, dass Gottgläubige vielleicht nicht unbedingt dumm, aber doch ein wenig unvernünftig seien. Lange vorbei sind Antike und Mittelalter, in denen es nicht nur Theologen als sicher galt, dass erst der Glaube den Menschen wirklich zur Vernunft bringe. Folgte man über Jahrhunderte der Devise, dass die Vernunft gläubig sein müsse, wurde in der europäischen Neuzeit die gegenteilige Forderung laut: Der religiöse Glaube müsse sich als vernünftig erweisen. Mittlerweile halten es viele Menschen in Europa für ausgemacht, dass zumindest die Religionen in ihrer traditionellen Form einer „vernünftigen“ Prüfung nicht mehr standhalten.

Gott ist experimentell nicht nachzuweisen

Diese Angst vor der möglicherweise unvernünftigen Religion hat sich in den letzten Jahrzehnten nochmals signifikant verschoben. Dass die Existenz eines Gottes nicht erfahrbar und mit experimentellen Methoden nicht nachzuweisen ist, war bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts für viele das entscheidende Argument für die Ablehnung jeden religiösen Glaubens. Als vernünftig galt allein die Naturwissenschaft. So musste die Rede von Gott als irreführendes Märchen erscheinen. Doch die Überzeugung von der Allzuständigkeit der Naturwissenschaften und ihren Experimenten hat mittlerweile deutlich abgenommen. Denn immer klarer wird, dass es den Naturwissenschaften schon aus methodischen Gründen nicht möglich ist, Fragen nach dem Sinn des von ihnen Untersuchten zu stellen, nach ethischer Orientierung, nach Grund und Ziel menschlichen Lebens überhaupt. Noch weniger können sie zu deren Beantwortung beitragen, selbst wenn sie die Prozesse im Gehirn eines denkenden, entscheidenden, glaubenden Menschen einmal exakt werden beschreiben können.

So ist an die Stelle eines ausschließlich naturwissenschaftlichen Weltverständnisses die Einsicht getreten, dass alle Perspektiven, in denen Menschen die Welt sehen und deuten, begrenzt, unvollständig und stets korrekturbedürftig sind. Diese wachsende Skepsis gegen Alleinvertretungsansprüche in Sachen Wahrheit kommt den traditionellen Religionen allerdings keineswegs zugute. Ganz im Gegenteil: Sie wendet sich nun auch gegen deren Anspruch, um die Wahrheit Gottes zu wissen – und damit um die alles umfassende Wahrheit. Verdächtig ist dieser modernen europäischen Form der Skepsis nicht mehr jede, sondern vor allem eine unbekümmert selbstgewisse Rede von Gott. Wo immer eine kritische Selbstbegrenzung der Vernunft sich durchgesetzt hat, begegnen Menschen aber nicht nur einer allzu unirritierten Religion, sondern auch einem dogmatischen Atheismus mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Angst. Sie fürchten sich davor, dass solch grob vereinfachende Weltsichten wieder das politische und gesellschaftliche Regiment übernehmen könnten. Deshalb halten sie sich von beiden Seiten fern.

Die Rolle der Religionen verändert sich radikal

Es steht außer Frage: Die politische und gesellschaftliche Rolle der Religion hat sich im Europa der letzten beiden Jahrhunderte radikal verändert. Die hier beschriebenen Ängste vor der Religion waren für diese Veränderung nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund. Das in Europa aktuelle Gefüge von Staat, Gesellschaft und Religion wird sich weiter wandeln. Doch es scheint schon jetzt geeignet, gläubige Menschen und ihre Religionen so in das Zusammenleben mit anderen einzubinden, dass die beängstigenden Potenziale religiöser Überzeugungen sich nicht entfalten müssen und können.

Doch dieses erste, beruhigende Resümee ist einseitig. Denn es betrachtet nur die Maßnahmen, die Politik und säkulare Gesellschaft ergriffen haben, um die Angst vor der Religion zu zähmen. Außer Acht blieb, wie die Religionen selbst den beschriebenen Prozess und ihre gegenwärtige Position in der Gesellschaft verstehen und deuten, wie sie sich dazu verhalten. Erst unter Berücksichtigung dieser Innenperspektiven kann einigermaßen realistisch die aktuelle Situation beschrieben werden.

Erst wenn die Religionen nicht nur von außen gezwungen werden, auf Gewalt zu verzichten, sondern aus ihren eigenen Motiven heraus der Gewalt und ihren Alleinvertretungsansprüchen entsagen, wird die Angst vor ihnen grundlos werden. Um die religiöse Innenperspektive auf die gesellschaftlichen Veränderungen soll es deshalb im Folgenden gehen. Jürgen Habermas hat sicher recht, wenn er darauf hinweist, dass der säkulare und freiheitliche Rechtsstaat den Religionen einiges „zumutet“: Sie müssen nicht nur auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer oft missionarischen Ziele verzichten, sie müssen auch in kritischer Selbstbegrenzung akzeptieren, dass in der gleichen Gesellschaft Menschen anderen Glaubens und ohne religiösen Glauben leben. Sie müssen – nicht nur in der Wissenschaft – die geltenden Standards der Rationalität ernstnehmen; und sie müssen sich darauf einstellen, dass die Berufung auf Gott und seinen Willen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs nicht als Argument akzeptiert wird – sondern allenfalls als Motiv, aus dem Gläubige sich am Diskurs beteiligen und ihre Position einbringen.

