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Von Zahlen und Ängsten

Demografie als Problem in Deutschland während des 20. Jahrhunderts. Ein Essay des Historikers Paul Nolte

13.12.2013

Kommt es zu einem Kampf der Generationen? Kann die Erde zehn Milliarden Menschen ernähren? Wie viel Zuwanderung brauchen wir, und wie viel vertragen wir? Mit solchen Fragen beschäftigen sich Historiker wie Paul Nolte

Kommt es zu einem Kampf der Generationen? Kann die Erde zehn Milliarden Menschen ernähren? Wie viel Zuwanderung brauchen wir, und wie viel vertragen wir? Mit solchen Fragen beschäftigen sich Historiker wie Paul Nolte
Bildquelle: photocase-Flügelwesen

Sterben die Deutschen aus? Kommt es zu einem Kampf der Generationen? Kann die Erde zehn Milliarden Menschen ernähren? Wie viel Zuwanderung brauchen wir, und wie viel vertragen wir? Solche Fragen nach der Bevölkerungsentwicklung im nationalen oder globalen Maßstab begegnen fast täglich in der Presse und in politischen Debatten, und nicht selten sind es bange, sorgenvolle Fragen.

Der dabei typische Blick in die Zukunft, auf das Jahr 2050 oder gar 2100, verweist auf die Dynamik des Gegenstandes und damit auf einen „Zeitstrahl“, der auch in die Vergangenheit zurückreicht. Man muss die Veränderungen zumindest der letzten Jahrzehnte kennen, um Zahlen prognostisch in die Zukunft fortschreiben zu können. Und vielleicht lässt sich etwas daraus lernen, wie frühere Generationen mit demografischen Veränderungen umgegangen sind. Bevölkerungsgeschichte – man kann auch sagen: „Historische Demografie“ – ist jedenfalls seit langem ein etabliertes Feld der Geschichtswissenschaft.

Vor etwa 40, 50 Jahren galt das Hauptinteresse den Zahlen. Das war die Zeit, als Historiker statistische Methoden der Sozialwissenschaften für sich entdeckten. Man versuchte, aus seriellen Quellen wie Kirchenbüchern oder Standesamtssregistern die durchschnittliche Geburtenzahl einer Frau oder das durchschnittliche Heiratsalter zu ermitteln. Es ging sozusagen um die objektive Seite der Demografie, wie sie sich in Ziffern fassen lässt: unbestreitbar und – scheinbar – frei von Werturteilen. Denn der politische Missbrauch einer früheren Bevölkerungswissenschaft, vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus, steckte besonders den Deutschen tief in den Knochen. Schon das Wort „Bevölkerung“, vom „Volk“ ganz zu schweigen, klang nach Nazi-Ideologie, nach Mutterkreuz und tödlicher „Eugenik“, weshalb die Bezeichnung „Historische Demografie“ eine Zeitlang geradezu erleichternd wirkte.

Seit den Neunzigerjahren hat sich das in mehrfacher Weise geändert. Mit wachsendem Abstand und frischen Perspektiven „dürfen“ sich Historikerinnen und Historiker wieder mit Bevölkerung beschäftigen, ganz ähnlich wie es auch ein neues Interesse an einer (aus ähnlichen Gründen verpönten) Geschichte des Raumes gibt. Die Faszination der Statistik ist längst verblasst; stattdessen interessiert das Fach sich, im Zeichen des „cultural turn“, für Diskurse, Wahrnehmungen und subjektive Erfahrungen der Zeitgenossen.

Wer heute über Bevölkerung in der Zeit der Weimarer Republik forscht, sitzt höchstwahrscheinlich nicht an langen Datenreihen von Geburten und Sterbefällen, sondern entschlüsselt die Ängste der Zwanzigerjahre vor einer Schrumpfung des „Volkskörpers“, wie man damals sagte, oder die Maßnahmen, die Wissenschaftler und Politiker dagegen vorschlugen. Neu ist aber auch die intensive Debatte unserer eigenen Zeit, etwa seit anderthalb Jahrzehnten, die uns immer wieder die Dringlichkeit demografischer Fragen vor Augen führen will – siehe oben!

