Wilde Wolle
Wie das wilde Schaf zum Haustier wurde – und mit seiner Wolle die erste textile Revolution einleitete
01.07.2013
Seit über 10.000 Jahren hält der Mensch Schafe. Für ihre Besitzer bedeuten sie noch heute in vielen Teilen der Welt Wohlstand und Anerkennung. Wissenschaftler der Freien Universität erforschen nun im Exzellenzcluster Topoi, wie sich das Schaf zum wichtigsten Nutztier der Menschheit entwickelte, wann aus seinem glatten Fell wärmende Wolle wurde und es dadurch eine textile Revolution auslöste.
Jeder durfte sich 1997 ein bisschen fühlen wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Denn die Nachricht, die die Agenturen am 22. Februar vermeldeten, war ebenso schaurig wie faszinierend: Im Roslin-Institut nahe Edinburgh in Schottland hatten Keith Cambell und Ian Wilmut mit ihrem Team erstmals ein Säugetier geklont – ein walisisches Bergschaf. 277 Embryonen hatte die Forschergruppe erzeugt, nur einer von ihnen war lebensfähig; das Genmaterial eines Schafes wurde in die Eizelle eines anderen eingepflanzt; den Embryo wiederum trug ein Leihmuttertier aus. Und weil die US-amerikanische Country-Sängerin Dolly Parton eine große Oberweite hatte und die schottischen Forscher britischen Humor, ging das Schaf als „Dolly“ in die Geschichte ein – denn das verwendete Genmaterial stammt aus einem Euter. Dass ausgerechnet ein Schaf Symbol für den Sieg des Homo faber über die natürlichen Gesetze der tierischen Fortpflanzung wurde, ist vielleicht Zufall, denn schon bald kannte die Fachwelt einen ganzen Zoo geklonter Haustiere: von der Maus über Rind, Ziege und Schwein hin zu Mufflon, Gaur, Pferd, und Rothirsch. 2007 klonten Stammzellenforscher erstmals einen Rhesusaffen, 2009 ein Dromedar. Und dennoch ist es bezeichnend, denn das Schaf ist wohl das älteste Nutztier des Menschen; beide verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Zwischen Dolly und den ersten Versuchen, das Wildschaf Ovis orientalis zu zähmen, liegen jedoch ein Dutzend Jahrtausende.
Genau weiß niemand, wann das Schaf ein Haustier wurde
Doch woher stammt das Tier aus der zoologischen Familie der Hornträger? Und wie genau wurde es zum lange Zeit wichtigsten Haustier des Menschen? Die Archäozoologin Dr. Cornelia Becker vom Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität muss den Fragenden enttäuschen: „Ganz genau können wir heute nicht sagen, wann und wo das Schaf zum Haustier wurde.“ Zwar finden Archäologen bei Ausgrabungen überall auf der Welt Knochen von domestizierten Hühnern, Schweinen, Rindern und eben auch Schafen, doch bei der genauen Datierung stehen sie vor einem Problem: Denn die Domestikation ist kein punktgenau datierbares Ereignis, sondern ein lange währender Prozess und bis sich die Veränderungen vom Wild- zum Haustier im Erbgut nachweisen lassen, vergehen Jahrhunderte.
Beweise für die erstmalige Haltung dieses Haustieres gibt es nicht. Deshalb ist die Wissenschaft auf Hypothesen, Theorien und Indizien angewiesen, vor allem aber auf Beobachtungen in der Tierwelt. „Nicht alle Tiere eignen sich als Nutztiere“, sagt die Archäozoologin. Von den etwa 5.000 infrage kommenden Säugetieren wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte gerade einmal 18 Spezies zu Haustieren. Insbesondere für die zu Wirtschaftshautieren umgeformten Wildvorfahren gilt: „Sie müssen grundsätzlich zähmbar, dem Menschen zugewandt und wenig aggressiv sein, ihre Anforderungen an Futter und Klima dürfen nicht zu speziell sein, die Fortpflanzung unkompliziert und rasch, und schließlich sollten die Tiere in Gruppen mit einer hierarchischen Struktur leben, um gemeinschaftsfähig zu sein.“
Gazellen als Haustier? Ungeeignet
Wasserbüffel, Dromedar und Meerschweinchen wurden deshalb ebenso zu Nutztieren des Menschen wie Schaf, Pferd und Hund. Tiere wie Gazellen dagegen nicht: „Sie leben, wie das Wildschaf, zwar auch gesellig, zeigen jedoch innerhalb der Herde völlig andere Sozialstrukturen; so beanspruchen Gazellenböcke eigene Terretorien, um während des Paarungsrituals artspezifische Verhaltensmuster zeigen zu können – ohne dies funktioniert die Fortpflanzung bei Gazellen nicht. Auch die saisonbedingten weiten Wanderungen der Gazellen machen sie für sesshaft lebende Menschen als potentielle Haustiere ungeeignet“, sagt Becker.
