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Not macht erfinderisch

Ein Historiker der Freien Universität hat erforscht, welche Ideen im damaligen Herzogtum Sachsen-Gotha entwickelt wurden, um die Ressource Wasser zu nutzen

03.12.2015

So sah die „Die Hochfürstliche Residentz Frieden Stein und Haupt Stadt Gotha“ etwa Mitte des 18. Jahrhunderts aus, wie dieser kolorierte Kupferstich des Augsburger Kartografen Matthäus Seutter zeigt.

So sah die „Die Hochfürstliche Residentz Frieden Stein und Haupt Stadt Gotha“ etwa Mitte des 18. Jahrhunderts aus, wie dieser kolorierte Kupferstich des Augsburger Kartografen Matthäus Seutter zeigt.
Bildquelle: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha

Die Residenzstadt wird seit dem 14. Jahrhundert über den rund 30 Kilometer langen Leina-Kanal mit Wasser versorgt; über Schönau fließt es durch künstliche Rinnen vom Thüringer Wald in die Stadt. Kurz nach der Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha wird im Jahr 1648 ein weiterer Kanal angelegt, der sogenannte Flößgraben. Er soll die Wasserversorgung der Stadt verbessern, indem er über elf Kilometer einen Teil des kleinen Flüsschens Apfelstädt nach Westen umleitet und bei Emleben den bestehenden Leinakanal speist. Mit dem neuen Wasserweg kann nun noch mehr Bau- und Brennholz vom Thüringer Wald in die Stadt transportiert werden. Doch als um 1700 der Wasserbedarf des Hofes steigt, weil der Herzog seinen Schlossgarten mit Wasserspielen ausbaut, verschärft sich die Wasserknappheit. In ihrem Bericht aus dem Jahr 1718 warnen die Verantwortlichen: Bei anhaltendem Wassermangel wird die Stadt „in äußersten Ruin geraten.“

Gotha hatte kein Wasser zum Löschen

Denn nicht nur die Wirtschaft der kleinen Residenzstadt ist vom Wasser abhängig: Auch Brände lassen sich nur dann löschen, wenn der Kanal genügend Wasser nach Gotha bringt. Erst 1665 war die Stadt abgebrannt, weil es kein Löschwasser gab. Wasser war für die Menschen der frühen Neuzeit in dreifacher Weise bedeutsam, sagt Alexander Schunka, Professor am Arbeitsbereich Frühe Neuzeit am Friedrich- Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin: „Als Ressource für die Landwirtschaft, für Mühlen, Brauereien und das protoindustrielle Manufakturwesen; als Medium für Transport und Kommunikation – denn Wasser diente ganz zentral zur Beförderung von Menschen und Gütern. Und schließlich als materielles Gut zum Trinken, Waschen und Heilen. Das Herzogtum hatte den entscheidenden Makel, dass es insgesamt zu wenig Wasser hatte.“ Dieser Mangel zwang die Menschen dazu, mit der kostbaren Ressource schonend umzugehen. In einer Fallstudie hat Schunka die herzögliche Wasserwirtschaft im 17. und frühen 18. Jahrhundert untersucht und dabei bislang unbeachtete Quellen ausgewertet, vor allem aus dem Staatsarchiv Gotha.