Nehmen wir drei Beispiele, drei demografische Grundfragen, beschränken uns dabei weithin auf Deutschland während des vergangenen, des 20. Jahrhunderts und sehen zu, wie sich Zahlen und Ängste, statistische Daten und Wahrnehmungen dabei zueinander verhalten haben. Zuerst geht es um den Umfang der Bevölkerung, dann um ihre Altersstruktur, und schließlich um ihre Zusammensetzung, um ihre innere Heterogenität. Also: Wie viele Einwohner hatte Deutschland, und in welche Richtung zeigte die Kurve? Von den Schwierigkeiten, angesichts unklarer und veränderlicher Grenzen „Deutschland“ zu bestimmen, sehen wir einmal großzügig ab.

Das 19. Jahrhundert markierte die große Phase der Expansion; zwischen Französischer Revolution und dem Vorabend des Ersten Weltkriegs schnellte die Bevölkerungszahl von etwa 24 Millionen auf etwa 65 Millionen in die Höhe. Fortschritte in Ernährung, Hygiene und Medizin trugen dazu bei. Die Sterblichkeit, besonders von Säuglingen und Kindern, ging dramatisch zurück, die Lebenserwartung stieg. Gleichzeitig blieb die Geburtenrate aber hoch. Das bezeichnet man als den „demografischen Übergang“.

Als die Geburtenzahl am Anfang des 20. Jahrhunderts zurückging, von sechs oder sieben auf etwa drei Geburten je Frau, flachte das Wachstum wieder ab. Es ist im Grunde verblüffend, wie wenig sich die Bevölkerung Deutschlands seitdem bis zum heutigen Stand von etwa 81 Millionen verändert hat (zum Vergleich: Die USA standen 1900 bei 76 Millionen, nur wenig vor dem Deutschen Reich – und 2013 bei 316 Millionen).

Aber darin kommt keineswegs ein irgendwie natürliches oder harmonisches Gleichgewicht zum Ausdruck, sondern es ist nicht zuletzt das Resultat gewalthafter und katastrophischer Ereignisse zwischen 1914 und 1949: zwei mörderische Kriege, Völkermord, Vertreibungen, Hungersnöte und vieles mehr. Einen Forscher, der vor genau hundert Jahren, 1913, eine Prognose zum deutschen Bevölkerungsstand 1963 abgegeben hätte, würden wir heute nur bemitleiden können. Solche Katastrophen wünschen wir nicht; vielleicht sind sie sogar tatsächlich unwahrscheinlicher geworden. Und doch zeigt das, wie unsicher heutige Prognosen etwa auf das Jahr 2050 oder 2060 sind.

Mit den Trends der Bevölkerungsentwicklung veränderten sich auch die Ängste. Man kann sogar sagen: der Ursprung der modernen Bevölkerungswissenschaft liegt nicht zufällig in jener Zeit, als die westeuropäischen Gesellschaften demografisch zu explodieren begannen: um 1800. Und seitdem waren Theorien der Bevölkerung immer auch Ängste in wissenschaftlichem Gewand.

Das klassische Beispiel dafür ist Thomas Robert Malthus, der 1798 mathematisch nachzuweisen glaubte, dass das Wachstum der Bevölkerung mit dem der verfügbaren Nahrungsmittel nicht Schritt halten konnte – die „malthusianische Falle“. Irrtum. Neben nationalem Stolz und Pathos – Bevölkerung war ja eine Ressource für Wirtschaftskraft, und für die Armee! – begleiteten deshalb tiefe Ängste das demografisch dynamische 19. Jahrhundert: Angst vor Überbevölkerung, vor Ernährungskrise und vor einem überproportionalen Anwachsen der Unterschichten, was Adel und Bürgertum besondere Sorge machte.

