Rolf Winau: Seit Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt
Seit Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt
Die Ausbreitung der Syphilis in Europa
von Prof. Dr. Dr. Rolf Winau
Die Anfänge
Singen will ich heut und sagen,
wie einst durch des Schicksals Mächte
Jener Same ward gesäet
Einer Krankheit, die gar seltsam
Ferne Zeiten nie gesehen
Aber heute ganz Europa,
Asien, das ferne Libyen,
Hat durchwütet; wie die Seuche
Ihren Namen hat empfangen
Durch die Gallier, die damals
– Schreckenvollen Krieges Folge –
Latium damit beglückten.
So beginnt das Gedicht, das der gelehrte Arzt und Humanist Girolamo Fracastoro (1483–1553) 1530 in Verona erscheinen ließ und das den Titel trägt „Syphilidis sive morbi gallici libri tres“, drei Bücher von der Syphilis oder der gallischen Krankheit. Ohne jede Vorwarnung war sie im Jahr 1495 in und um Neapel aufgetreten, hatte sich in Windeseile über Europa verbreitet. Kaum jemand schien vor ihr sicher zu sein.
Frankreichs junger König, Karl VIII. (1470–1498), suchte seine Erbansprüche auf Neapel mit einem Kriegszug durchzusetzen. Im Frühjahr 1494 zog er mit über 30.000 Mann von Lyon durch Italien nach Süden. Dem Söldnerheer gehörten Schweizer, Niederländer, Franzosen und Spanier an. Wie üblich folgte dem Heer ein Tross von Marketenderinnen und Soldatendirnen. König Ferdinand von Neapel suchte ebenfalls ein Söldnerheer anzuwerben. Auch in ihm finden sich viele Spanier. Sie waren es, die den Keim der neuen Krankheit in sich trugen, den die Matrosen des Kolumbus bei ihrer Rückfahrt mitgebracht hatten und der in Spanien zum Aufflackern der neuen Krankheit geführt hatte.
Im Februar 1495 zog das Heer Karls in Neapel ein, die Verteidiger hatten sich in das Castel Nuovo und das Castel dell’ Uovo zurückgezogen, in dem sie sich nach drei Wochen ergaben und mit dem Heerhaufen Karls vereinigten. Achtzig Tage lang wurde in Neapel ein rauschendes Fest gefeiert, bevor Karl nach Norden zog; immer mehr Söldner verließen sein Heer. Zwischen Februar und Mai ergriff die Krankheit nicht nur die Heere und Dirnen, sondern auch die Bevölkerung Neapels und anderer italienischer Städte. In einer Chronik von Florenz heißt es:
„Es wird nicht unangemessen sein, der neuen Krankheit zu gedenken, welche in diesen Zeiten nach Italien kam, und die man französische Krätze nennt. Sie verbreitet sich nach allen Teilen der Welt, verursacht heftige Schmerzen, dauert acht bis zehn Monate, verbreitet sich im Laufe eines Jahres über den ganzen Körper nach Art einer schweren Krätze und unter einem pockenähnlichen Ausschlag, ist mit einem üblen Geruch, Verderbnis und Entstellung des davon ergriffenen Körpers verbunden“.
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Die Syphilis war bei ihrem ersten Auftreten in Europa also keine diskrete Krankheit, sondern äußerte sich als schwerste Allgemeinerkrankung.
Dies, die zeitliche Übereinstimmung und die Verweise zeitgenössischer Autoren lassen heute keine Zweifel mehr daran, dass die Syphilis eine für Europa neue Krankheit war, die wahrscheinlich aus Amerika eingeschleppt worden war. Dass die Europäer auf diese Krankheit viel heftiger reagierten als die Amerikaner macht deutlich, dass sie hier auf jungfräulichen Boden fiel.
