Gerüchte vom Smartphone ins Fernsehen und wieder zurück
Über soziale Netzwerke und digitale Medien verbreiten sich Nachrichten heute fast in Echtzeit, das hat auch Konsequenzen für unser Sicherheitsgefühl. Wie Politik,Sicherheitsbehörden und Medienvertreter mit der beschleunigten Berichterstattung umgehen
10.12.2017
Bei Kriegen und Krisen ist die Welt über soziale Netzwerke und digitale Medien live dabei. Doch nicht nur aktuelle Informationen, sondern auch Gerüchte und Falschmeldungen verbreiten sich in rasender Geschwindigkeit. Das hat Auswirkungen auf das Sicherheitsempfinden der Nutzer.
Es ist der 22. Juli 2016, ein schwülheißer Sommertag, als um 17:52 Uhr ein Notruf bei der Münchner Polizei eingeht. Schüsse in einem Schnellrestaurant im Olympia- Einkaufszentrum, mit Toten und Verletzten. Wenig später rücken die ersten Polizisten an. Doch bevor sie klären können, was geschehen ist, verbreiten sich Gerüchte von weiteren Schießereien über soziale Netzwerke und digitale Medien wie ein Lauffeuer in der Stadt.
Als um 18:49 Uhr Schüsse am Stachus gemeldet werden, im Herzen der Münchner Innenstadt, ist die Polizei auch hier zur Stelle. Ein Nutzer filmt den Einsatz und sendet die Bilder live über die Videoplattform Periscope. Bald sind mehr als 100.000 Menschen online dabei. Fernsehsender stürzen sich auf das Material. Schon kurze Zeit später wird auf dem Kurznachrichtendienst Twitter über einen Terroranschlag spekuliert. Auch Radiostationen unterbrechen bald ihr Programm, vermelden „Terror in München“. Eine Fehleinschätzung.
Unter den Bewohnern der ansonsten so gemütlichen Stadt bricht Panik aus. Am Ende der Nacht hat die Münchner Polizei 67 Einsätze an 67 Orten. 66 Mal ist es falscher Alarm. Schließlich stellt sich heraus, dass nicht ein Terrorist der Täter war, sondern ein 18-jähriger Schüler. Er ist in dem Olympia-Einkaufszentrum Amok gelaufen. Während der angeblichen Schießerei am Stachus hatte er sich längst in einer Wohnanlage verschanzt.
Wie viele andere Krisen hat die Münchner Amoknacht Fragen aufgeworfen, die auch Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler wie Alexander Görke beschäftigen. Führen digitale Nachrichtenticker und soziale Netzwerke nicht nur zu aktuelleren Informationen, sondern auch zu größerer Unübersichtlichkeit? Zu mehr Angst und Unruhe in der Bevölkerung?
Keine Zeit für den Faktencheck
Alexander Görke, Professor an der Arbeitsstelle Wissenskommunikation der Freien Universität Berlin, befürchtet genau das. „Die Geschwindigkeit in der Berichterstattung hat stark zugenommen“, sagt er. Je größer die Krise, desto größer das Bedürfnis nach schnell verfügbaren Informationen. Sind die jedoch widersprüchlich oder erweisen sie sich gar als falsch, verstärken sie Gefühle von Panik, Unsicherheit und Chaos. Görke spricht von einer „Dauer-Irritation“, die durch soziale Netzwerke angeheizt werden kann.
Während des Vietnamkriegs in den 1960er-Jahren habe es 36 Stunden gedauert, bis die TV-Anstalten Aufnahmen aus dem Kriegsgebiet in die Wohnzimmer der Menschen senden konnten. Bei der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 dagegen war Bildmaterial sofort über soziale Netzwerke verfügbar, so wie während der Münchner Amoknacht. Die Welt ist bei den Krisen live dabei, die Menschen sind in permanenter Alarmbereitschaft. Unser inneres Sicherheitsgerüst gerät ins Wanken.
