Spielt mal schön …
„Der eigentliche Sinn des Spiels: Es macht Freude!“
10.04.2014
Gespielt wird immer und überall. Für Anthropologen ist das Spiel deshalb eines jener Phänomene, die zum Menschsein dazugehören wie Liebe oder Freundschaft. Kinder spielen, Erwachsene spielen, gespielt wird um Macht, Liebe, Glück, mit Sprache, Formen, Essen oder Geld. Warum man auch als Erwachsener noch spielen sollte und wieso das Konzept vom spielerischen Lernen manchmal nicht aufgeht, darüber sprach fundiert mit Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin.
fundiert: Herr Wulf, haben Sie ein Lieblingsspiel?
Wulf: Früher habe ich sehr gerne Schach gespielt, davor waren Mühle und Dame meine Lieblingsspiele. Als Kind habe ich Spiele auch gern selbst entwickelt, zusammen mit meinen Freunden. Wir haben oft „Indianer“ gespielt. Manchmal haben wir uns auch zu Banden zusammengeschlossen, Lagerfeuer gemacht, Kartoffeln gebraten und gegessen – wie im Wilden Westen. Es waren Spiele, die aus der Situation heraus entstanden.
fundiert: Sie beschreiben da eine Form des sogenannten „freien Spiels“. Gibt es das heute eigentlich noch?
Wulf: Das freie Spiel ist eine sehr wichtige Form des Spiels, die zwar leider immer mehr abnimmt, aber die es zum Glück noch gibt. Heute neigen viele Erwachsene dazu, ihren Kindern Spiele vorzuschlagen und mit ihnen zu spielen. Per se ist das nicht schlecht, es nimmt aber oft überhand. Ich glaube, dass es am besten ist, Kinder einfach machen zu lassen. Mit Fantasie entwickeln sie dann ihre Spiele alleine: Ein Tisch wird zu einer Burg, ein Laken zu einem Königsgewand. Für Kinder ist das außerordentlich wichtig, damit sie so ihre Spielfähigkeit und Kreativität erproben. Das funktioniert aber nur, wenn man keine Vorgaben macht, sondern ihnen die Möglichkeit lässt, spontan ein Spiel zu erschaffen.
fundiert: Leider ist es nicht allen Kindern vergönnt, zu spielen und in diesem Sinne frei zu sein, etwa in Krisengebieten oder streng traditionellen Gemeinschaften. Was bedeutet es für Kinder, nicht spielen zu dürfen?
Wulf: Es gibt verschiedene Beispiele dafür, dass auch Kinder, die aus Flüchtlingsgebieten kommen und körperlich versehrt oder traumatisiert sind, spielen können und Freude am Spiel haben wie Kinder, die ohne Gewalterfahrungen aufgewachsen sind. Ein Beispiel dafür, dass Spielen auch Integration fördern kann, ist eine UNESCO-Schule in Berlin, die mit einer Schule in Nordrhein-Westfalen kooperiert, die viele durch Kriege versehrte Kinder besuchen. Die Kinder beider Schulen treffen sich von Zeit zu Zeit, gehen ganz normal miteinander um und spielen miteinander. Aber es gibt natürlich Fälle, in denen es das Schicksal nicht so gut mit den Menschen meint. Wo Spiele fehlen, fehlen auch Fantasie und Formen des Ausdrucks und der Selbsterfahrung. In meinen Augen ist Spielen eine Grundbedingung eines erfüllten Lebens, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.
fundiert: Spiele gibt es eigentlich überall auf der Welt. Wie machen sich da kulturelle Unterschiede bemerkbar?
Wulf: Spiele werden überall unterschiedlich gehandhabt, aber man kann trotzdem wiederkehrende Muster entdecken. Manche Spiele tauchen in ähnlicher Form in verschiedenen Kulturen auf. Das Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ ist ein gutes Beispiel dafür. Das wird in einigen afrikanischen Kulturen ebenso gespielt wie in Deutschland, mit leichten Abwandlungen. Ein anderes Beispiel ist der Hula-Hoop-Reifen, der in Deutschland in den 60er und 70er Jahren sehr beliebt war. Diese besondere Form des Reifenspiels wurde aus Hawaii übernommen und hier bei uns in einen anderen gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Es ging dabei nicht darum, eine hawaiianische Tradition zu kopieren. Die Kinder und Jugendlichen hatten damals die Grundidee des Spiels übernommen und sie dann selbst ausgestaltet und weiterentwickelt. In meiner Spieltheorie spreche ich in solchen Fällen von mimetischen Prozessen, also von Prozessen der kreativen Nachahmung, die über das bloße Kopieren hinausgehen.
fundiert: Wieso spielt der Mensch überhaupt?
Wulf: Das hat verschiedene Gründe. Zunächst liegt es daran, dass wir nicht so stark instinktgesteuert sind wie die Tiere. Manche Tiere scheinen in unseren Augen auch zu spielen, etwa wenn eine Katze eine Maus oder ein Wollknäuel durch die Luft wirft. Oder ein Hund einem Ball hinterherjagt … Doch auch dieses Verhalten ist meistens instinktgesteuert. Sodann kommt in vielen Spielen die Phantasie zur Wirkung und Entfaltung, und daran haben wir Freude. Wir Menschen können weitgehend frei entscheiden, was wir tun möchten und was nicht. Darin liegt eine weitere Voraussetzung für die Fähigkeit zu spielen. Andersherum macht uns diese Fähigkeit erst zu dem, was wir sind. Spielen bietet eine Form der Selbsterfahrung und Selbstentfaltung, an der wir uns erfreuen. Durch den Einsatz von Fanta-sie können wir uns Situationen stellen, die wir im Alltag nicht erleben. Wir erzeugen Gegenwelten zu unserer realen Welt. Damit geht auch eine Erweiterung des Lebens und der Freude daran einher. Für manche Spiele brauchen wir nichts weiter als unsere Vorstellungskraft und unseren Körper, für andere sind Medien notwendig, etwa Spielfiguren und ein Spielbrett, ein Ball, ein Seil und so weiter.
fundiert: Wie würden Sie als Anthropologe das internationale Spiel-Phänomen Fußball beurteilen?
Wulf: Anthropologisch gesehen ist dieser Sport sehr interessant: Hier treffen zwei Gegensätze aufeinander. Der Ball ist durch seine Form einerseits Symbol der Vollkommenheit und steht andererseits für die Nicht-Steuerbarkeit, denn er rollt, wohin er will. Wenn ein Fußballtrainer wie Sepp Herberger darauf hinweist „der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann“, spielt er damit auch auf die Unberechenbarkeit des Spielballs an. Ein weiterer Punkt: Das zentrale Medium dieses Sports sind die Füße, die längst nicht so geschickt sind wie unsere Hände. Der Anspruch, mit den Füßen einen Ball beherrschen zu wollen, erzeugt eine gewisse Spannung. Es müssen dadurch ganz neue Fähigkeiten entwickelt werden. Dass gerade dieser Sport so professionell betrieben wird, ist bemerkenswert.
fundiert: Fußball ist ein typischer Mannschaftssport. Machen uns Mannschaftssportarten auch in Job und im Privatleben zu besseren Teamplayern?
Wulf: Arbeit und Spiel sind in der modernen Gesellschaft eng miteinander verknüpft. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb in vielen Sportarten der Wettkampf heutzutage so beliebt ist: Auch im Arbeitsalltag sind wir der Konkurrenz und dem ständigem Wettbewerb ausgesetzt.
fundiert: Jenseits des Sports findet man spielende Erwachsene selten. Kann man Spielen verlernen?
Wulf: Eigentlich nicht. Aber ich weiß, dass manche Menschen Schwierigkeiten haben, im Erwachsenenalter etwas zu tun, das scheinbar sinnfrei ist. Wenn man nicht spielen kann, empfinde ich das jedoch als eine Form von Armut; denn Spielen führt zu Glückserfahrungen, auch für Erwachsene. Ob es das Spielen mit Kindern ist, das Skatspiel unter alten Freunden. Oder das Liebesspiel in einer Partnerschaft.
fundiert: Diese Art des Spielerischen braucht aber ein Gegenüber.
Wulf: Das Miteinander im Spiel ist wichtig. Der Reiz liegt im Performativen, also in der Inszenierung und Aufführung des Spiels. Kinder möchten ihren Eltern häufig ihr Spiel vorführen und nehmen die Reaktion des Zuschauers in ihr Spiel auf. Dadurch lernen sie auch, sich selbst zu präsentieren und das Verhalten anderer zu deuten.
fundiert: Ist Spielen also immer auch Lernen?
Wulf: Nein. Der eigentliche Sinn des Spiels ist: Es macht Spaß! Ich spreche dabei nicht von Spaß in einem billigen Sinne, sondern von ehrlicher Freude. Als Kind bestand für mich der Sinn des Lebens ganz klar darin, mit meinen Freunden zu spielen und nicht etwa zur Schule zu gehen. Wir haben neue Dinge und Welten erschaffen, indem wir so taten als ob. Wir spielten Indianer, als ob wir welche seien. Es geht also nicht in erster Linie darum, durch das Spielen etwas zu lernen. Das Lernen ist eher ein positiver Nebeneffekt. Leider wird dieser wichtige Aspekt heute oft nicht wahrgenommen.
fundiert: Der Anspruch der Kinderfrühförderung des spielerischen Lernens – etwa durch Musikunterricht, Sportstunden, Fremdsprachen – kann also auch kontraproduktiv sein?
Wulf: Ja, in meinen Augen schon. Die zahlreichen Angebote sind in der Regel zwar gut gemeint, doch Fakt ist, dass sich Kinder dadurch häufig erschlagen fühlen. Nicht die Kinder bestimmen, was sie spielen möchten, sondern die vorstrukturierten Spiele – und damit die Eltern und die Gesellschaft. Das wirkt sich auch negativ auf die Lerneffekte aus. Ich denke, man sollte Kindern mehr Freiräume lassen, in denen sie selbst entscheiden können, was sie spielen oder lernen möchten.
fundiert: Bestimmte Spiele gelten ja eher als schädlich für die frühkindliche Bildung. Vor allem Computerspiele oder Spielekonsolen. Wie stehen Sie dazu?
Wulf: In der Einstellung zu Computerspielen gibt es extreme Positionen: Manche Menschen verweisen auf die Gefahr pathologischer Spielesucht und fordern die völlige Abschottung der Kinder von Medien und Computerspielen. Andere halten diese Spiele für Medien, mit denen heute wichtige und erforderliche Kompetenzen vermittelt werden. Wie so oft ist aber auch hier der Mittelweg die Lösung. Wir leben in einer Welt, in der Smartphones, Tablets und Computer eine große Rolle spielen, und in der jeder lernen muss, mit diesen Dingen umzugehen. Kinder entwickeln auf dem Gebiet oft sogar bessere Fähigkeiten als ihre Eltern. Natürlich handelt es sich bei Computerspielen um vorstrukturierte Spiele, bei denen oft starke kommerzielle Interessen im Hintergrund stehen. Dadurch sind die Erfahrungsmöglichkeiten beschränkt, sowohl was das Handeln als auch die Sinneswahrnehmungen angeht. Der Kontrast zu freien, körperlichen Spielen – draußen herumrennen, auf Bäume klettern, Fahrrad fahren – ist hier besonders stark, beides sind ganz unterschiedliche Erfahrungen. Ich würde deshalb für Pluralität plädieren: sowohl Spiele wie Fangen und Verstecken als auch Computerspiele. Ein gesundes Gleichgewicht ist das A und O.
Das Interview führte Verena Blindow
Der Wissenschaftler
Univ.-Prof. Dr. Christoph Wulf
Der Wissenschaftler ist Professor für Anthropologie und Erziehung, Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie und des Graduiertenkollegs „InterArts“ an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Forschungsaufenthalten und Gastprofessuren führten ihn in mehrer Länder Europas, die USA, Indien, China und Japan. Seine Bücher wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt. Für seine anthropologischen Forschungen wurde ihm von der Universität Bukarest der Titel eines Professors honoris causa verliehen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind historisch-kulturelle Anthropologie, Pädagogische Anthropologie, Mimesis, Emotions- und Imaginationsforschung, Performativitäts- und Ritualforschung, ästhetische und interkulturelle Bildung.
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Kontakt
Freie Universität Berlin
Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung
E-Mail: christoph.wulf@fu-berlin.de