Die Ausbreitung
Nur so ist auch die schnelle epidemische Ausbreitung über ganz Europa in nur fünf Jahren zu verstehen. Stets wird schon von Zeitgenossen der Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Seuche und dem Auftauchen der Landsknechte gesehen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit war entlang der großen Flüsse sehr hoch, so wanderte die Syphilis im Rheingraben in einer Woche durchschnittlich 50 km weiter. Diese präzisen Angaben lassen sich machen, weil kein Chronist es versäumte, den ersten Fall in seiner Stadt zu beschreiben – ein weiterer Hinweis darauf, dass die Krankheit bis dahin unbekannt war.
Der Name
Die Krankheit hatte bei ihrem ersten Auftreten in Europa keinen Namen. Allein aus den ersten 100 Jahren ihrer Existenz sind 450 verschiedene Bezeichnungen bekannt. Die Namen lassen sich in fünf Hauptgruppen aufteilen: eine erste Gruppe umfasst Namen, die das äußere Erscheinungsbild beschreiben, z. B. Morbus pustulatus. Eine zweite Gruppe nimmt Bezug auf die befallenen Körperteile, z. B Pustulae obscoenae. Wie bei der Pest haben auch bei der Syphilis Heilige der Krankheit ihren Namen gegeben: zu ihnen gehörten Hiob und Rochus. Die vierte Gruppe geht in ihren Namen auf die vermeintlichen Ursachen der Krankheit ein: Lues venerea, Lues aphrodisiaca. Die fünfte Gruppe benennt die Krankheit nach ihrem angeblichen Herkunftsland und lässt so die Wanderung der Syphilis durch Europa rekonstruieren: in Italien spricht man vom Mal francese, vom Morbus Gallicus, von der Lues celtica; die Franzosen hingegen nennen sie Mal de Naples, Mal napolitain. In Spanien heißt sie Mal frances, in Portugal Morbus Castilanus, Mal francez, aber auch Mal de Naples. In den deutschsprachigen Ländern sind Namen wie Gallische Krankheit, Mal franzos am gebräuchlichsten. England benennt Frankreich und Spanien als Ausgangsland: French Pox und Spanish Pox, in Schottland existiert dafür der Name Englische Krankheit, die Norweger hinwieder sprachen von der Schottischen Krankheit. Und während die Polen mit ihren Bezeichnungen den Ausgangsort der Krankheit nach Frankreich und Neapel legten, gab es in Russland den Begriff Polnische Krankheit. Der Name ‘Syphilis’ wurde in den ersten Jahrzehnten nicht benutzt. Um ihn zu erklären, müssen wir zum zitierten Gedicht des Girolamo Fracastoro zurückkehren.
Im Titel hatte er das neue Wort verwendet und die Krankheit nach dem Helden seiner Erzählung Syphilus genannt: Fracastoro schildert im dritten Buch die Fahrt eines Entdeckers in die neue Welt. Dort töten die Seefahrer die heiligen Vögel des Sonnengottes und einer von diesen prophezeit ihnen vor seinem Tod:
Bald wird kommen der Tag,
Wo entstellen wird Euch Seuche,
Die Euch zwingt in diesem Walde,
Dessen heiliges Asyl
Übermütig Ihr verletzt habt,
Heilung suchen. Denn Apollo
wird Euch zur Verzweiflung treiben,
Bis den Frevel Ihr bereut.
Auf einem Fest für den Sonnengott sehen die Seefahrer nicht nur von der Krankheit gezeichnete Menschen, sie erfahren auch die Geschichte dieser Krankheit: Der Hirte Syphilus, ergrimmt über die Hitze der Sonne, fällt vom Kult des Sonnengottes ab, erklärt seinen König zum neuen Gott und führt das ganze Volk zum neuen Kult. Diesen Frevel bestrafte der Sonnengott mit der neuen Krankheit.
Syphilus packt sie als ersten.
Schlimm wird ihm der Leib zerfressen
Von gar garstigen Geschwüren,
Schmerzend reißt es in den Gliedern,
Seine Nächte flieht der Schlaf.
Und nach ihm benennt die Menschheit
Heute noch die gleiche Seuche,
Es empfängt von ihm die Krankheit
Nun den Namen: Syphilis.