Die Bürgerreporter, die mit dem Smartphone in Höchstgeschwindigkeit filmen, fotografieren und Schlagzeilen verbreiten, geben mittlerweile auch professionellen Journalisten den Takt vor. „Denen fehlt oft die Zeit, Informationen einzuordnen, Fakten zu checken und eine Geschichte rund zu erzählen“, sagt Görke. Das aber sei die Aufgabe von Journalisten. Doch die journalistischen Sicherungssysteme hätten im Fall des Münchner Amoklaufs teilweise versagt. Fehlinformationen hätten sich von sozialen Medien auf TV-Bildschirme und Nachrichtenseiten verbreitet – und wieder zurück. „Alle gieren nach Informationen, das Bedürfnis muss bedient werden – so entfaltet sich eine regelrechte Sogwirkung“, sagt Görke. Wer zu langsam ist, verliert den globalen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Bild. de lieferte nach dem Nuklearunglück von Fukushima Videos zwischenzeitlich sogar mit japanischen Untertiteln, da Informationen im japanischen Fernsehen erst später verfügbar waren.
Die Berichterstattung über Krisen und Konflikte spiegelt sich derweil in den Ängsten der Deutschen wider. Einer Studie der R+V Versicherung von diesem Jahr zufolge fürchten sich gegenwärtig 71 Prozent vor Terrorismus, 62 Prozent vor politischem Extremismus und 61 Prozent vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern. Noch 2013 lagen an der Spitze der Angstskala Geldentwertung, Naturkatastrophen und Pflegeprobleme im Alter.
Risiko und Gefahr: Wovor wir Angst haben
Auch die Sicherheitsbehörden bekommen diese Verschiebung zu spüren. Länger als ein Jahr nach der Münchner Amoknacht, im September 2017, sitzt Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins auf dem Podium bei einer Diskussion der Akademie für politische Bildung in Tutzing bei München. Seine souveräne, sachliche Art während des Münchner Amoklaufs, mit der er Falschmeldungen entkräftete und Ordnung ins Chaos brachte, wurde stets gelobt. Auch heute spricht er sicher und mit ruhiger Stimme, sein Scheitel ist akkurat gezogen.
München gilt seit Jahren als sicherste Millionenstadt Deutschlands. Dennoch seien Teile der Anwohner verunsichert, sagt da Gloria Martins, besonders vor Großveranstaltungen wie dem Münchner Oktoberfest: „Da kommen Fragen wie: Kann ich überhaupt noch sicher in die Stadt? Kann ich bedenkenlos mit der S-Bahn fahren?“
Tatsächlich ist das Risiko äußerst gering, in Europa von einem Amoklauf oder Terroranschlag betroffen zu sein. Im Schnitt waren es in den vergangenen 20 Jahren 48 Menschen jährlich, die durch Terror starben. In Deutschland ist es sogar weniger als einer pro Jahr. Auf einer Autofahrt einen tödlichen Unfall zu erleiden, ist also wahrscheinlicher. Warum aber verdrängen wir die eine Angst und überhöhen eine andere?
Alexander Görke hält es mit dem Soziologen Niklas Luhmann, der Sicherheit einst als soziale Fiktion bezeichnete. Die Wahrnehmung von Sicherheit, aber auch von Gefahren und Risiken, ist emotional geleitet. „Grundsätzlich nehmen wir Risiken eher in Kauf, die wir freiwillig eingehen“, erläutert Görke. „Zum Beispiel, wenn ich mit dem Auto fahre oder mir aus eigenem Entschluss eine Tabakpfeife anzünde.“ So kommt es, dass wir Gefahren des Nikotingenusses oder der Raserei auf der Autobahn nicht so ernst nehmen, die Willkür und die Zufälligkeit terroristischer Anschläge aber Angst und Furcht verbreiten.
Auch der Zuzug von Flüchtlingen, der vielen Menschen in Deutschland als ungeregelt erschien, verursacht offenbar Gefühle von Fremdbestimmung, Angst und Unsicherheit. „Dabei entstehen durch die Integration junger Menschen nicht nur Risiken, sondern in einer alternden Gesellschaft auch Chancen“, betont Görke.
