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Europa – ein grenzenloser Raum?

Die europäische Einigung hat die alte Welt umfassend verändert

10.06.2009

Mit den Römischen Verträgen 1957 besiegelten sechs Staaten die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, die sich später zur Europäischen Gemeinschaft entwickelten.

Mit den Römischen Verträgen 1957 besiegelten sechs Staaten die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, die sich später zur Europäischen Gemeinschaft entwickelten.
Bildquelle: European Community, 2009

Zwischen der Gründung der Europäischen Gemeinschaften 1951 und 1957 durch sechs Staaten und der jüngsten Erweiterung der Europäischen Union auf nunmehr 27 Mitglieder im Jahr 2007 liegen nur 56 Jahre.

Zwischen der Gründung der Europäischen Gemeinschaften 1951 und 1957 durch sechs Staaten und der jüngsten Erweiterung der Europäischen Union auf nunmehr 27 Mitglieder im Jahr 2007 liegen nur 56 Jahre.
Bildquelle: Freie Universität Berlin / UNICOM, Gräger

Der Schengenraum: Noch in den sechziger und siebziger Jahren war es undenkbar, dass Personen in Europa ohne systematische Grenzkontrollen reisen konnten.

Der Schengenraum: Noch in den sechziger und siebziger Jahren war es undenkbar, dass Personen in Europa ohne systematische Grenzkontrollen reisen konnten.
Bildquelle: Freie Universität Berlin / UNICOM, Gräger

Der niederländische Ökonom Wim Duisenberg (1935–2005) war von 1998 bis 2003 der erste Präsident der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Das Amt trug ihm den Namen „Mr. Euro“ ein.

Der niederländische Ökonom Wim Duisenberg (1935–2005) war von 1998 bis 2003 der erste Präsident der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Das Amt trug ihm den Namen „Mr. Euro“ ein.
Bildquelle: European Central Bank/Frankfurt am Main

Das Stempeln von Pässen gehört im Schengenraum zwischen einigen der Staaten Europas seit 1995 der Vergangenheit an. Ausnahmen sind Großereignisse oder internationalen Fußballturniere.

Das Stempeln von Pässen gehört im Schengenraum zwischen einigen der Staaten Europas seit 1995 der Vergangenheit an. Ausnahmen sind Großereignisse oder internationalen Fußballturniere.
Bildquelle: istockphoto, Anyka

„Europa ohne Grenzen, grenzenloses Europa!“ – das stand für mehr als 40 Jahre im Mittelpunkt des europäischen Integrationsprojektes. Nach zwei Weltkriegen schien die Überwindung zwischenstaatlicher Grenzen als der beste Weg, Frieden und Wohlfahrt in Europa nachhaltig zu sichern. Nur über die Methode war man sich nicht einig: Während die europäischen Föderalisten die sofortige Schaffung eines europäischen Bundesstaates anstrebten, in dem die Nationalstaaten aufgehen sollten, ohne gänzlich ihre Identität zu verlieren, hielten die Verfechter nationalstaatlicher Souveränität die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen für utopisch und setzten sich für eine eher funktional ausgerichtete, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Staaten in Europa ein. In einem waren sich die beiden politischen Strömungen jedoch einig: Europa sollte ein grenzenloser Raum werden, in dem nicht nur Waren, Dienstleistungen und Kapital frei gehandelt werden, sondern in dem sich auch Personen ungehindert bewegen und niederlassen können.

Die Geschichte der EU beginnt 1951

Im Jahr 1954 scheiterte die Europäische Politische Gemeinschaft, welche die 1951 geschaffene Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) ersetzen sollte, endgültig. Grund war die Ablehnung der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung. Nun setzten sich Funktionalisten wie der ehemalige französische Ministerpräsident und Außenminister Robert Schuman (1886–1963) und der Präsident der Hohen Behörde der Montanunion, Jean Monnet (1888–1979), mit ihrem Programm durch, nationalstaatliche Grenzen durch sachbezogene Kooperation in Europa schrittweise abzuschaffen. Die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften von 1957 sahen nicht nur die graduelle Errichtung eines gemeinsamen europäischen Marktes sowie einer Wirtschafts- und Währungsunion vor. Sie zielten auch auf „einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“.