Den Namen Syphilus dürfte der Humanist Fracastoro der antiken Mythologie entlehnt haben. Bei Ovid heißt der zweite Sohn der Niobe Sipylus.
Wenn sich auch viele zeitgenössische Autoren darüber einig waren, dass die Krankheit aus Amerika eingeschleppt worden sei, so verlangten doch Ärzte und Laien nach einer Erklärung, warum die Krankheit ausgerechnet zu dieser Zeit Europa heimsuchte. Es entstanden Theorien, die auf diese Frage eine Antwort zu geben suchten.
Die Ätiologie
Am meisten verbreitet war die astrologische Theorie. Sie entsprach einem mittelalterlichen Verständnis der Welt, in der Mikrokosmos und Makrokosmos aufeinander bezogen waren – eine Auffassung, die bei den Alchemisten und vor allem bei Paracelsus in ein großartiges Gebäude der Welt- und Krankheitssicht eingehen sollte. Besondere Konstellationen der Gestirne mussten danach einen unheilvollen Einfluss auf die Menschen haben. So sah man in der großen, alle 500 Jahre wiederkehrenden Konjunktion des Saturns und des Jupiters am 25. November 1484 im Zeichen des Skorpions und im Hause des Mars den astralen Ursprung der Krankheit, zehn Jahre vor ihrem irdischen Ausbruch.
Neben der astrologischen Theorie gab es eine zweite, die theologische. Im Mittelpunkt steht die Auffassung, dass Krankheiten von Gott zur Strafe oder zur Prüfung gesandt werden. Was lag näher, als bei einer Krankheit, die vornehmlich und zuerst die Geschlechtsteile befiel und deren Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr man früh erkannte, an eine Strafe für Verfehlungen auf sexuellem Gebiet zu denken. Die Syphilis wurde als Strafe für die Unzucht gesehen. Diese These wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder vertreten.
Die Definitionen, was denn Unzucht sei, änderten sich: Dem einen war es der außereheliche Verkehr, dem anderen die Promiskuität, wieder anderen die Polyandrie der Dirnen, den Geschlechtsverkehr mit vielen Männern, die nächsten sahen die Syphilis als Strafe für übermäßigen Beischlaf, selbst unter Eheleuten, andere schuldigten die Sodomie mit ihren verschiedensten Formen an. Diese theologische Theorie wurde nicht nur von Priestern, sondern auch von Ärzten herangezogen.
Aber auch hier regte sich früher Widerstand. „Einige beziehen die Ursache dieser Krankheit auf Gott, der diese Krankheit geschickt habe, da er will, dass die Menschen die Sünde der Unzucht vermeiden. Deswegen verband er mit dem Beischlaf solche Gefahren, dass manche diese Krankheit die ‘Göttliche’ genannt haben. Und warum, wenn Gott gegen die Unzucht losgefahren ist, warum ist er es nicht gegen die Wucherer, Wegelagerer, Räuber und Mörder, die doch viel grausigere Missetaten begehen, als die, die den Beischlaf ausübten. Denn der Geschlechtsgenuss ist für Jedermann eine natürliche Sache... Lasst uns also wie Hippokrates in seinem Buch über die heilige Krankheit sagen, dass diese Krankheit nicht heiliger sei als alle anderen.“
Räucherung mit Zinnober zur Behandlung der Syphilis war der Behandlung anderer Hautkrankheiten entnommen |
Nach den Vorstellungen der hippokratischen Medizin, die um die Wende zur Neuzeit das medizinische Denken beherrschte, musste die Syphilis aus einer Störung der Säfte hervorgehen. Für jeden Menschen konstituierten die vier Körpersäfte Blut, Schleim, Galle und Schwarze Galle in einer je eigenen Mischung, der Eukrasie, die Gesundheit. War das Verhältnis der Säfte zueinander gestört, so sprach man von Dyskrasie, der Mensch war krank. Ein Übermaß an Schwarzer Galle, jenem hypothetischen vierten Saft, wird für die Syphilis verantwortlich gemacht.