Flucht in den Fundamentalismus

Was Habermas aus einer Außenperspektive zugesteht, wird für die meisten religiösen Menschen in der Tat ein Grundempfinden sein: Für sie hat ihr Glaube eine hohe Verbindlichkeit. Er schenkt ihnen, bei allem möglichen Zweifel, eine Gewissheit über Sinn und Ziel ihres Lebens, gibt ihnen eine Handlungsorientierung, regelt nicht selten den Alltag präzise und umfassend. All das sehen sie nicht nur für sich selbst als gültig an. Sie glauben, dass Gott eine Wahrheit ist, die von allen Menschen anerkannt und beachtet werden soll. Eine selbstkritische Begrenzung ihrer Überzeugungen und die positive Anerkennung religiöser und weltanschaulicher Pluralität haben in einer solchen Glaubenshaltung zunächst keinen Platz. Doch genau diese Anerkennung wird ihnen nun abverlangt. Sie müssen reagieren – und tun dies in unterschiedlicher Weise. Ein Weg ist die Flucht. Sie führt in den Rückzug aus der von Komplexität und Vieldeutigkeit geprägten Gesellschaft und Wirklichkeit hinein in die vorgeblich fundamentalen Gewissheiten der eigenen Glaubenstradition. Diese werden nicht kritisiert oder in Frage gestellt, sondern dienen vor allem der Zurückweisung jedes anderen Verständnisses der Welt. Begründet wird diese Fixierung mit dem Verweis auf Gott, der allein diesen Glauben und seine Weisungen offenbart habe. Ein solcher Fundamentalismus birgt in seiner Abwehr jedes abweichenden Glaubens und Verhaltens ein hohes Gewaltpotenzial – denn anders als gewaltsam lässt sich Pluralität nicht uniformieren. Bei den meisten religiös- fundamentalistischen Gruppen wird diese Gewalt ausschließlich gegen die eigenen Mitglieder angewandt. Sie werden mit den verschiedensten Formen psychischer und physischer Gewalt daran gehindert, die Grenzen ihrer fundamentalistischen Weltsicht zu überschreiten. Nur selten, dann aber spektakulär, wird die Gewalt nach außen gewendet, um die eigene Sicht auch Fremden aufzuzwingen. Ob die meist anzutreffende Begrenzung der Gewalt auf den je eigenen Innenraum aus Überzeugung oder allein aus einem realistischen Kalkül der faktischen Machtverhältnisse heraus akzeptiert wird, sei dahingestellt. Eine säkulare, freiheitliche Gesellschaft wird jedenfalls gut daran tun, solchem Ausgreifen von Gewalt klare juristische Grenzen zu setzen – auch und gerade, wenn sie fundamentalistische Überzeugungen im Rahmen der Meinungsfreiheit gelten lässt.

Wahrung des Besitzstandes

Deutlich weiter verbreitet ist bei religiösen Menschen, vor allem bei den Vertretern ihrer Institutionen, eine andere Reaktion: Sie fügen sich mehr oder weniger wehmütig über den Verlust des Vergangenen den neuen Verhältnissen. Sie lehnen die Modernisierung der Gesellschaft nicht pauschal ab, sondern nutzen in vielen Bereichen deren Chancen und Angebote. Gleichzeitig bemühen sie sich um möglichst umfassende Besitzstandswahrung. Dabei geht es keineswegs nur um finanzielle Zuwendungen, politische Macht oder rechtliche Sonderregelungen in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft. In vielen Verlautbarungen und Veranstaltungen beharren Kirchen und Glaubensgemeinschaften darauf, weiterhin die oben genannten Funktionen in der Gesellschaft auszufüllen. Dabei berufen sie sich entweder darauf, die einzig komptenten Instanzen zur Wertebegründung, Sinngebung und rituellen Vergemeinschaftung zu sein. Oder sie treten unter einer gewissen Anerkennung der faktischen Pluralität wenigstens mit dem Anspruch auf, diese Funktionen besser ausfüllen zu können als alle anderen. In der anhaltenden „Werte- Debatte“, die im Streit um den Berliner Ethikunterricht einen aufschlussreichen Kristallisationspunkt fand, sind die verschiedenen Facetten einer solchen Reaktion auf die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gut zu beobachten.

Für die säkulare Gesellschaft stellt diese Reaktion keine ernsthafte Gefahr dar – das Aushandeln von Positionen und Befugnissen gehört zu ihrem Alltagsgeschäft. Dafür gibt es klare Regeln, derer sich alle Beteiligten in der Verfolgung ihrer Ziele bedienen können und bewusst sein müssen. Sorge verbreitet sich ob dieser Strategien zur Besitzstandswahrung eher in den Religionsgemeinschaften selbst. Werden, so fragen Skeptiker aus den eigenen Reihen, die Religionen und ihr Glaube in solchen Kämpfen nicht viel stärker von außen bestimmt, als den dort Kämpfenden klar ist und lieb sein kann? Besteht nicht die Gefahr, dass hier eine bestimmte historische Gestalt ihrer Religion Stück für Stück demontiert wird, ohne dass eine neue, aktiv geformte Gestalt entstehen könnte? Führt nicht die Weigerung, sich zu wandeln, zum Zerbrechen einer starr gewordenen Religion?