Überwindung der Grenzen in Europa

Bei dem europäischen Einigungsprojekt ging es also zunächst einmal um die Überwindung der inneneuropäischen Grenzen. Jeder europäische Staat konnte deshalb die Mitgliedschaft in den Gemeinschaften beantragen, solange er die Grundlagen in Bezug auf Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit achtete. Angesichts der Teilung Europas während des Kalten Krieges stellte sich die Frage nach den Außengrenzen Europas lange Zeit nicht. Großbritannien, Irland und Dänemark wurden 1973 in die Europäische Gemeinschaft ebenso aufgenommen wie die neu entstandenen Demokratien Südeuropas, Griechenland (1981) sowie Portugal und Spanien (beide 1986). Auch die Erweiterung um Schweden, Finnland und Österreich 1995 rührte nicht am Selbstverständnis der mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags mittlerweile zur Europäischen Union gewordenen Staatengemeinschaft, die sich als wirtschaftlicher, politischer und kultureller Raum begreift. Nur der Antrag Marokkos wurde 1987 mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um einen nichteuropäischen Staat. Das Gesuch der Türkei von 1963 stellten die Mitgliedsstaaten hingegen zurück.

Abkommen über Handelsbeziehungen

Trotzdem waren die Europäischen Gemeinschaften kein einheitlicher, in sich geschlossener Raum. Wirtschaftlich hat die EG immer privilegierte Handelsbeziehungen mit Drittstaaten unterhalten. Dies regelten unter anderem die verschiedenen Abkommen mit der Gruppe der heute 79 afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, kurz AKP-Staaten. Das 1975 unterzeichnete und mehrfach erneuerte Lomé-Abkommen ( jetzt Kotonou-Abkommen) basiert in erster Linie auf einem System von Zollpräferenzen, mit denen diesen Ländern der Zugang zum EU-Markt erleichtert werden soll. In Europa intensivierte die EU ihre wirtschaftliche Kooperation mit den Staaten der 1960 gegründeten Europäischen Freihandelszone (EFTA). Der 1994 in Kraft getretene Europäische Wirtschaftsraum (EWR) dehnt den Binnenmarkt auf Island, Liechtenstein und Norwegen aus. Die Schweiz ist in diesen Wirtschaftsraum lediglich über bilaterale Abkommen eingebunden, weil die Ratifikation des EWR-Vertrages in einem Referendum abgelehnt wurde. Norwegen, Island und die Schweiz sind außerdem Mitglieder des „Schengener Abkommens“, das 1985 von zehn Mitgliedsstaaten geschlossen wurde, um die zwischenstaatlichen Grenzkontrollen abzuschaffen. Der grenzenlose Schengenraum umfasst mittlerweile 28 Staaten; von den EU-Mitgliedern haben nur Großbritannien, Irland, Bulgarien, Rumänien und Zypern das Abkommen bisher nicht umgesetzt.

Umbruch nach dem Fall der Mauer

Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Teilung Europas überwunden. Zehn der Warschauer-Pakt-Staaten beantragten im Sinne ihrer „Rückkehr nach Europa“ die Aufnahme in die Europäische Union. Während dies von der überwiegenden Mehrheit der damals 15 EU-Mitgliedsstaaten zunächst abgelehnt wurde, eröffnete die EU den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie Malta und Zypern 1993 eine Beitrittsperspektive. Dies geschah allerdings unter der Maßgabe, dass sie die sogenannten Kopenhagen- Kriterien erfüllen. Zu entscheidenden Voraussetzungen für die EU-Mitgliedschaft sind gemäß diesen Kriterien Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit geworden sowie eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, das geltende Europarecht anzuwenden und durchzusetzen.