Die Therapie
Und schließlich gab es schon in den frühen Jahren der Syphilisforschung die Vorstellung, dass die Krankheit durch einen spezifischen Krankheitserreger, durch ein Kontagium hervorgerufen werde. Wieder war es Girolamo Fracastoro, der diese Vorstellung zuerst zur Diskussion stellte. 1546 erschien seine Schrift „De Contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres“, drei Bücher von den Kontagien, den ansteckenden Krankheiten und deren Behandlung. Sie ist der erste moderne Erklärungsversuch der Infektionskrankheiten. Nicht unkörperliche Miasmen, wie die Humoralpathologie sie forderte, sondern einen konkreten Krankheitssamen macht Fracastoro für diese Krankheiten verantwortlich, der auf viererlei Weise übertragen werden könne: Durch direkten Kontakt, per Distanz, durch Tröpfcheninfektion und durch den „Zunder“, durch Krankheitssamen tragende Gegenstände, vor allen Dingen Kleider und Wäsche. In seine Überlegungen bezog Fracastoro nicht nur die Pest, sondern auch die Syphilis ein.
Zunächst standen die Ärzte der neuen Krankheit hilflos gegenüber. Dann besann man sich auf jenes Mittel, das schon von der Antike an Eingang in die Therapie der Hautkrankheiten gefunden hatte: das Quecksilber. Eine Quecksilberschmierkur gliederte sich in drei Teile. Zunächst wurde eine fünftägige Vorbereitungskur mit Abführmitteln und Bädern durchgeführt, dann folgte die Schmierkur mit der Quecksilbersalbe, die bis zu 40 Tage lang stets an verschiedenen Stellen des Körpers, vor allem aber an Beinen und Armen, aufgetragen wurde. Dabei wurde der Patient aufgefordert, die Kur so lange durchzuhalten, bis die Zähne schmerzten, übermäßiger Speichelfluss wurde als Zeichen der Heilung im humoralpathologischen Sinne gedeutet. Schließlich wurde abschließend eine Schwitzkur empfohlen. Ähnlich wie im Speichel sollte im Schweiß die schädigende Materie aus dem Körper entfernt werden. Ulrich von Hutten hat eine solche qualvolle Tortur elfmal erfolglos durchgemacht. 1519 schrieb er: „Aus drei-, oder vierlei oder mehr von diesen Medikamenten verfertigten sie eine Salbe und schmierten damit Arm- und Beingelenke ein. Die Kranken wurden in eine Hitzstub eingeschlossen, die ununterbrochen und sehr stark geheizt wurde, die einen 20, die anderen 30 Tage lang, einige auch noch länger. Da floss durch Rachen und Mund die Krankheit ab mit einem so gewaltigen Schaden, dass die Zähne herausfielen. Das Zahnfleisch schwoll an, die Zähne wackelten, der Speichel floss ohne Unterlass aus dem Mund.“ Noch gefährlicher als die Schmierkuren waren die Räucherungen mit Zinnober in einem Zelt oder einem Fass.
Das aus Amerika eingeführte Guajakholz galt wegen seines Ursprungs als ein wirksames Mittel zur Therapie der Syphilis |
Die Quecksilberbehandlung blieb trotz ihrer Opfer für Jahrhunderte die beherrschende Syphilistherapie, der nichts vergleichbares an die Seite gestellt werden konnte, denn das andere Heilmittel, das Guajakholz, konnte nicht halten, was seine Importeure von ihm erwarteten.
Als Heiliges Holz, als Wunderbaum, als Hoffnung der Menschen, als Ruhm der Neuen Welt wurde es gepriesen. Aber schnell zeigte sich, dass auch das Guajak kein wirkungsvolles Heilmittel war.