Also hätte man sich nach 1900, erst recht seit 1918, erleichtert freuen können, als eine Trendumkehr sich abzuzeichnen begann? Jetzt kippte die Angst in jene Sorge vor Schrumpfung, vor Ressourcen- und Machtverlust um, die teilweise bis heute anhält. Das nationalsozialistische Regime zog daraus rassistische, mörderische, aber auch frauenfeindliche Konsequenzen, und Bevölkerungswissenschaftler, Soziologen, Historiker leisteten dafür Zuarbeit.

Im Vergleich damit reagierte die Bundesrepublik gelassen, als um 1980 die Schrumpfungsperspektive wieder auf die Tagesordnung kam, nicht selten auch ironisch, wie Günter Grass in seiner Erzählung „Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“ aus eben diesem Jahr. Ökologische Krise und atomare Bedrohung fügten den Ängsten ein neues Motiv hinzu, nämlich die Frage, ob man überhaupt noch „ein Kind in diese Welt setzen“ dürfe.

In Europa steigt die Lebenserwartung

Wenn die Geburtenrate nicht konstant bleibt, verändert sich unweigerlich die Altersstruktur. Steigt sie (und ist trotzdem die Lebenserwartung relativ gering, zum Beispiel in Folge von Bürgerkrieg oder mangelnder medizinischer Versorgung), „verjugendlicht“ eine Gesellschaft.

Umgekehrt ist Alterung die Folge, zumal wenn bei innerer Stabilität, guter Ernährung und medizinischem Fortschritt die Lebenserwartung auch der Älteren steigt. Das ist in Deutschland so, wie fast überall in Europa (wenngleich oft schwächer ausgeprägt). Das auch visuell eindrückliche Abbild solcher Veränderungen ist die „Bevölkerungspyramide“, eine grafische Darstellung der Stärke von Alterskohorten zu einem bestimmten Zeitpunkt, meist in eine linke männliche und rechte weibliche Hälfte getrennt.

Um 1900 war das in der Tat eine „Pyramide“, ein Dreieck auf breiter Basis mit einer Spitze, die bei den 70- bis 80-Jährigen auslief. Das vermittelte Generationen von Demografen die Vorstellung, so müsse es sein: so symmetrisch, so wohlproportioniert, so „gesund“: eine breite Basis „trägt“ die Spitze. Aber plötzlich veränderte sich das Bild. Unschöne Dellen und Kerben zeichneten sich in die Pyramide ein: Gefallene Soldaten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs (mit der Folge eines deutlichen Frauenüberschusses), Geburtenausfälle im Gefolge von Krieg und Nachkriegszeiten. Und dann: die ziemlich plötzliche Verjüngung bei den Alterskohorten um 1970: das Ende des „Babybooms“, der „Pillenknick“!

Aus der Bevölkerungspyramide wurde ein Tannenbaum

Längst ist klar, dass dies nicht bloß eine weitere Kerbe in die Pyramide geschlagen hat. Der Rückgang war dauerhaft und perpetuiert sich inzwischen generationell: Weniger Frauen bekommen auch weniger Kinder. Aus der Pyramide ist ein „Tannenbaum“ geworden, der auf einem dürren Stämmchen steht – schon visuell scheint das zu signalisieren, dass hier etwas aus der Balance geraten ist.

Bezeichnenderweise hat man die neue grafische Form des Bevölkerungsaufbaus auch eine „Urne“ genannt: ein eindrückliches Beispiel dafür, wie unmittelbar sich Statistik und Untergangsängste verbinden können. Nüchtern könnte man aber auch sagen: Wir befinden uns in einer Art „zweitem demografischen Übergang“.

Aus einer relativ jungen wird eine relativ alte Gesellschaft. Das hat Konsequenzen, Nachteile und Vorteile (die jetzt schon am Arbeitsmarkt spürbar sind; die „Babyboomer“ könnten neidisch werden!). Per se ist es weder gut noch schlecht; und vor allem: Wer sorgenvoll oder gar apokalyptisch die vergreiste Gesellschaft von morgen beschwört, der übersieht, dass wir den größten Teil des Weges dorthin bereits zurückgelegt haben. Das Medianalter in Deutschland liegt inzwischen über 45 Jahren – fast ein Weltrekord. Aber wünschen wir uns die knapp 18 Jahre Äthiopiens? Wohl kaum, und den „idealen“ Altersmix einer Gesellschaft gibt es nicht.

