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Interview mit Gabriele Brandstetter

Wie sich die Rolle der Tiere im Tanz gewandelt hat

01.07.2013

Der Schweizer Choreograf Thomas Hauert arbeitet mit Studenten der Freien Universität an Schwarm-Modellen. Eine seiner Fragen: Wie kann ich mich in einer Gruppe so bewegen, dass es keine hierarchischen Strukturen gibt?

Der Schweizer Choreograf Thomas Hauert arbeitet mit Studenten der Freien Universität an Schwarm-Modellen. Eine seiner Fragen: Wie kann ich mich in einer Gruppe so bewegen, dass es keine hierarchischen Strukturen gibt?
Bildquelle: Ursula Kaufmann

Vom schwebenden Schwan bis zum kriechenden Krokodil – im Tanz begegnet man unterschiedlichsten Tieren. Warum Discofox und Foxtrott eigentlich Tiertänze sind und welche gesellschaftlichen Phänomene Tiere im Tanz widerspiegeln, darüber sprach fundiert mit Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Professorin für Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

fundiert: Wenn es um Tiere und Tanz geht, liegen einige Assoziationen sehr nah. Um den „Schwanensee“ etwa kommt man kaum herum. Wie sieht es denn im zeitgenössischen Tanz aus? Spielt das Tier da überhaupt eine Rolle?

Brandstetter: Aber ja. Wie aktuell dieses Thema ist, konnte man in Berlin Anfang des Jahres besonders gut sehen: In der ganzen Stadt wurde mit einer großen Plakat- Kampagne für die tanzcard geworben. Das Motiv ist ein tanzender Bär.

fundiert: Letztes Jahr haben Sie in Zusammenarbeit mit der Staatsoper Berlin eine Vortragsreihe „Von Blumenballetten und Tiertänzen: Flora und Fauna als Inspirationsquellen für Bewegung“ veranstaltet. Wie beschäftigen sich Tanzwissenschaftler aktuell mit Tieren?

Brandstetter: Es ging darum, noch einmal neu zu fragen, warum Tiere im Tanz vorkommen. Was macht es so interessant, sich als Tänzer und als Choreograf mit dem Tier zu beschäftigen?

fundiert: Unterscheidet sich der Umgang mit dem Tier im zeitgenössischen Tanz vom klassischen Ballett?

Brandstetter: Man muss die Auseinandersetzung mit dem Tier immer im historischen Kontext sehen. Tiertänze gibt es vermutlich genauso lange, wie wir überhaupt etwas über Tanz wissen. Tiertänze, etwa verbunden mit Masken oder bestimmten Ritualen, gibt es in allen Kulturen, und mit ganz verschiedenen Funktionen. Zum Beispiel als Jagd- oder Schutzzauber. Tänzerische Tierverkörperungen können beispielsweise Teil von schamanistischen Praktiken sein.

fundiert: Welche Funktion erfüllte das Tier dann im klassischen Ballett?

Brandstetter: Da kommt es zu einer Umformulierung. Es findet eine ganz starke Stilisierung statt, die etwas mit der Ästhetik dieser Tanzform zu tun hat. Das Tierische wird gleichsam sublimiert: Es spiegelt die Sehnsucht nach Entgrenzung.

fundiert: Das Tier muss sich also auch an die Spitzenschuhe anpassen ...

Brandstetter: Das klassische Ballett strebt in die Höhe: Schweben und Fliegen werden zum Ideal. Die Vorstellung, der Erdanziehung enthoben zu sein, beflügelt gewissermaßen. Deshalb werden auch Wesen, die fliegen können, zu Idealfiguren: Schmetterlinge oder Vögel transportieren diesen Traum auf die Ballettbühne. Dieses Schweben und fließende Bewegungen, die dann im Schwanen-Motiv oder im Feuervogel-Motiv erscheinen, bilden ein wichtiges Element der Ästhetik des klassischen Balletts.

fundiert: Tiere, die nicht fliegen können, wurden also im klassischen Ballett ignoriert?

Brandstetter: Die Auswahl der Tiere hat mit den Bewegungstechniken zu tun, die eingesetzt werden – und mit einem Schönheitsideal. Eine Kuh, ein Lama oder ein Krokodil würde man deshalb im klassischen Ballett in der Tat nicht finden.

fundiert: Wann fanden Tanz und Tiere nach dieser abgehobenen Phase wieder auf den Boden zurück?

Brandstetter: Das ist ein heikles Kapitel in der Tanzgeschichte. Der Boden wird mit dem modernen Tanz im 20. Jahrhundert ganz buchstäblich wiederentdeckt. Dass dann nicht mehr alles fliegt und schwebt, sondern dass es eben der Mensch selbst ist, der tanzt, hat vielleicht auch mit dem Darwinismus zu tun. Der Mensch sieht der Realität ins Auge: Er ist ein Abkömmling der Arten und nicht mehr das grundsätzlich Andere.

fundiert: Der Mensch ist also auch im Tanz nicht mehr die Krone der Schöpfung?

Brandstetter: Der Paradiesgedanke muss aufgegeben werden. Trotzdem tritt der Mensch aber noch als Höhepunkt einer Natur auf, die unterworfen wird. Und zwar mit den Mitteln der Technik und den Herrschaftsmitteln, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Diese Formen der „Kolonialisierung der Welt“ übertragen sich auch auf das Tier.

fundiert: Und auf den Tanz?