Prophylaxe
Wirkungsvoller war eine gezielte Prophylaxe. Auf der einen Seite die obrigkeitlichen Gebote und Verbote, beziehungsweise die Forderungen nach solchen. Auf der anderen Seite ärztliche Anweisungen zur persönlichen Hygiene. Von 1496 an gibt es die ersten gesetzlichen Regelungen, so in Nürnberg, wo den Badern geboten wird, Menschen, die an der neuen Krankheit leiden, nicht in ihr Bad zuzulassen, und ihr chirurgisches Gerät, das sie beim Besuch von Syphiliskranken benutzen, nicht weiter zu gebrauchen. Dies war sicher wirkungsvoller als die Pilulae praeservantes, die Kaiser Maximilian gebrauchte, wirkungsvoller auch als Fürbitten und Gebete. Schon 1497 hatte man, ebenfalls in Nürnberg, versucht, die „fremden Kranken an den Franzosen“ nicht in die Stadt zu lassen. Ein Unterfangen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Isolierungsversuche für Syphiliskranke hat es danach immer wieder, vor allem in den Reichsstädten, gegeben. Der Erfolg dieser Maßnahme war gleich Null.
Es ist kein Wunder, dass auch wortgewaltige Prediger sich der Sache annahmen. Jacob Wimpfeling sah die Möglichkeit, gegen die Dirnen zu wettern: „Fürchte und fliehe die Dirnen! Fürchte sie, dass nicht Lepra, nicht gallische Krankheit dich beflecke. O‘ wie viele Jünglinge, wie viele Männer haben sich durch feile Dirnen das Leiden Frankreichs zugezogen.“
1497 wird zum ersten Mal die Vermeidung der Ansteckung durch direkten Kontakt gefordert: „Hauptsächlich aber vermeide man den Verkehr mit pustulösen Frauen, aber auch mit gesunden, denen kurz vorher ein pustulöser Mann beigewohnt hat; denn schon ist durch Erfahrung bekannt, dass der einem Pustulösen Nachfolgende frisch angesteckt wird.“
Persönliche Hygienemaßnahmen werden empfohlen, so das Waschen des Penis nach dem Beischlaf mit lauwarmem Wein, das Auswaschen der Scheide mit lauwarmem Wasser oder Wein, oder Leinenlappen mit einer bestimmten Tinktur getränkt und vor dem Verkehr um den Penis gebunden. Solche Streifen sollte jeder Mann im Geldbeutel oder in der Hosentasche stets bei sich haben. Auch die Zinnoberräucherung nach dem Geschlechtsakt gilt als Prophylaktikum.
Das Bad spielte im Leben des mittelalterlichen Menschen eine zentrale Rolle, nicht nur als Ort der Reinigung, sondern vor allem als Mittelpunkt sozialen Lebens. Dies änderte sich mit dem Auftreten der Syphilis – ein Lebens- und Körpergefühl wandelte sich |
Konsequenzen
Auf zwei Folgen der Syphilis soll hier hingewiesen werden: Auf den Verfall der Badekultur und die Änderung der Sexualmoral und der Lebensgewohnheiten der Bevölkerung. Das Bad spielte in der mittelalterlichen Kultur eine große Rolle. Es war Ort der Reinigung, der medizinischen Versorgung und Kommunikationszentrum, in dem man sich traf, Geschäfte tätigte und Familienfeiern beschloss. Zwar gab es auch getrennte Bäder für Männer und Frauen, aber häufig badete man gemeinsam im gleichen Zuber, über den ein Brett gelegt wurde, auf dem Speise und Trank geboten wurden. Poggio beschreibt in seinen Briefen das Badeleben in Baden bei Zürich: „Im Wasser speisen sie, oft auf gemeinsame Kosten, ein geschmückter Tisch schwimmt auf dem Wasser und auch Männer pflegen teilzunehmen. Wir sind in dem Hause, in dem wir badeten, einmal zu einem solchen Fest geladen worden. Ich habe meinen Beitrag bezahlt, wollte aber nicht teilnehmen, nicht aus Schamgefühl, das für Feigheit oder Unbildung gehalten wird, sondern weil ich die Sprache nicht verstand. Aber zwei meiner Gesellen sind in das Bad gegangen, mit großer Herzensheiterkeit, haben mitgetan, mitgetrunken, mitgespeist. Ich sah von der Galerie aus alles, die Sitten, die Gewohnheiten, die Freiheit und die Ungebundenheit der Lebensart. Es ist merkwürdig zu sehen, in welcher Unschuld sie leben.“ Im selben Brief heißt es: „Keiner argwöhnt etwas Unschickliches“.