Die Ost-Erweiterung hat die Überlappung von Integrationsräumen in Europa verstärkt: Drei der neuen Mitgliedsstaaten sind noch nicht dem Schengenraum beigetreten. Aber vor allem die gemeinsame Währung schafft eine innere Grenze in der EU. Zum Euroraum gehören bisher nur 16 der 27 Mitgliedsstaaten. Neben Großbritannien, Schweden und Dänemark haben acht der zwölf Länder, die 2004 oder 2007 beigetreten sind, den Euro bisher nicht eingeführt.

Gemeinsam gegen Kriminalität

Mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten hat auch die Frage nach den Außengrenzen der EU politisch erheblich an Bedeutung gewonnen. Der Binnenmarkt und die Freizügigkeit haben durch den Abbau von Grenzkontrollen neue Probleme geschaffen. Um organisierter Kriminalität oder unkontrollierter Migration entgegenzutreten, einigten sich die Mitgliedsstaaten im Maastrichter Vertrag auf eine Zusammenarbeit von Polizei- und Justizbehörden sowie auf die Harmonisierung ihrer Asyl-, Flüchtlings-, Visumsund Zuwanderungspolitiken. Der Vertrag von Amsterdam von 1997 fasste die bis dahin getroffenen Regelungen zusammen. Errichtet wurde, wie es in ihm hieß, ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, die den EU-Bürgern gewährt werden sollte. Er umfasst auch Maßnahmen in Bezug auf Kontrollen an den Außengrenzen, Asylrecht, Einwanderungsregeln sowie die Verhütung und Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität. Angesichts der stetig wachsenden Flüchtlingszahlen und des erheblichen Wohlfahrts- und Stabilitätsgefälles gegenüber ihren alten Nachbarn in Nordafrika sowie den neuen im postsowjetischen Raum und auf dem Westbalkan hat die EU die Bemühungen intensiviert, ihre Außengrenzen zu sichern. Nachdem sie 1999 den West-Balkan-Staaten und der Türkei eine Beitrittsperspektive geboten hatte und damit die EU um acht potenzielle Mitgliedsstaaten erweiterte, scheint die Aufnahmefähigkeit der EU für die nächsten 15 bis 20 Jahre mehr als erschöpft.

Die 2004 beschlossene „Europäische Nachbarschaftspolitik“ sollte vor allem für die östlichen Anrainerstaaten der EU eine Alternative zur Mitgliedschaft schaffen. Sie bietet Ländern ohne eine Beitrittsperspektive Anreize, durch eine stärkere Anbindung an die EU ihre politischen Systeme sowie Wirtschaft und Gesellschaft zu modernisieren. Die von der Europäischen Kommission getroffene Unterscheidung zwischen den „Nachbarn Europas“ und den „europäischen Nachbarn“ könnte allerdings darauf hindeuten, dass die Ukraine oder Moldawien durchaus auf eine längerfristige Beitrittsperspektive hoffen dürfen. Die Mittelmeerunion und die östliche Partnerschaft sind weitere Versuche der Mitgliedsstaaten, innerhalb des „Rings stabiler, befreundeter Staaten“ eine Differenzierung vorzunehmen. Es scheint jedenfalls nur schwer vorstellbar, dass die EU der Ukraine oder Georgien – sofern diese die Kopenhagen- Kriterien erfüllen – die Mitgliedschaft verwehren kann, wenn sie mit der Türkei seit 2003 Beitrittsverhandlungen führt.

Damit scheinen die Außengrenzen der EU letztlich durch das sogenannte vierte Kopenhagen-Kriterium definiert zu sein – der Aufnahmefähigkeit der EU. Die Beitrittskriterien für Staaten richten sich an universellen Werten aus, die zwar das normative Fundament der EU bilden, aber nicht als genuin europäisch gelten können. Eine Bestimmung des europäischen Raums aufgrund geographischer Gegebenheiten oder kulturell-religiöser Gemeinsamkeiten scheint spätestens nach der Beitrittsperspektive für die Türkei und die Staaten des westlichen Balkans mehr als fragwürdig.

