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Die Wiederentdeckung der Weltenteilung

Das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern wird größer

10.06.2009

Die Wiederentdeckung der Weltenteilung Das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern wird größer.

Die Wiederentdeckung der Weltenteilung Das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern wird größer.
Bildquelle: fotolia, Jack Jonson

Modifizierte Souveränitäten in Nationalstaaten haben im Zuge der Globalisierung eine anhaltende Debatte darüber ausgelöst, ob überkommene und gebräuchliche Konzepte zur Einteilung der Welt zukünftig noch Sinn ergeben. In jüngster Zeit erleben wir jedoch eine Parallelentwicklung. Die Rückbesinnung auf strukturbezogene Ansätze unterstreicht jenseits räumlichen Schubladendenkens, dass Weltenteilungen politisch wirksam sind und sich zunutze gemacht werden: Trotz aller Verflechtungen und Vernetzungen, die sich in der globalen Finanzkrise wirkungsmächtig offenbaren, erleben wir derzeit die Betonung regionaler Verbünde und die Artikulation nationalstaatlicher Interessen.

Unser Alltag und unsere Wahrnehmungswelt sind häufig von Dichotomien und Trichotomien geprägt, die räumliche Ordnung schaffen und soziale und regionale Ungleichheiten aufzeigen sollen. Ein Vergleich der 40 folgenschwersten Naturkatastrophen bezogen auf Opferzahlen und Transferleistungen von Versicherungen verdeutlicht eine sich abzeichnende Zweiteilung der Welt, wenn risikobehaftete Lebensbedingungen gemessen werden: Das Überlebensrisiko ist in wohlhabenden Staaten in einer ganz anderen Weise abgesichert als in den Regionen der Welt, die die höchsten Opferzahlen zu verzeichnen haben. Auch die jüngsten Erdbeben in Pakistan, Wirbelstürme in den USA und Feuerwalzen in Australien bestätigen diesen Zusammenhang.

In der Entwicklungsforschung stellt sich die Frage der Weltenteilung, wenn es um Transferleistungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geht. Die beiden wichtigsten internationalen Akteure der Entwicklungszusammenarbeit – die Vereinten Nationen und die Weltbank – teilen die Weltgemeinschaft alljährlich in drei oder vier Gruppen. Die Weltbank verwendet trotz aller Kritik an einer rein monetären und marktbezogenen Parameterdarstellung weiterhin das Brutto-Nationaleinkommen oder das Pro-Kopf-Einkommen (PKE) zur Abschätzung des Entwicklungsstandes eines Landes und teilt auf diese Weise die Welt in drei oder vier Gruppen. Die Vereinten Nationen versuchen seit den 1990er Jahren mit dem „Index für die menschliche Entwicklung“ (Human Development Index, HDI), dem Vorwurf einer einseitigen Beobachtung zu begegnen. Sie haben einen eigenen Indikator geschaffen und propagiert, der neben der Kaufkraft auch die Lebenserwartung und den Bildungsstand in die Abschätzung des Entwicklungsniveaus einbezieht. Auch hier findet sich eine Dreiteilung der Welt wieder: Viele Regionen in Asien, Afrika und Lateinamerika gehören in beiden Klassifikationen zu den Verlierern, ebenso wie die Gewinner auf der anderen Seite feststehen. Die so vorgenommenen Zustandsbeschreibungen weisen Gebiete subkontinentalen Ausmaßes aus, die als defizitbehaftete Entwicklungsregionen wahrgenommen werden und Ziel von Entwicklungshilfe sind.

Armut und Reichtum der Nationen – von der Dichotomie zur Trichotomie

Todesopfer und versicherte Schäden – die 40 größten Schadensereignisse seit 1970 im Vergleich.

Todesopfer und versicherte Schäden – die 40 größten Schadensereignisse seit 1970 im Vergleich.
Bildquelle: H. Kreutzmann

Von Vulkanausbrüchen bzw. allgemein Naturkatastrophen sind die Menschen armer Länder in der Regel deutlich stärker betroffen als die Menschen reicher Länder bei einer Katastrophe vergleichbaren Ausmaßes, wie Statistiken belegen.