Schließlich der dritte Aspekt, die dritte Perspektive auf demografischen Wandel: Wie setzt sich die Bevölkerung zusammen? Auch das hat Statistiker seit langem beschäftigt, und fast ebenso lang immer neue Ängste genährt, vor allem in einer Zeit des wachsenden Nationalismus, der ethnischen Unterscheidung, des Rassismus. Mit der „kleindeutschen“ Reichsgründung von 1871 waren die Grenzen nur scheinbar eindeutig gezogen. In Grenzregionen lebten nationale Minderheiten, zum Beispiel Polen im preußischen Osten, die massivem Assimilationsdruck ausgesetzt waren.

Das Ziel war eine möglichst homogene Bevölkerung, zumal unter den Vorzeichen des (pseudo-) wissenschaftlichen Rassismus, der um 1900 rasch an Boden gewann. Eine „gesunde“ Bevölkerung musste möglichst „rein“ sein, von vermeintlich „minderwertigen“ Elementen gereinigt. Diese Vorstellung richtete sich immer mehr, und seit 1933 mit schließlich tödlicher Unerbittlichkeit, gegen die deutschen und dann auch die europäischen Juden.

Angst vor Überfremdung

Nach dem Holocaust und den Bevölkerungsverschiebungen durch Flucht und Vertreibung entstanden deshalb beide deutsche Staaten unter Bedingungen einer künstlich hergestellten ethnischen Homogenität. In Deutschland leben Deutsche, was denn sonst? Weiße Christen auf der einen, weiße Sozialisten auf der anderen Seite der Mauer. So erklärt sich die jahrzehntelange Verstörung, als „Gastarbeiter“ nicht wieder abreisten, sondern mit einem Teil ihrer Kultur, Sprache, Religion in Deutschland blieben und das ethnische Homogenitätsideal in Frage stellten.

Angst vor „Überfremdung“ also, die in Teilen des linken Milieus gelegentlich halb ernst, halb ironisch mit der Angst vor dem Deutschen gekontert wurde. Längst gehört der „Ausländeranteil“, wie es bis mindestens in die Neunzigerjahre hieß, inzwischen der Bevölkerungsanteil „mit Migrationshintergrund“, zum Grundbestand eines demografischen Kurzporträts des Landes.

Und noch einmal wird die Zweischneidigkeit solcher Statistik, solcher Kategorien überhaupt, deutlich: Kommt darin nicht schon prinzipiell Stigmatisierung zum Ausdruck, Abgrenzung und Sonderung? Sollte man solche Daten nicht mehr erheben? Aber hieße das nicht, Realität zu leugnen, und außerdem auf Instrumente der Förderung von Minderheiten, etwa in der Sozial- und Bildungspolitik, zu verzichten?

Zahlen und Ängste, messbare Fakten und diffuse Gefühle: Beides ist aus Sicht der Geschichtswissenschaft gleich wichtig. Sie ist immer Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft zugleich und auch deshalb im Fächerkanon unverzichtbar. Zahlen und Ängste sind untrennbar miteinander verknüpft, und deshalb erinnern Historiker die Faktenhuber und „number crunchers“, die doch angeblich nur ihre unbestreitbaren Daten präsentieren, immer wieder an deren wacklige, zeitgebundene und ideologische Grundlage.

Andererseits kann man über die Ängste nur seriös sprechen, wenn man ein Datengerüst im Hinterkopf hat. Bevölkerung bleibt ein „hartes“ Faktum, zum Beispiel in den ökonomischen Konsequenzen: Wer besetzt die Arbeitsplätze, wer zahlt die Renten? So bietet die Geschichtswissenschaft viel mehr als bloß Aufklärung über vergangene Zeiten. Nur einen sehnlichen Wunsch kann sie nicht erfüllen: eine Zeitreise ins Jahr 2113. Gibt es die Deutschen dann noch, oder sind sie längst ausgestorben?