Auch der Mensch musste einige Voraussetzungen erfüllen, bevor er dauerhaft Tiere halten und züchten konnte: Die Neolithische Revolution – die Sesshaftwerdung des Menschen – begann mit ein paar Getreidekörnern im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, einem Gebiet, das sich noch heute sichelförmig vom heutigen Israel über den Libanon, Nordsyrien und die Südtürkei bis in die Hänge des Zagros-Gebirges im Iran erstreckt. Hier zogen die Menschen der ausgehenden Eiszeit vor 11.000 Jahren durch die Wälder und Graslandschaften, jagten wilde Ziege, Mufflons und Auerochsen und fanden Gräser wie Emmer, Gerste und Roggen, die Urformen unserer heutigen Getreide.
Mit der Klimaerwärmung kam der Nahrungsüberfluss
„Die klimatischen Verhältnisse der Jungsteinzeit veränderten auch die Umwelt des Menschen“, sagt Wolfram Schier, Professor am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität. Feigen, Pistazien und Mandeln gab es dank der Klimaerwärmung im Nahen Osten nun im Überfluss. Wahrscheinlich fanden die Menschen so viel Nahrung wie nie zuvor. Ein wahrer Garten Eden. „Die ersten Sippen ließen sich wohl deshalb nieder, weil sie auch ohne kilometerweite Wanderungen genug zu essen fanden.“ Getreide war dabei zunächst wohl nur ein Zubrot. Aber schon bald wuchsen die Sippen derart schnell, dass es zum Grundnahrungsmittel wurde – denn anders als Bäume, die oft Jahre brauchen, bis sie Früchte tragen, bringt ein einzelnes Korn in wenigen Wochen eine ganze Ähre neuer Körner hervor und lässt sich zudem gut lagern.
Beim Fleisch standen nun andere Tiere auf dem Speiseplan. „Gazellen waren schwer zu jagen, und es gibt sogar deutliche Hinweise, dass diese Tiere aufgrund der wachsenden Bevölkerung in einigen Gebieten immer seltener wurden“, sagt Schier. In den Quellgebieten von Euphrat und Tigris, in den Hügellandschaften der südlichen Ausläufer des Taurus- Gebirges kamen die Menschen deshalb wohl zum ersten Mal auf die Idee, Ovis orientalis – das Armenische Wildschaf – zu fangen, in Gehegen zu halten und zu pflegen. „Als relativ anspruchsloses Herdentier, das sich der menschlichen Hand leicht unterordnet, war das Wildschaf ein optimal zu nutzender Kandidat für die Haustierwerdung“, sagt Archäozoologin Becker.
Zunächst hielt man die gezähmten Wildtiere wohl in offener Gefangenschaft – man schuf also große Areale, in denen sich die Tiere zwar frei bewegen konnten, die aber dennoch räumlich begrenzt waren. Später isolierten die Urbauern einzelne Tiere, paarten gezielt kleine Exemplare miteinander. „Dadurch veränderte sich Größe, Gestalt und Sozialverhalten der Tiere, irgendwann lassen sich die Domestikationsmerkmale auch genetisch nachweisen“, sagt die Archäozoologin. Knochen domestizierter Tiere, die sich genetisch von Wildschafen unterscheiden, datieren Archäologen auf das 9. Jahrtausend vor Christus.
Auch Ziege und Wildschwein, später sogar der mächtige Auerochse wurden im „Fruchtbaren Halbmond“ gefangen, gezähmt und gezüchtet – möglicherweise probierte man einfach die Erfolge, die man beim Schaf erzielt hatte, auch bei anderen Tieren aus. Das Schaf jedenfalls wurde schnell zum Exportschlager und verbreitete sich bis nach Mitteleuropa. Dabei spielten zwei Routen die entscheidende Rolle: Über Anatolien, Griechenland und den Balkan gelangte das Schaf auf dem Landweg nach Mitteleuropa und ist dort seit Mitte des 6. Jahrtausends vor Christus nachweisbar.