Von Vulkanausbrüchen bzw. allgemein Naturkatastrophen sind die Menschen armer Länder in der Regel deutlich stärker betroffen als die Menschen reicher Länder bei einer Katastrophe vergleichbaren Ausmaßes, wie Statistiken belegen.
Bildquelle: wofotolia, John Penisten

Seit dem richtungweisenden Werk des Ökonomen Adam Smith aus dem Jahr 1776 über den Reichtum der Nationen steht die Frage im Raum, wie zum allseitigen Vorteil oder zum gegenseitigen Schaden Austauschbeziehungen zwischen Nationen zu gestalten seien. Anknüpfend an Adam Smith tritt im Alterswerk des renommierten Wirtschaftshistorikers David Landes Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind aus dem Jahr 1999 diese raumzeitliche Dichotomie wieder zutage. Zwar sei die alte Ost-West-Teilung nicht mehr sinnvoll, schreibt Landes, heute zähle die Unterscheidung zwischen Reich und Arm. Das sei aber eine Teilung zwischen dem Norden und Süden oder zwischen dem Westen und der restlichen Welt; lediglich die Umweltzerstörung werde als ein Problem gleichwertiger Dimension gesehen.

Die Reduktion auf eine Dichotomie erfolgt durchaus im Geiste des im Jahr 2008 verstorbenen US-amerikanischen Politikberaters Samuel Huntington, der unter dem Stichwort eines „Krieges der Zivilisationen“ einen heraufziehenden Wettlauf zwischen dem Westen und dem Rest der Welt apostrophierte. Damit ist der begrenzende Rahmen abgesteckt: Die Kluft in der Entwicklung und die Grenzen der ökologischen Inwertsetzung als zentrale Zukunftsfragen der Menschheit. Das Aufkommen und die Wahrnehmung der wachstumsbedingten Globalisierungsgrenzen sowie die Begrenztheit der Ressourcen erscheinen als der treibende Motor für eine Neubesinnung der Menschheit über das Wünschenswerte und Machbare in den Überlegungen zur Gestaltung der internationalen Beziehungen zu sein.

So ist es auch wenig erstaunlich, dass nach einer Phase der Geringschätzung Globaltheorien zur Erklärung der weltweiten Beziehungsgeflechte erneut im Kommen zu sein scheinen. In seiner Untersuchung divergierender Trends nationalstaatlicher Entwicklung meint Wirtschaftshistoriker Landes im globalen Maßstab drei Gruppen unterscheiden zu können, die sich anhand ihres Ernährungsverhaltens oder des Zugangs zu Nahrung voneinander unterscheiden. Landes differenziert zwischen der Gruppe jener Menschen, die sich um die nächste Mahlzeit ernsthaft Sorgen zu machen haben, der Gruppe von Menschen, die ausreichend versorgt sind, und den Menschen, die sich vor Übergewicht zu schützen suchen.

Die gegenwärtige Debatte legt eine weitere Erkenntnis nahe. Das Faszinosum der sich öffnenden Entwicklungsschere der wo hin auch immer zu verlagernde Umkehrpunkt in globaler Dominanz – sollte er überhaupt so festzumachen sein – besitzt Konjunktur vor dem Hintergrund eines sich möglicherweise anbahnenden Asian Age, wie das 21. Jahrhundert apostrophiert wurde: Während bis Mitte des 18. Jahrhunderts China die Weltwirtschaft dominierte, hat mittlerweile der Westen eine Führerschaft errungen. Diese könnte er aber – wenn man unter anderem auf das wirtschaftliche Aufstreben Chinas und Indiens seit den 1990er Jahren blickt – in Zukunft verlieren in einem möglichen Asian Age.

Betonung der Differenz

Sicherheitsbarrieren vor Ground Zero: Die Anschläge des 11. September 2001 in den USA haben die Beziehungen zwischen den Staaten verändert. Bei Entscheidungen über Entwicklungshilfe spielen seither vielfach auch Sicherheitsaspekte eine Rolle.

Sicherheitsbarrieren vor Ground Zero: Die Anschläge des 11. September 2001 in den USA haben die Beziehungen zwischen den Staaten verändert. Bei Entscheidungen über Entwicklungshilfe spielen seither vielfach auch Sicherheitsaspekte eine Rolle.
Bildquelle: fotolia, Boris Patalow

Alte Ängste scheinen auf, und retrospektive Bestätigungen von einem European exceptionalism sollen in der Auseinandersetzung des West against the rest Argumentationshilfen bieten. Im alltäglichen Politikberatungsgeschäft der großen Thinktanks besitzen solche Überlegungen eine gewisse Konjunktur. Der Ansatz bleibt strukturell und beschränkt sich darauf, Gesellschaften im Wesentlichen auf nationalstaatlicher Ebene abzugrenzen und wahrzunehmen. Anstatt vielfältigen Erscheinungsformen soziokultureller Aspekte und vermehrten Austauschprozessen Rechnung zu tragen, werden Nationalstaaten und Regionen zu Gebilden einheitlicher Kultur „homogenisiert“: Diese Tendenz, die Welt zu teilen, gilt für die Nationalstaaten, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ebenso wie für die Vereinten Nationen, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Nationalstaaten werden als Einheit betrachtet, im Vordergrund stehen nicht Armutsgruppen. So geht es in Debatten über Hilfen für China, Südafrika oder Indien um die Frage: Sind diese Länder weiterhin berechtigt, Entwicklungshilfe zu erhalten? Zwar ist in diesen Ländern das Durchschnittseinkommen gewachsen, doch Indien und China verfügen in absoluten Zahlen über die meisten Armen in der Welt.

Auf die Widersprüchlichkeit des Zivilisationen- und Kulturkreiskonzeptes von Huntington ist vielfach hingewiesen worden. Das Problem liegt in einer mit dem Ziel einer Identitätsstiftung betriebenen Homogenisierung nach innen und einer selektiven Betonung der Differenz nach außen, die Grenzziehungen unterstützt, ermöglicht und plausibel erscheinen lässt.

Die neue Drei-Welten-Lehre

Angesichts der sich dramatisch verändernden Weltlage im Nachklang zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA fanden Globaltheorien unter dem Begriffspaar Entwicklung und Sicherheit eine neue Anhängerschaft. Geleitet von der Einsicht, dass die Entwicklung aller Staaten auf ein vergleichbares Niveau angesichts eines beschränkten Ressourcenangebots wohl nicht global zu verwirklichen sei, kamen nordamerikanische und europäische Realpolitiker wie Henry Kissinger und Robert Cooper zu der Schlussfolgerung, dass eine geteilte Welt mit akzeptierten Heterogenitäten die nahe Zukunft prägen werde. Die vor der dramatischen Zunahme gewalttätiger Akte entwickelte Einschätzung Kissingers teilt die Weltgemeinschaft in eine Trias bestehend aus:

  • der Welt der Demokratien (Europa und Amerika),
  • der Welt des Gleichgewichtes in Asien und
  • der Welt des Übergangs im Nahen Osten und Afrika.

Ausgrenzung versus Integration

Markante Unterschiede werden zwischen den aufstrebenden Ökonomien Süd- und Ostasiens einerseits und den zurückfallenden afrikanischen Gesellschaften zusammen mit den nicht ölbasierten Rentierstaaten des Nahen Ostens deutlich gemacht. Letztere sind die Verlierer der neoliberalen Wende, weisen nur geringe Wachstums-, vielfach sogar Schrumpfungsraten in der wirtschaftlichen Entwicklung auf. Gepaart mit der zugeschriebenen Gefahr, die von diesen Regionen ausgehen soll, und den Konnotationen von „Schurkenstaaten“ entlang von „Achsen des Bösen“ verdichtet sich hier die Koppelung von Entwicklungsanstrengungen mit Sicherheitsüberlegungen. Zwei Optionen sind möglich: Ausgrenzung und Integration. Die Kosten für beide Szenarien werden vor dem Hintergrund einer funktionsfähigen Weltwirtschaft mit weitgehend sicheren Handels- und Kommunikationsbeziehungen gegeneinander abzuwägen sein. Als neues Moment gewinnen in der gegenwärtigen Debatte Ausgrenzungsstrategien an Bedeutung, in denen einem großen Teil der Weltbevölkerung eine gleichberechtigte Teilhabe an den vorhandenen Ressourcen verweigert wird. Während Kissingers Trichotomie Optionen und Hoffnungen zumindest semantischer Art umfasst, geht Cooper in seinen Vorstellungen weiter und verbindet damit weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung der internationalen Beziehungen.

Robert Cooper, als Generaldirektor des Büros für auswärtige und sicherheitspolitische Angelegenheiten des Rates der Europäischen Union Mitglied im Beraterstab des EU-Außenbeauftragten Xavier Solana, brachte in die Debatte ein neues Klassifikationsschema ein:

  • postmodern,
  • modern und
  • prämodern.

Neuer Imperialismus?

In China wie in Indien ist das Durchschnittseinkommen gestiegen, doch leben dort nach absoluten Zahlen die meisten Armen der Welt.

In China wie in Indien ist das Durchschnittseinkommen gestiegen, doch leben dort nach absoluten Zahlen die meisten Armen der Welt.
Bildquelle: GTZ / Michael Kottmeier

In seinen Veröffentlichungen zum post-modern state steht das Überleben der vormals „Ersten Welt“ im Zentrum, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass seine Sichtweisen von manchen Kommentatoren als die eines europäischen Samuel Huntington apostrophiert wurden. Nach seinem Drei-Welten-Konzept bedürfen die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen einer Neustrukturierung und erlauben etwas, was seit Beginn der Dritte-Welt-Debatte – also seit Ende des Zweiten Weltkrieges – ausgeschlossen war: das Wiederanknüpfen an patrimoniale Beziehungen zwischen Erster und Dritter Welt. Die existierende Konstellation erfordere einen wohltätigen „neuen Imperialismus“ als Antwortstrategie auf einen als „prämodern“ bezeichneten Terrorismus. Cooper argumentiert, eine neue internationale Weltordnung legitimiere autoritäre Eingriffe durch einen „neuen Imperialismus des Westens“, der unter Vermeidung des amerikanischen hegemonialen Ansatzes und auch bei Ablehnung der europäischen Einbindungsstrategie in Konfliktherden wie Afghanistan, Bosnien und Kosovo strukturbildend tätig werden könne. Robert Cooper erklärt explizit: Ursächlich dafür, dass eine prämoderne Welt entstanden sei, sei die Beendigung des Imperialismus und die mit dem Imperialismus verbundene negative Konnotation. Heute gebe es keine Kolonialmächte mehr, die bereit wären, die Welt zu ordnen. Dabei sei der Bedarf wahrscheinlich höher einzuschätzen als im 19. Jahrhundert. Das ist starker Tobak. Diese Überlegungen – als Antwort auf das US-amerikanische unipolare Weltsystem verstanden – decken gravierende Widersprüche auf, die durchaus mit der auseinanderklaffenden Entwicklungsschere in Verbindung gebracht werden können. Hat sich die Erkenntnis, die Staaten des „Südens“ könnten in der Entwicklung zu den Industrienationen unmöglich aufschließen, in einer Weise verfestigt, dass neue Ausgrenzungen und Abhängigkeiten billigend in Kauf genommen werden? Gelten das Freihandelsparadigma und der Washington Consensus – also die Regelung des Welthandels nach neoliberalen Prinzipien durch den Abbau von Handelsschranken, durch Deregulierung und Privatisierung von öffentlichen Aufgaben und Ressourcen sowie durch Zulassung ausländischer Direktinvestitionen – nur für die Verbesserung der Lebensverhältnisse im „Westen“? Wird der Rest der Welt zur verlängerten Werkbank und zu einem wohlfeilen Absatzmarkt degradiert? Werden regionale Entwicklungen, die nicht mit westlichen Wertevorstellungen übereinstimmen, nicht nur toleriert, sondern dadurch aktiv mitgestaltet, dass unterschiedliche ethische Messlatten angelegt werden?

Fragile Staaten

Die globalen Herausforderungen der Gegenwart sind von substanziellen Widersprüchen geprägt: Einerseits verführen vereinheitlichende Tendenzen, die ihren Ausdruck in medialer Kommunikation, Konsummustern, Moden, aber auch in technologischen Standards, Qualitätskontrollen, Berichtssystemen und Verwaltungsvorschriften finden, zur Annahme, die Staaten entwickelten sich einheitlich. Andererseits zeigt nicht nur die ökonomische Kluft, dass die Welt auseinanderdriftet. In der globalisierten Welt behaupten sich diejenigen Staaten in besonderem Maße, die Deregulierung und Marktorientierung mit rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen und Spielregeln verknüpfen. Wo solche Maßnahmen greifen, können möglicherweise brachliegende Potenziale ausgeschöpft werden, obwohl es dafür bislang keine Garantien und Erfahrungswerte gibt. In sogenannten failed states, in denen Willkür herrscht sowie verbindliche Rechtsordnungen und das staatliche Gewaltmonopol nicht durchgesetzt werden können, eröffnen sich Chancen für kriminelle Machenschaften, die durchaus von globalisierten Austausch- und Kommunikationsformen profitieren. Das Phänomen des Staatszerfalls beschäftigt die Akteure auf der Weltbühne: Nach Angaben der Weltbank gibt es 30 low-income countries under stress, während die britische Entwicklungsagentur Department for International Development 46 „fragile Staaten“ identifiziert hat. Nur 20 zerfallende Staaten habe die CIA ausmachen können, befand die renommierte Zeitschrift Foreign Policy, die seit 2005 auf Basis von zwölf Kriterien einen eigens entwickelten Failed States Index präsentiert.

Entwicklung nach westlichem Vorbild?

Gerade das Bild des Staatszerfalls hat den Apologeten des „Endes der Dritten Welt“, den Braunschweiger Politologen Ulrich Menzel, zu einer Abkehr von seinen Ansichten aus den 1990er Jahren veranlasst. Unter Bezug auf den Souveränitätsbegriff von Cooper adelt Menzel Staatlichkeit zum Klassifikationsprinzip dreier Welten: Die Europäische Union als multilateraler Kosmos verkörpere dabei die postmoderne Welt, während sich in der modernen Welt Länder wie die USA, China, Russland, Indien, Israel und Brasilien versammeln, die der Idee des Nationalstaats verhaftet sind. Sie pochen auf ihre alleinige Souveränität, von der sie geflissentlich kaum etwas an supranationale Gebilde abzugeben gewillt sind. Die neue „Dritte Welt“ sei mit der prämodernen gleichzusetzen. Menzel scheut sich nicht, den abwertenden Vergleich mit dem „neuen Mittelalter“ zu bemühen, in dem sich diese als schwach und vom Zerfall bedroht charakterisierten Staaten befänden. Afrika südlich der Sahara, Zentralasien und die Andenstaaten Lateinamerikas symbolisieren in seiner Lesart große zusammenhängende räumliche Gebilde. Bei Menzel geraten Kategorien und Klassifikationen in einen Konflikt miteinander, der fragen lässt, ob Beliebigkeit im Spiel ist oder ein Rückfall in Betrachtungsschemata der klassischen Modernisierungstheorie zu konstatieren ist, der zufolge Entwicklung nur nach westlichem Vorbild in säkularisierten und demokratisierten Nationalstaaten möglich ist. Die Gleichzeitigkeit der trichotomischen Aufteilung und Zugehörigkeit zu kategorisierten Räumen wird in einem evolutionistischen raumzeitlichen Modell aufzufangen versucht, das vom Mittelalter bis heute reicht.

Der Erklärungsnotstand in einer unübersichtlichen Welt „schreit“ geradezu nach Hilfskategorien und Ordnung. Festzuhalten bleibt, dass die Theorie-Debatte vielfältig bleibt. Je nach Erkenntnisinteresse stehen strukturierende Perspektiven auf die politökonomischen Teilungen der Welt im Vordergrund. Gleichzeitig wird individuelles und kollektives Handeln untersucht, wenn die Handlungsspielräume unterschiedlicher Akteure in einer machterfüllten Umwelt im Zentrum stehen. Möglichkeiten und Grenzen für arme Länder, in der Entwicklung aufzuholen, scheiden jedoch weiterhin die Geister und charakterisieren damit auch Strategievorstellungen zur Überwindung von Armut.

Regionale Spannungen nehmen zu

Das Auseinanderklaffen der Entwicklungsschere ist ein allseits zu beobachtender und deutlich dokumentierter Trend. Gleichzeitig haben sich internationale Organisationen eine Überwindung der Ungleichheiten auf die Fahnen geschrieben. In Erinnerung an das erfolgreiche Entwicklungsmodell der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg fordern manche einen Global Marshall Plan und dessen Lenkung durch die Europäische Union. Allgemein zu beobachten ist jedoch, dass weltweit spannungsreiche Beziehungen im Rahmen zwischenstaatlicher Konflikte und terroristischer Bedrohungen zunehmen. Die guten Aussichten für eine „Friedensdividende“, die vor 20 Jahren im Zuge einer weltweit erstrebenswert erscheinenden Abrüstung vermutet wurden, sind verpufft; sie haben sich teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Die Rüstungsausgaben steigen weltweit, das hohe Rüstungsniveau des späten Kalten Krieges ist wieder erreicht, die Bundesrepublik Deutschland wurde zum drittgrößten Waffenexporteur. Die globale Finanzkrise trägt zu einer Verschärfung der Kluft bei, zumal Entwicklungsausgaben leicht dem Sparzwang geopfert werden.

Im Vergleich mit den Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung fällt der Ausgabenanteil für Entwicklungsanstrengungen wesentlich bescheidener aus. Obwohl allseits bekannt und anerkannt, dass es einen Zusammenhang zwischen Sicherheit, Frieden und Wohlstandsentwicklung gibt, scheint es eher bei Absichtserklärungen zu bleiben, anstatt dass konkrete und wirksame Schritte folgen. Damit wird die Schere zwischen Arm und Reich sich wohl weiter öffnen: Die Vordringlichkeit des Problems aus Ungleichheit und Armut wird weiterhin in ihrer raumzeitlichen Reich- und Tragweite unterschätzt.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Hermann Kreutzmann

Freie Universität Berlin, Institut für Geographische Wissenschaften, Zentrum für Entwicklungsländerforschung, Malteserstraße 74–100, 12249 Berlin

www.geo.fu-berlin.de/geog/index.html