Offenheit gegenüber Veränderungen

Diese Fragen weisen die Richtung der dritten Reaktion, die auf die veränderte gesellschaftliche Situation seitens der Religionen zu beobachten ist. Sie lässt sich nicht erst heute und keineswegs nur innerhalb der christlichen Kirchen finden. Schon früher, vor allem Umbruchzeiten, betrachteten Juden, Christen und Muslime die Veränderungen, die das Ende überkommener Strukturen mit sich brachten, nicht nur als Zumutung, sondern auch als Chance. Nur weil das Christentum Umbrüche nicht erduldete, sondern gestaltete, hat es die radikalen Veränderungen in der Zeit der Völkerwanderung überlebt. Das Judentum steuerte wesentliche Impulse zur europäischen Aufklärung bei und fand so selbst in eine neue Gestalt. Muslimen gelang es, in den vielen verschiedenen Kulturen, in denen sie lebten, eine je neue Form muslimischen Denkens und Lebens zu entwickeln – bis hin zu den heutigen Versuchen, zu einer solchen Neugestaltung auch in den Ländern Europas zu kommen, in denen sie erst seit jüngster Zeit und als Minderheit leben. Solche Neuerungen stehen in Religionen, die auf Tradition beruhen, unter einer unverzichtbaren Bedingung: Es muss möglich sein, die veränderte Situation aus dem Kern der eigenen religiösen Tradition heraus positiv, wenn auch nicht unkritisch anzuerkennen. Diese sehr formale Bedingung lässt sich angesichts der oben aufgeführten Ängste und ihrer politisch- gesellschaftlichen Beruhigung konkret anwenden. Heute sind Religionen gefragt: Wie halten sie es mit dem Verzicht auf Gewalt? Wie mit der Anerkennung anderer Religionen und Weltanschauungen? Wie steht es um ihre Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion und -begrenzung?

Gläubige aller drei genannten Religionen sehen sich nicht trotz, sondern wegen der Bindung an ihren Gott in der Lage, Menschen die Angst zu nehmen, die hinter diesen Fragen steckt. Das mögen einige markante Beispiele zeigen. Muslime verweisen ausdrücklich auf den Koran, Sure 2:256: „In der Religion gibt es keinen Zwang“ und begründen so den prinzipiellen Gewaltverzicht bei der Gewinnung neuer Gläubiger. Die Katholische Kirche hat sich auf dem II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich und aus theologischen Gründen zur Religionsfreiheit bekannt, gegen die sie sich so lange wehrte, und die positive Bedeutung anderer Religionen anerkannt. Die jüdische Tradition bringt ihr Wissen um die begrenzte menschliche Erkenntnis zum Ausdruck, wenn sie die Ergänzungsbedürftigkeit und kritische Infragestellung jeder Glaubensaussage, jeder Bibelauslegung betont.

Gläubige, die diesen Weg beschreiten, sind aus religiösen Motiven heraus in der Lage, säkulare, freiheitliche Staaten und Gesellschaften nicht nur zu dulden, sondern zu befürworten und anzuerkennen. Sie können auch dem heutigen Verständnis der menschlichen Vernunft und ihrer Grenzen zustimmen – und sich unter diesen neuen Bedingungen als vernünftig erweisen. Sie können mit den Menschen zusammenleben, die der pluralen Gesellschaft und ihren Grundregeln aus anderen Motiven zustimmen. Mit ihnen vermögen sie über die konkrete Gestaltung von Staat und Gesellschaft zu streiten und zu entscheiden.

Zwischen diesen drei möglichen Reaktionen religiöser Menschen auf eine zunehmend säkulare Umwelt gibt es selbstverständlich unzählige Mischformen. Welches Gesicht die Religionen auf Dauer zeigen, ist nicht abzusehen. Ob die Religionen jedoch in den pluralen und freiheitlich organisierten Gesellschaften Europas eine lebendige Zukunft haben, wird wesentlich von ihrer Fähigkeit abhängen, mit guten Gründen den Menschen die Angst vor der Religion zu nehmen.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Michael Bongardt:

Geboren am 4. Oktober 1959. Studium der Katholischen Theologie in Bonn, München und Münster. Dissertation zur Philosophie Sören Kierkegaards, Habilitation zur Philosophie Ernst Cassirers. Seit Januar 2006 Leiter des Instituts für vergleichende Ethik, an dem künftige Ehtiklehrerinnen und Ethiklehrer ausgebildet werden. Stellvertretender Direktor der Berlin Graduate School „Muslim Cultures and Societies“. Forschungen und Beiträge zum Dialog der Religionen und Kulturen, zur Religion als Kulturphänomen, zur Säkularisierung und zur Theologie der Offenbarung.