Geometrie der Integration variiert

Europa war schon immer ein sozial und politisch konstruierter Raum oder eine imagined community, um es mit den Worten des US-amerikanischen Politologen Benedict Anderson zu formulieren, deren Grenzen – vor allem im Osten und Südosten – sehr unterschiedlich definiert wurden. Die Europäische Union kann für sich nicht den alleinigen Anspruch erheben, diesen Raum wirtschaftlich und politisch zu organisieren. Europa besteht vielmehr aus einer Vielzahl überlagernder Integrationsräume innerhalb und auch außerhalb der EU, die sich kaum durch das Programm eines Kerneuropas oder eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten erfassen lassen. Die variable Geometrie der Europäischen Integration wird auch durch den Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und zahlreiche andere europäische Organisationen bestimmt, deren Mitgliedschaft häufig sehr viel weiter gefasst ist, als sich etwa die Verfechter eines christlich-abendländischen Europas vorstellen können. So gehören dem Europarat neben Russland, Weißrussland, der Ukraine und Moldawien die Länder des südlichen Kaukasus sowie Israel an.

Während viele in der Mehrdimensionalität des europäischen Raums eine Gefahr für die Zukunft der europäischen Einigung sehen, lässt sie sich auch als Chance für die europäische mission civilicatrice begreifen. Eine schrittweise, differenzierte Integration in die Europäische Union ermöglicht nicht nur eine weitere Vertiefung zwischen (wechselnden) Gruppen von Mitgliedsstaaten, beispielsweise in der Sozial- oder Verteidigungspolitik. Sie kann auch einen wichtigen Anreiz für politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen in jenen beitrittswilligen Staaten bieten, die aufgrund der begrenzten Aufnahmefähigkeit der EU kaum auf eine baldige Mitgliedschaft hoffen dürfen. Die EU mag den Beitritt von Kroatien, Montenegro und Mazedonien gerade noch verkraften. Aber spätestens vor einer Erweiterung um Serbien und die Türkei bedarf es grundlegender Reformen. Dabei geht es nicht nur darum, die institutionellen Regeln der Zusammensetzung und der Abstimmung von Kommission, Rat und Europäischem Parlament anzupassen. Die finanziellen und regulativen Bestimmungen der Agrar-, Struktur- und Sozialpolitik hätten bereits vor der Ost-Erweiterung grundlegend reformiert werden müssen. Die EU hat erst selbst diese Herausforderungen zu meistern, bevor sie in Größe und Vielfalt weiter wachsen kann. Vor allem braucht sie die Unterstützung ihrer Bevölkerung, die schon im Hinblick auf die Ost-Erweiterung tief gespalten ist und einem Beitritt der Türkei mehrheitlich ablehnend gegenüber steht.

Während die EU selbst ihre Reform- und Demokratiefähigkeit vor einer weiteren Ausdehnung ihrer Grenzen erst noch unter Beweis stellen muss, darf sie gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Beitrittskandidaten nicht verlieren. Will sie politische und wirtschaftliche Stabilität in ihrer Nachbarschaft fördern, sollte sie Anreize für die dafür notwendigen Reformen bieten. Eine privilegierte Partnerschaft, wie sie der Türkei angetragen worden ist, ist keine echte Alternative zur Mitgliedschaft; ein stufenweiser Beitritt dagegen wäre es. Europa wäre dann kein grenzenloser Raum, sondern ein räumlich differenzierter Integrationsverbund, dessen Grenzen durch die Beitrittsfähigkeit der Kandidaten sowie die Aufnahmefähigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten definiert werden.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Tanja A. Börzel

Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsstelle Europäische Integration, Ihnestraße 22, 14195 Berlin

www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss