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Kleine Genies, große Aufgaben

Elternkurse, Familienbesuche, Bonuszahlungen: Wissenschaftler der Freien Universität erkunden, wie sich Eltern in der Förderung ihrer Kinder unterstützen lassen

13.12.2013

Lernen spielt sich schon im Kleinkindalter ab – oft mehr als es Erwachsenen ewusst ist. Forscher untersuchen deshalb seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt die frühkindliche Bildung

Lernen spielt sich schon im Kleinkindalter ab – oft mehr als es Erwachsenen ewusst ist. Forscher untersuchen deshalb seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt die frühkindliche Bildung
Bildquelle: Jürgen Escher / Stiftung Chancenreich

Mit drei Monaten können sie mathematische Zusammenhänge erkennen, mit sechs Monaten Gut und Böse unterscheiden: Lernen spielt sich schon im Kleinkindalter ab – oft mehr als es Erwachsenen bewusst ist. Forscher untersuchen deshalb seit etwa einem Jahrzehnt verstärkt die frühkindliche Bildung. Und welche Umgebung Kinder zu Hause und in der Kinderbetreuung dafür brauchen.

Der Eingang zur strengsten Schule für Eltern befindet sich in Dresden, allerdings führt der Weg durch einen Dielenschrank, zu durchschreiten idealerweise an einem 35. Mai. Dort, in der "verkehrten Welt", herrscht eine harte Pädagogik. Der Lehrer, ein Knabe namens Jakob, verhört einen gewissen Fleischermeister Sauertopf, der gewohnheitsmäßig seinen Nachwuchs prügelt und wenig Einsicht zeigt: "Das sind meine höchstpersönlichen Kinder, und es geht kein Aas was an, wohin und wieso ich sie dresche."

Lehrerjunge Jakob wiederum mahnt, die Kinder würden "zeitlebens unter den Prügeln zu leiden haben", und lässt den Erwachsenen von vier starken Burschen abführen. Auf den Hinterkopf sollen sie den Erwachsenen schlagen, immer wieder, "bis Sie merken, was Sie angerichtet haben", befiehlt Jakob.

Die Elternbesserungsanstalt hat sich Erich Kästner ausgedacht, es gibt sie nur in der Phantasie seiner vielen Leser. Die Idee jedoch, dass Eltern lernen, wie sie mit ihren Kindern richtig umgehen, sie fördern und unterstützen können, ist längst nicht mehr so phantastisch wie Anfang der dreißiger Jahre, als Kästners Kinderroman "Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee" erstmals erschien. Aber natürlich gibt die moderne Pädagogik andere Antworten und greift zu anderen Mitteln, als tyrannische oder überforderte Eltern durch körperliche Züchtigung zur Besserung zu treiben.

In der Geschichte „Der 35. Mai“ werden Kinder zu Pädagogen. Dass Eltern einiges über Erziehung lernen können, finden Wissenschaftler heute längst nicht mehr absurd

In der Geschichte „Der 35. Mai“ werden Kinder zu Pädagogen. Dass Eltern einiges über Erziehung lernen können, finden Wissenschaftler heute längst nicht mehr absurd
Bildquelle: Verlag Friedrich Oetinger GmbH

Zahlreiche Städte und Kommunen, aber auch Vereine, Kirchen und Verbände bieten Erziehungsseminare an und Elternkurse. Der "Spiegel" höhnte bereits vor Jahren, Deutschlands Väter und Mütter seien überfordert: "Genervt von ihren Kindern, suchen sie in Scharen Rat." Dabei geht es bei vielen Angeboten eher nicht - oder zumindest nicht nur - darum, gestressten Eltern mehr Durchsetzungsstärke ihren Kindern gegenüber anzutrainieren. Das Ziel lautet eben nicht, die Bundesrepublik zum Land der Super-Nannys und Power-Papas zu machen. Es geht meist schlicht um Bildungs- und Lebenschancen.

Denn spätestens seit dem Pisa-Schock ist nicht nur Pädagogen und Bildungsforschern klar, dass über diese Chancen lange vor der Schule entschieden wird, ja sogar vor dem Kindergarten. Viele Studien haben seitdem immer wieder bestätigt: Deutschland produziert reihenweise Schulversager mit wenig Aufstiegschancen, die oft eines gemeinsam haben, nämlich ihre Herkunft aus "bildungsfernen Familien", wie sie Politik und Wissenschaft mittlerweile nennen. Zugespitzt formuliert sind damit Haushalte gemeint, in denen zwar kaum Bücher im Regal stehen, dafür aber große Flachbildfernseher laufen. Schlecht ausgebildete Eltern, oft mit niedrigem Einkommen, oder Familien, die aus dem Ausland stammen. Es setzte sich die Erkenntnis durch: Wir können nicht erst in der Schule gegenzusteuern versuchen.

"Die Pisa-Ergebnisse haben einen großen Beitrag geleistet", sagt Yvonne Anders, Professorin am "Arbeitsbereich Frühkindliche Bildung und Erziehung" an der Freien Universität. "Es wird seitdem wiederdarüber diskutiert, viel früher anzusetzen, so wie es in anderen Ländern längst üblich ist." Dazu kamen Befunde aus der Gehirnforschung, die zeigen, wie leicht Jungen und Mädchen schon in der frühen Kindheit lernen - und was sie alles können. So erkennen Säuglinge bereits einfache mathematische und physikalische Zusammenhänge. "Sie haben zum Beispiel im ersten Lebensjahr bereits eine abstrakte Vorstellung von verschiedenen Anzahlen", sagt Anders.

Das Projekt „Chancenreich“ der Stadt Herford fördert durch gemeinsames Vorlesen und Betrachten von Bilderbüchern das Erlernen der Sprache.

Das Projekt „Chancenreich“ der Stadt Herford fördert durch gemeinsames Vorlesen und Betrachten von Bilderbüchern das Erlernen der Sprache.
Bildquelle: Jürgen Escher / Stiftung Chancenreich

Auch Grundlagen einer moralischen Unterscheidung von Gut und Böse entwickeln sich schon bei Babys, die ein halbes Jahr alt sind, das berichtet unter anderem das Magazin „Geo“. Später, beim selbstständigen Spielen, entwerfen Kleinkinder Alternativen zur Realität: Wir tun jetzt so, als ob dieser Stuhl ein Auto ist. Wir tun so, als ob ich der König bin. Wir tun so, als ob Mama fliegen kann. Was manch ein Erwachsener als Hirngespinst oder Spinnerei der Kleinen abtut, sehen Wissenschaftler heute als "wichtigstes Werkzeug der Weltaneignung", so „Geo“.

Ein Modellprojekt mit der Stadt Herford

Yvonne Anders konzentriert sich in ihrer Arbeit darauf, wie verschiedene Umgebungen die Kinder "anregen", also wie sich etwa Familie oder Kita auf das Lernen und die Entwicklung auswirken. Gerade hat sie mit einer Studie begonnen, in der sie, zusammen mit ihren Studenten, ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen evaluiert. Dort hat die Stadt Herford vor einigen Jahren das Programm "Chancenreich" gestartet, zusammen mit der Carina-Stiftung. Der Bürgermeister schwärmte von "neuen Wegen", "neuen Angeboten" und "neuen Kooperationen".

Es ist ein vielversprechendes und ambitioniertes Programm: Mütter und Väter bekommen ein Handbuch und können an Kursen teilnehmen, in denen sie mehr über Erziehung lernen. Erzieherinnen, Heilpädagoginnen und Krankenschwestern schauen als "Familienbesucherinnen" bei den frischen Eltern vorbei und informieren sie über Förderangebote. "Gerade wenn eine Familie das erste Kind bekommen hat, ist sie oftmals unsicher", so eine beteiligte Sozialarbeiterin, "Familienbesucherinnen unterstützen und beraten, zwingen aber nichts auf." Es gibt Vorsorgeuntersuchungen, Treffen und Vernetzungsangebote sowie Hilfe bei der Suche nach einem Kita-Platz. Und das Programm lockt Eltern mit einem Bonussystem: Bis zu 500 Euro bekommen sie, wenn sie mitmachen und ihr Kind schon früh in eine Kita geben. .

Je früher Eltern ihren Kindern Geschichten vortragen, desto besser wird das Vokabular des Kindes, was sich wiederum nachweislich positiv auf spätere Schulleistungen auswirkt.

Je früher Eltern ihren Kindern Geschichten vortragen, desto besser wird das Vokabular des Kindes, was sich wiederum nachweislich positiv auf spätere Schulleistungen auswirkt.
Bildquelle: Jürgen Escher / Stiftung Chancenreich

Die entscheidende Frage aber ist: Wie gut funktioniert das tatsächlich? Was bewährt sich in der Praxis und wie entwickeln sich die Kinder später? "Insgesamt weiß man bislang relativ wenig über die Auswirkungen solcher Interventionen", sagt Anders, so groß die Hoffnungen auch sein mögen. Auch deshalb wollen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen des Arbeitsbereichs „Frühkindliche Bildung und Erziehung“ in den kommenden Monaten erkunden, ob und wie sehr die Teilnahme am Projekt "Chancenreich" die "familiäre Anregungsqualität" prägt und die "kindliche Entwicklung". Die Studie wird von der Carina-Stiftung gefördert.

Vier Fragen stehen im Mittelpunkt: Hat sich die Erziehungskompetenz der Eltern verbessert? Sorgen die Eltern eher vor, etwa was die Gesundheit ihrer Kinder angeht? Haben die Kinder Vorteile in ihrer sprachlichen Entwicklung und in ihrem Sozialverhalten? Und schließlich: Sind einzelne Teile des Programms besonders wirkungsvoll?

Dafür werden die Wissenschaftler Interviews führen, vor allem mit den Müttern und Vätern, sie werden beteiligte Erzieher befragen, in den Haushalten den Familien vorbeischauen, zum Beispiel um die Bücher im Regal zu zählen, und sie werden Sprachtests mit den Kindern machen. "Es ist eine kleinere Studie", sagt Anders, "aber wir erhoffen uns viele interessante und wichtige Ergebnisse." Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen konzentrieren sich auf 240 Familien, deren Kinder jetzt drei bis vier Jahre alt sind und die am Programm teilgenommen haben. Zum Vergleich beziehen sie rund 80 Familien außerhalb des Projekts mit ein.

Ein weitaus größeres Forschungsvorhaben, an dem Anders beteiligt ist, beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Bundesprogramms "Offensive Frühe Chancen", das rund 4.000 Kitas in Problemvierteln zu "Schwerpunkt-Kitas Sprache und Integration" aufrüsten will. Das Programm vom Bundesfamilienministerium schickt unter anderem zusätzliche und besser bezahlte Fachkräfte in die Einrichtungen und konzentriert sich vor allem auf drei Gruppen: Kinder, die jünger sind als drei Jahre, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Familien.

Denn nicht nur viele Eltern brauchen Unterstützung, sondern auch das Personal in den Kitas, da sind sich viele Experten sicher. Denn nicht nur Wolfgang Tietze, Professor am Arbeitsbereich Kleinkindpädagogik der Freien Universität, kritisiert die Qualität vieler Kitas, deren Arbeit sich auf dem Niveau der "gehobenen Mittelmäßigkeit" bewege. Ihm zufolge verdient gerade Mal ein Drittel aller Kitas und Kindergärten die Note "sehr gut bis gut", zwei Drittel sind seiner Meinung nach bestenfalls mittelmäßig. Einige gehörten sogar "sofort geschlossen".

Immerhin: Es bewegt sich auch hier vieles seit dem Pisa-Schock. "Das Umdenken findet statt", sagt Anders, "die Umsetzung dauert einfach länger, auch wegen der Strukturen der dezentralen Steuerung." Das Land, in dem vor über 170 Jahren der erste Kindergarten öffnete, modernisiert nun Schritt für Schritt sein Bildungssystem, auch für die Jüngsten. Der Erfinder dieser Einrichtung hieß Friedrich Wilhelm August Fröbel, er wollte mehr, als Kinder nur zu verwahren; er setzte auf den Dreiklang von Betreuung, Erziehung und Bildung. Klingt ziemlich modern. Und machbar, nicht nur an einem 35. Mai in einer verkehrten Welt.