Wir machen uns von der Unbefangenheit der Sexualmoral des späten Mittelalters heute kaum die rechte Vorstellung, tragen wir doch noch immer das Bild vom „finsteren Mittelalter“ mit uns herum: Unterdrückung des Geschlechtsverkehrs galt als krank machend, der Besuch des Frauenhauses galt als normal, die Dirnen spielten eine fest umrissene Rolle in der Gesellschaft. Der Besuch des Frauenhauses konnte durchaus auf ärztlichen Rat erfolgen, Gefangenen gab man Zeit und Geld, um das Frauenhaus aufzusuchen. Der Besuch des Frauenhauses musste nicht in Heimlichkeit, sondern konnte in aller Offenheit geschehen.
„Die venerische Krankheit“, so schrieb Schopenhauer, „erstreckt ihren Einfluss viel weiter als es auf den ersten Blick erscheinen mag, in dem derselbe keineswegs ein bloß physischer, sondern auch ein moralischer ist. Seitdem Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhältnis der Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindseliges, ja teuflisches Element gekommen, infolge wovon ein finsteres und furchtsames Misstrauen es durchzieht, und der mittelbare Einfluss einer solchen Änderung in der Grundfeste aller menschlichen Gesellschaft erstreckt sich mehr oder weniger auch auf die übrigen geselligen Verhältnisse.“ Im Gefolge der Syphilis verfielen Bordelle und Bäder: „Wer den einen Fuß im Frauenhaus hat, hat den anderen im Hospital“, wurde zum Sprichwort. Aber nicht nur die Institutionen verfielen. Ein Lebensgefühl wandelte sich.
Auch in den frühen Mineralbädern badeten Männer und Frauen nackt in aller Öffentlichkeit, hier im Leukerbad |
Anmerkung
Ich zitiere Fracastoros Gedicht nach der deutschen Übersetzung von Ernst Alfred Seckendorf aus dem Jahre 1930, die erst 1960 von Walther Schönfeld herausgegeben wurde. Seckendorf, ein jüdischer Dermatologe in Fürth, der bedeutende Beiträge zur Syphilisforschung geliefert hat, wurde 1938 aufgrund der Nürnberger Gesetze zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, 1942 in das Straflager Rottgau/Dieburg verlegt und ist dort unter nicht geklärten Umständen zu Tode gekommen. Das Amtsgericht Fürth hat am 20.4.1950 fälschlicher Weise den 31.12.1941 als Zeitpunkt des Todes festgesetzt. Dem Andenken Ernst Alfred Seckendorfs ist dieser Beitrag gewidmet.
Literatur
- Syphilidis sive morbi gallici libri tres in der Übersetzung von Ernst Alfred Seckendorf. Eingeleitet von Walther Schönfeld, Kiel: Lipsius 1960 (= Schriftenreihe der Nordwestdeutschen Dermatologischen Gesellschaft 6).
- Iwan Bloch: Der Ursprung der Syphilis, eine medizinische und kulturhistorische Untersuchung, 2 Bde Jena: Fischer 1901/1911.
- Claude Quetel: History of Syphilis, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1990.
- Ernst Bäumler: Amors vergifteter Pfeil, Kulturgeschichte einer verschwiegenen Krankheit, 2.Aufl. Frankfurt: Wötzel 1997.
- French, Roger (Hg.): Medicine from the Black Death to the French Disease, Alderhof: Ashgate 1998.