Eine zweite Route über die Levante nach Zypern und von dort auf dem Seeweg über Kreta, Sizilien, Sardinien und Korsika nach Südfrankreich und von dort aus nach Norden hat bis heute besonders interessante Spuren hinterlassen: „Auf Sardinien und Korsika müssen den Menschen des 7. Jahrtausends damals einige Schafe ihren Hirten entlaufen sein“, sagt Becker, „denn die heute auf den beiden Inseln lebenden Europäischen Mufflons gelten zwar allgemein als ,Wildschafe‘, sind genau betrachtet jedoch verwilderte Hausschafe.“ So lässt sich noch heute erahnen, wie die „Schafe der ersten Stunde“ aussahen: Die Europäischen Mufflons sind mit einer Schulterhöhe von 90 Zentimetern etwas größer als moderne Hausschafe, die Hörner der Widder gewaltig und ihr Haarkleid glatt. „Wir gehen deshalb davon aus, dass die ersten Schafe wegen ihres Fleisches und der Milch gehalten wurden“, sagt Becker. Schafe mit Wollvlies sind eine sehr viel spätere Entwicklung, die erst lange nach der Domestikation in Erscheinung trat.
Auch Schweine können Locken tragen
„Genetisch haben nicht nur Schafe, sondern zum Beispiel auch Schweine oder Gänse das Potential zur Lockenbildung“, sagt die Archäozoologin und spricht über Mangalitza-Schweine und Lockengänse aus Ungarn. Möglicherweise durch eine Mutation entwickelte sich um 6.000 vor Christus aus dem Haarschaf ein Wollschaf; dieses Merkmal wurden dann offenbar gezielt weitergezüchtet und das Tiermanagement entsprechend umgestellt. „Bei Ausgrabungen konnten wir anhand der Knochenfunde feststellen, dass die Tiere ab dieser Zeit erst deutlich später geschlachtet wurden“, sagt Becker. „Wir gehen davon aus, dass man in dieser Zeit den Wert der Wolle erkannte und dazu überging, die Schafe nach ihrer Geschlechtsreife zunächst noch eine gewisse Zeit am Leben zu halten und die Wolle zu gewinnen, bevor man sie schlachtete.“
In Tepe Sarab in West-Iran fanden Archäologen eine Tonstatuette, in deren Oberflächenstruktur einige Wissenschaftler die Struktur eines Vlieses erkennen – diese frühe Schafdarstellung ist rund 8.000 Jahre alt. „Spätestens in der ersten Hälfte des dritten vorchristlichen Jahrtausends verdrängte die Wolle als Kleidung das bis dahin verwendete Flachsgewebe“, sagt Archäologe Schier. Die Bedeutung für die Gesellschaften der damaligen Zeit lässt sich heute kaum ermessen – auch weil archäologische Funde von Kleidung selten sind. Die Nutzung der Wolle ist wohl eine vergleichbar bedeutende Innovation wie die des Metalls. Nicht nur, dass Wolle wesentlich bessere Wärmeeigenschaften besitzt als pflanzliche Stoffe: Die tierischen Fasern lassen sich auch besser verspinnen und färben. „Diese Eigenschaft der Wolle eröffnete auch eine soziale Verwendung: Kleidung konnte nur durch die Wolle Ausdrucksform von Identität werden.“ Eine textile Revolution.
Auch die Siedlungsräume der Sippen erweiterte sich nach der Entdeckung der wärmenden Wolle: Sie bewohnten nun auch die unwirtlichen Landschaften im Voralpenland, die Seeufer der norddeutschen Tiefebene und die Moorlandschaften der nördlichen Britischen Inseln. „Viele dieser Gebiete sind kühl und landwirtschaftlich schlecht zu erschließen. Eine Besiedelung ergibt nur Sinn, wenn man dort grasfressendes Vieh hält“, sagt Schier.
Bei der Datierung und Lokalisierung, wann in Europa die Wolle wo den Flachs ablöste, tun sich die Forscher allerdings schwer. Das Problem ist die Voraussetzung für Funde: Im kalkhaltigen, sauren Boden der ufernahen Siedlungen verwittert Wolle, Flachs hingegen wird in basischem Milieu zersetzt. Spinnwirtel für Flachs und für Wolle lassen sich nicht unterscheiden und geben deshalb ebenfalls keinen Anhaltspunkt. Zwar lässt sich bei den Knochenfunden aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends bei Schafen aus Mittel-europa und Nordgriechenland eine markante Größenzunahme feststellen, die viele Wissenschaftler mit der Verbreitung einer neuen Wollschafrasse in Verbindung bringen, doch Becker glaubt nicht an diesen Zusammenhang: „Gesteigerte Knochengröße und der Besitz eines Wollvlieses müssen nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen.