Wie Politiker die Angst befeuern
Politiker populistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) aber halten dagegen, befeuern über Facebook-Kanäle die Unsicherheit. „Das Thema Sicherheit ist für sie eine nie versiegende Ressource“, sagt Görke. Noch dazu im Wahlkampf, wo die AfD auf „Negative Campaigning“ setzte. Dabei wird der politische Gegner in schlechtes Licht gerückt, um selbst besser dazustehen. Die AfD wetterte gegen SPD und CDU, die Migranten ins Land ließen und dadurch angeblich die innere Sicherheit gefährdeten. Ein im Juni an die Öffentlichkeit gelangtes Protokoll einer WhatsApp-Gruppe der AfD verrät allerdings mehr über den Gemütszustand der Partei und ihrer Anhänger als über echte Risiken und Gefahren im Land.
Die Mitglieder der Gruppe – meist Männer – formulierten in dem Chat unter anderem die Sorge, dass Migranten sexuell übergriffig werden könnten. „Dahinter könnte im Grunde die Angst stehen, dass alleinstehende Männer in aussterbenden Landkreisen wie in Mecklenburg- Vorpommern, wo die AfD stark ist, plötzlich Konkurrenz bekommen“, erläutert Görke. Gerade in strukturschwachen Gegenden leben bereits zu wenige Frauen. Die gut Ausgebildeten wandern ab. Die Zurückgebliebenen bringen ihre Ängste an den digitalen Stammtisch, also in die sozialen Netzwerke.
Facebook in die Pflicht nehmen
Wie aber soll die Gesellschaft der zunehmenden Angst vor Zuwanderung, Terror und Extremismus begegnen? Alexander Görke sieht hier nicht nur die klassischen Medien in der Pflicht. „Die Selbstbeobachtung gehört zu den journalistischen Aufgaben“, sagt Görke. Viele Redaktionen haben aus Krisen wie der Münchner Amoknacht Lehren gezogen. Sie wollen vorsichtiger mit unbestätigten Gerüchten umgehen, Nachrichten aus sozialen Netzwerken sorgfältiger prüfen.
Nachholbedarf sieht Alexander Görke bei den Global Playern der digitalen Medienwelt, also bei Konzernen wie Facebook. „Die verdienen in Deutschland gutes Geld, zahlen aber keine Steuern und nehmen ihre Sorgfaltspflicht nicht wahr“, bemängelt er. Zwar hat der Bundestag im Sommer das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) mit den Stimmen der großen Koalition verabschiedet, wonach die Plattformbetreiber offensichtlich strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden löschen müssen. „Das Gesetz ist ein Anfang, geht aber noch nicht weit genug“, sagt Görke. Die Betreiber müssten wie klassische Medienhäuser behandelt werden und nicht nur für Hasskommentare haften, sondern auch für Falschmeldungen. So wie sich eine Zeitungsredaktion für Fehler ihrer Redakteure verantworten muss.
„In den sozialen Netzwerken wird nach oben gespült, was früher in den Stammtisch-Niederungen der Eckkneipe geblieben ist“, sagt Görke. Dort habe der Wirt die Gäste zur Not rausgeworfen, bevor es zur Schlägerei kam. In den sozialen Medien funktioniert das nicht. Noch nicht. Für Alexander Görke wäre das aber dringend nötig.
Der Wissenschaftler
Wegen seiner Forschungsschwerpunkte Journalismus- und Medientheorie, Öffentliche Kommunikation sowie Krisen- und Risikokommunikation war der Kommunikationswissenschaftler Professor Alexander Görkes genau der richtige Ansprechpartner, als es um die Frage ging, inwieweit Medien für ein Gefühl der Unsicherheit mit verantwortlich gemacht werden können. Neben seiner Forschung an der Freien Universität leitet er auch unter anderem auch das Programm „Europäische Journalisten-Fellowships“ (EJF).
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Freie Universität Berlin
Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Arbeitsstelle Wissenskommunikation/ Wissenschaftsjournalismus
E-Mail: Alexander.Goerke@fu-berlin.de