Den Historiker interessierte dabei insbesondere die Frage, wie sich die Wasserknappheit des Herzogtums auf dessen Politik, Gesellschaft und Kultur ausgewirkt hat. „Für wasserreiche Küstengesellschaften wie die Niederlande oder Venedig sind bereits Arbeiten vorgelegt worden – aber wie der Wassermangel eine Gesellschaft prägt, ist noch nicht untersucht worden“, sagt Schunka. Der Mangel an nutzbarem Wasser war auch in der Vormoderne oft ein großes Problem, nicht nur in besonders trockenen Gegenden. Und er zwang zum koordinierten, zukunftsorientierten Handeln aller Nutzer, jenseits gesellschaftlicher Schranken. Denn Zugang zu Wasser wollte und musste jeder haben. Das Herzogtum Sachsen-Gotha im heutigen Thüringen ist ein Kind des Dreißigjährigen Krieges, entstanden aus einer Erbteilung. Ein zersplittertes kleines Land, das über die Via Regia zwar an die wichtigste Fernhandelsstraße vom Rhein nach Schlesien angebunden ist, jedoch keinen Zugang zum Wasserwegesystem Mitteleuropas hat, und in dem es auch sonst keine großen Gewässer gibt. Es teilt damit das Schicksal vieler Territorien abseits der großen Flusslandschaften um Rhein, Main und Donau. Bis ins 17. Jahrhundert hinein bleiben die Gebiete nordöstlich des Mains Randgebiete des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Wer Deutschland in dieser Zeit bereist, nutzt zumeist den Rhein als wichtigste Nord-Süd-Verbindung, Main und Donau als Ost-West- Wasserstraßen.

Brandenburg und Sachsen sind von den Handelsrouten abgeschnitten

Elbe und Weser spielen für die Norddeutsche Tiefebene noch eine gewisse Rolle, führen aber weiter flussaufwärts im Sommer oft zu wenig Wasser. Die protestantischen Kurfürstentümer Brandenburg und Sachsen, die reformierten kleinen Grafschaften und Herzogtümer im heutigen Hessen, in Sachsen und Thüringen dagegen liegen häufig abseits der großen schiffbaren Flüsse. Sie sind damit nicht nur von europäischen Handelsrouten abgeschnitten, auch die Kommunikationswege für Nachrichten sind gestört, von außen werden die kleinen Herrschaftsgebiete kaum beachtet. „Deutschland wird in dieser Zeit von Franzosen, Engländern und Italienern deshalb trotz der Reformation oft noch als katholisches Land wahrgenommen“, sagt Professor Schunka: „Wer beispielsweise zum Kaiserhof nach Wien wollte, reiste über das katholisch geprägte Rheinland und den Main auf dem Wasser und unterbrach dann kurz die Flussfahrt, um auf dem Landweg über Nürnberg und Regensburg zur Donau zu gelangen, von dort schließlich wieder per Schiff nach Wien. Gesehen hatte man dann vor allem die Bischofs-Herrschaften Köln und Mainz, das katholische Bayern und die ebenfalls katholischen österreichischen Erblande.“ Die Reiserouten änderten sich erst langsam in der Zeit des Barocks durch den Ausbau von Kanälen und Überlandverbindungen.

Die Gartenanlagen des Schlosses Versailles und das dortige System von Aquädukten und Wasserleitungen waren auch Vorbild für Gothas Parkanlagen.

Die Gartenanlagen des Schlosses Versailles und das dortige System von Aquädukten und Wasserleitungen waren auch Vorbild für Gothas Parkanlagen.
Bildquelle: istockphoto.com, ENRIQUE PALACIO SANSEGUNDO

Gothas Wasserversorgung ist Thema vieler historischer Dokumente

Wie wichtig der Rohstoff Wasser für eine Gesellschaft abseits der großen Flüsse war, zeigen die vielen überlieferten Akten aus der Verwaltung des Herzogtums Sachsen-Gotha eindrucksvoll. Im städtischen Archiv in Gotha hat man aus der Zeit vor 1800 sogar fast nur noch Bestände zum Thema Wasser aufgehoben; alle anderen Akten wurden im Laufe der Jahrhunderte als nicht mehr relevant bewertet und weggeworfen. „Das zeigt, wie wichtig der Kampf ums Wasser zwischen Stadt und Landesherr war“, sagt der Alexander Schunka. Dies hat insbesondere auch wirtschaftliche Gründe: Die südlichen Teile des Herzogtums sind geprägt von den baumreichen Hügeln des Thüringer Waldes. Doch um das Holz als Wirtschaftsgut nutzen zu können, muss es von dort wegtransportiert werden – ohne Wasserlauf ein mühsames Unterfangen. Deshalb hatten Leinakanal und Flößgraben auch große wirtschaftliche Bedeutung für Sachsen-Gotha. Die Einnahmen waren so hoch, dass die herzögliche Kammer sich dauerhaft einen Wasserknecht für die Pflege der Gräben leistete. Doch als um 1700 der Hof ausgebaut und das Schloss als Repräsentationsgebäude des Herzogs mit Wasserspielen und Teichen ausgestattet wird, zeigen sich die Grenzen der frühneuzeitlichen Wasserinfrastruktur: Zu viele Dorf- und Stadtbewohner zapfen den Kanal an, Uferbefestigungen stürzen ein, weil das Vieh durch den Kanal getrieben wird – die Verwaltung ist machtlos, denn Kühe und Schafe sind es „so gewohnet“, wie die Akten verraten. Doch die Verwaltung des Herzogtums reagiert erstaunlich modern. Sie erfasst die Mängel, protokolliert Schäden, macht Pläne für künftige Verbesserungen, zieht Experten und lokale Informanten hinzu. Das sind zumeist die von den Gemeinden besoldeten Wasserknechte, die jedoch zeitgleich auch Aufgaben für den Herzog wahrnehmen und oftmals Eigeninteressen verfolgen, weil sie etwa eigene Fischteiche bewirtschaften. „Der Kampf um das Wasser förderte eine Kultur der Denunziation“, sagt Professor Schunka, „Morddrohungen sind aktenkundig, ebenso wie ein handfester Streit, bei dem ein Wasserknecht schließlich im Kanal landete und seine Gegner ihm Hacke und Hut als Statussymbole seines Amtes abnahmen.“

Die Menschen in Gotha packen die Probleme an

Doch der Mangel führt nicht nur zum Streit, er fördert auch die Ausformung des modernen Staates, er verbindet die gesellschaftlichen Gruppen: Die verschiedenen Akteure sind zur Zusammenarbeit gezwungen und verhandeln die Aufteilung der wertvollen Ressource. Die herzögliche Verwaltung nimmt dabei immer mehr eine Vermittlerrolle ein, auch wenn der Hof eigene Interessen verfolgt. Man einigt sich darauf, das vorhandene Wasser nach Achteln zu berechnen und aufzuteilen. Eigeninteressen müssen dabei zurückgestellt werden, um die Versorgung insgesamt zu gewährleisten. „Die Akten zeigen einen reflektierten Umgang mit dem Rohstoff Wasser, der sich auch in der Mentalität der Menschen spiegelt“, sagt Schunka. Und sie dokumentieren, wie sehr die Akteure sich der gegenseitigen Abhängigkeit bewusst sind. „So drohen etwa die Müller dem Herzog damit, die kostenlose Mehlproduktion für sein Heer einzustellen, wenn ihre Mühlen nicht besser mit Wasser versorgt werden.“

Gothaer Wasserkunst: Gespeist werden Gothas Wasserspiele durch den im 14. Jahrhundert zur Wasserversorgung der Stadt angelegten Leinakanal.

Gothaer Wasserkunst: Gespeist werden Gothas Wasserspiele durch den im 14. Jahrhundert zur Wasserversorgung der Stadt angelegten Leinakanal.
Bildquelle: fotolia.com, drsg98

Der Herzog träumt indes zeitweilig vom Anschluss seines Landes an die großen Wirtschaftskreisläufe. Ein neuer Kanal soll Main und Werra miteinander verbinden, Zolleinnahmen liefern und das Herzogtum über einen Wasserzugang in die Weltwirtschaft einbinden. Holz ist nach dem Großen Brand 1666 in London in ganz Europa gefragt. Der Hof nimmt Kontakt mit den Agenten und Kaufleuten in Handelsmetropolen wie Bremen oder Amsterdam auf. Allerdings unterschätzen die Beamten das starke Gefälle, das es beim Kanal-bau in der hügeligen Landschaft Mitteldeutschlands zu überwinden gilt.
Die Nachbarfürsten in Dresden und Magdeburg versagen ihre Unterstützung, die Müller an den Flussläufen sträuben sich gegen einen Umbau ihrer Mühlen, um die Gewässer schiffbar zu machen. Schließlich scheitern die Projekte zum Kanal- und Flussausbau: weil Wasser für alle da sein muss, nicht nur für die wirtschaftlichen Interessen des Gothaer Herzogs. Der Mangel an Wasser bleibt bestehen. Und prägt die Kultur bei Hofe.