Manche rezente Hausschafrassen sind ungewöhnlich klein, liefern aber viel Wolle von bester Qualität. So gibt es noch heute im Norden Schottlands eine sehr alte Wollschafrasse, das Soayschaf; diese Tiere besitzen eine kurze dichte Wolle und sind mit 45 bis 55 Zentimetern Schulterhöhe kleinwüchsig.“ Im Rahmen des Exzellenzclusters Topoi gehen Professor Schier und sein Team deshalb nun neue Wege, um die Verbreitung des vliestragenden Wollschafs in Europa zu rekonstruieren: Archäozoologische Daten aus mehreren Tausend Fundplätzen in Vorderasien und Europa werden zusammengetragen, im Kontext ausgewertet und sogenannte Schlachtalter-Profile erstellt: Wann wurden die Tiere geschlachtet, deren Knochen gefunden wurden, und wie alt waren sie zu diesem Zeitpunkt? Wie hat sich die Größe der Tiere im Laufe der Jahrhunderte verändert? Die Wissenschaftler hoffen, so die Wege der Ausbreitung des Wollschafes vom Nahen Osten bis nach Mitteleuropa ausfindig machen zu können.
Ein weiteres wichtiges Indiz für die Verwendung von Wolle sind dabei die Funde sogenannter Webgewichte: Sie dienten bei Senkrechtwebstühlen dazu, die Kettfäden zu spannen. „Auch das Spinn- und Webwerkzeug aus verschiedenen Jahrtausenden soll deshalb in unserer Datenbank erfasst werden“, sagt Schier. So könnten sich Muster ergeben, die mit den Indizien aus der Archäozoologie verknüpft werden und im Idealfall das Aufkommen und die Verbreitung der „Textilen Revolution“ auf breiter Basis untermauern. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und im Januar angelaufen, vier Doktoranden aus drei Disziplinen, darunter auch ein Geologe, arbeiten mit. In einer späteren Phase könnten Wissenschaftler der Altorientalistik eingebunden werden, die sprachwissenschaftliche Aspekte einbringen: Im lateinischen Wort für „Schaf “ (pecus) steckt nicht nur das indogermanische Wort „pec“, das „pflücken“ oder „rupfen“ bedeutet – auch das Wort für „Geld“ (pecunia) ist vom Schaf abgeleitet – brachten die Tiere ihren Besitzern einst großen Wohlstand ein. Für Klonschaf Dolly galt das jedoch nicht: Die Biotech- Firma PPL Therapeutics, die das Experiment finanzierte, ging bankrott und wurde 2004 verkauft. Dolly selbst lebte da schon nicht mehr. Das Schaf starb 2003, deutlich früher als seine natürlich gezeugten Artgenossen, mit nur sechs Jahren. Zu sehen ist das wohl berühmteste Schaf der Wissenschaftsgeschichte aber immer noch: ausgestopft und hinter Glas, im Nationalmuseum in Edinburgh.
Die Wissenschaftler
Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfram Schier
Wolfram Schier ist seit 2006 Professor am Institut für Prähistorische Archäologie. Dort forscht er vor allem zu Themen wie Neolithikum Mittel- und Südosteuropas, Diachrone und vergleichende Siedlungs- und Landschaftsarchäologie, Multidisziplinäre und experimentelle Erforschung der prähistorischen Landwirtschaft sowie Sozialstrukturen und sozialer Wandel in der mitteleuropäischen Eisenzeit. Zudem ist er Ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts und Mitglied des Fachkollegiums 101 „Alte Kulturen“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. E-Mail: wschier@zedat.fu-berlin.de
Dr. Cornelia Becker
Cornelia Becker konnte für fundiert schon zum zweiten Mal als Expertin gewonnen werden. Beim ersten Mal erklärte sie, wie man anhand von Essenresten Rückschlüsse ziehen kann auf frühere Lebensweisen, diesmal beantworte die Archäozoologin die Frage, wann aus dem Wildtier Schaf ein Haustier wird. Cornelia Becker ist seit 1983 Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Akademische Oberrätin) am Institut für Prähistorische Archäologie und forscht vor allem zur Wirtschaftsweise, Umweltentwicklung und Nutzung natürlicher Ressourcen in prähistorischen und frühgeschichtlichen Perioden. E-Mail: cobecker@zedat.fu-berlin.de