Pfeifen, um Wasser zu sparen

Auch in Versailles ist Wassermangel zu der Zeit ein altbekanntes Problem. Denn die aufwändigen, barocken Wasserspiele des Vorzeigeschlosses benötigen mehr Wasser als das Tal von Galie hergibt. Also drehen die Gärtner die Fontänen im Schlosspark nur dann auf, wenn der König zugegen ist – und drehen sie wieder ab, wenn er weitergegangen ist. Ein System aus Pfiffen bedeutet den Gärtnern, welchen Weg der König eingeschlagen hat und wo er als nächstes auftauchen wird. Das wassersparende Pfeifprinzip der Gärtner ist als „Best Practice“ europaweit bekannt. „In Gotha hat man Ähnliches erwogen, um die knappen Wasservorräte im herzöglichen Schlossgarten optimal zu nutzen.“

Der Wasserknappheit sprichwörtlich auf den Grund gehen

Wasser prägt auch Bilder und Metaphern im Thüringer Raum: Die sogenannte Thüringer Sintflut von 1613 wird als Zeichen göttlichen Zorns interpretiert. Wer einer „Sache auf den Grund“ gehen möchte, lässt Teiche und Kanäle ab, um festzustellen warum sich Wasser in Gräben oder Teichen verfärbt hat – meistens sind Eisenreste oder Töpferton die Ursache.
Auch in den Kirchen steht Wasser im Mittelpunkt. In den überlieferten Predigten der Pastoren spielt Psalm 42 eine äußerst wichtige Rolle, in dem der Hirsch nach Wasser lechzt. In Schulbüchern lernen Kinder neben dem biblischen Wal auch den Karpfen kennen, der für die Fischzucht des Herzogtums große Bedeutung hat. An der Sachsen-Gothaer Universität in Jena beschäftigt sich von 1650 an eine Reihe juristischer Dissertationen mit Fluss-, Fischerei- und Teichrecht. In der fürstlichen Bibliothek finden sich alle internationalen Klassiker der Zeit zu Hydraulik, Schleusenbau und Ingenieurswesen, und in der Kunstkammer des Herzoges sammelt man Modelle von Mühlen und Wasserrädern. „Der Mangel wird durch Darstellung des Überflusses kompensiert, so wie dies auch an anderen Höfen üblich war“, sagt Professor Schunka und verweist auf eine Grotte, die Herzog Friedrich I. anlegen ließ und von der noch heute ein Modell im Schloss steht: „Für ihren Bau wurde eigens die Muschelsammlung der Naturalienkammer aufgelöst.“
Gotha muss lange mit der Wasserknappheit leben. Erst 1906 schafft die Talsperre Tambach-Dietharz Abhilfe und versorgt die Stadt seitdem zuverlässig mit Wasser. Leinakanal und Flößgraben sind auch heute noch in Betrieb. Und speisen weiterhin zuverlässig die Teiche im Schlosspark mit Wasser.


Der Wissenschaftler

Univ.-Prof. Dr. Alexander Schunka

Alexander Schunka ist seit August 2015 Professor am Friedrich-Meinecke-Institut. Davor war er unter anderem Juniorprofessor für Wissenskulturen der Europäischen Neuzeit am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Religions- und Kulturgeschichte Europas in der Frühen Neuzeit, insbesondere mit Historischer Migrations- und Mobilitätsforschung, der Geschichte des frühneuzeitlichen Protestantismus und der Geschichte kultureller Transfers und Interaktionen (anglo-amerikanischer Raum, Mitteleuropa, Osmanisches Reich). Ein aktuelles Forschungsthema ist Wasserknappheit und frühneuzeitliche Wissenskultur.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Friedrich-Meinecke-Institut
Arbeitsbereich Frühe Neuzeit
E-Mail: alexander.schunka@fu-berlin.de