Brandstetter: Es ist zumindest interessant, dass ausgerechnet in den Zwanzigerjahren Tiertänze sehr aktuell wurden. Damals wurden aus dem Kontext der amerikanischen Gesellschaftstänze auch Varieté-Tänze übernommen und integriert. In Europa mit Riesenerfolg – man nannte das auch die „wilden Tänze“. Das sagt schon viel. Die Tänze aus dieser Zeit heißen Grizzly Bear, Fish-Tail, oder Turkey-Trott. Der letzte Ausläufer, den wir noch heute im Gesellschaftstanz kennen, ist der Foxtrott.

Das Tier im Tanz: Bis Anfang des Jahres wurde in ganz Berlin mit einem Bären für die tanzcard geworben.

Das Tier im Tanz: Bis Anfang des Jahres wurde in ganz Berlin mit einem Bären für die tanzcard geworben.
Bildquelle: tanzraumberlin

fundiert: Als besonders wild würde man Foxtrott heute ja nicht mehr bezeichnen.

Brandstetter: Damals waren das anstößige Tänze, bei denen sich die Tänzer nicht mehr brav und gesittet im Takt drehten. Sie erlaubten freiere Bewegungen, sie waren exaltiert. Tänze, die den Menschen – ähnlich wie beim Charleston und beim Shimmy – als Gesellschaftsoder Balltanz in eine aufgelöste, eine polyrhythmische Form der Bewegung brachten.

fundiert: Tanzen wie die „Wilden“ oder die „wilden Tiere“ – politisch korrekt wäre das heute nicht mehr.

Brandstetter: Nach meiner Interpretation war es eine Form eines rassistischen Verhaltens. Nicht nur, dass das „Andere“, das „Animalische“ in Gestalt von Tieren im Tanz exotisiert wurde. Sondern auch, wie man sich anderen Kulturen und Ethnien, den sogenannten Schwarzen näherte ...

fundiert: Damit war der Tanz nicht allein. Auch in der Malerei wurde ja die Südsee oder der Afrikanische Kontinent entdeckt – und mit der Exotik die Erotik.

Brandstetter: Im Tanz dieser Zeit hat man diese Faszination des Fremden, etwa mit Tiertänzen, exotisie-rend verbrämt. Dieser teilweise rassistische, kolonialisierende und exotisierende Umgang, sowohl mit der farbigen Kultur als auch mit den Tieren – darin steckt auch eine Ambivalenz der Moderne. Einerseits genießt man die neue Bewegungsfreiheit und Sexualität. Andererseits rückt man sie von sich und der eigenen, feinen Gesellschaft ab.

fundiert: Gab es auch Phasen, in denen das Tier im Tanz nichts verloren hatte?

Brandstetter: Der Zweite Weltkrieg machte das Thema nicht nur uninteressant, sondern zu einem No-Go. Ähnlich wie in der Philosophie wurde im Tanz die Auffassung vertreten, dass der Mensch sich überhaupt nicht in ein Tier versetzen kann. Es wurde undenkbar, diese Andersheit usurpieren zu wollen.

fundiert: Wann wurde diese Auffassung aufgegeben?

Brandstetter: Erst die US-Avantgarde der Sechzigerjahre hat Fragestellungen zum Tier wieder ins Spiel gebracht. Allerdings mit sehr stilisierten Ansätzen oder etwa den Methoden des Films, wie auch Walt Disney in „Fantasia“ zeigt. Der amerikanische Choreograf Merce Cunningham hat dann später eine Choreografie gemacht, die er Beach Birds nannte. Die Kostüme der Tänzer sind so grafisch in schwarz und weiß unterteilt, dass man zwar an Möwen oder Strandläufer denken könnte. Allerdings geht es bei diesen Vögeln nicht mehr ums Fliegen.

fundiert: Wenn Tiere nicht mehr als Bewegungsideale im Tanz dienen – wie werden sie dann heute betrachtet?

Brandstetter: Ich würde sagen, dass sich die Idee vom Tier geändert hat. Man sieht das Tier nicht mehr in einer pantomimischen Betrachtungsweise oder als „Einzelstudie“ für eine Bewegung. Stattdessen rückt mit Cunningham die Relation von Tieren in größeren Einheiten – etwa als Schwärme – in den Fokus.

fundiert: Mit Schwärmen beschäftigen sich auch die Informatik und die Biologie. Was interessiert die Tanzwissenschaft daran?

Brandstetter: Das Thema ist in vielen Teilen der Gesellschaft wichtig und wird erforscht, weil es viel mit Synchronisation von Bewegung zu tun hat. Der Schweizer Choreograf Thomas Hauert, der gerade die Valeska- Gert-Gastprofessur der Freien Universität innehat, arbeitet mit unseren Studenten an Schwarm-Modellen. Wie kann ich mich in einer Gruppe so bewegen, dass es keine hierarchischen Strukturen gibt? Dadurch, dass man im Schwarm kontinuierlich in Bewegung ist, sich immer am anderen und an der Umwelt ausrichtet, generieren sich ständig neue Bewegungen, Bewegungsmuster und Dynamiken.

fundiert: Die problematische Beziehung zwischen Mensch und Tier – wie wird sie im zeitgenössischen Tanz thematisiert?

Brandstetter: Xavier Le Roy, ein international bekannter Tänzer und Choreograf, der ebenfalls die Valeska-Gert- Professur innehatte, hat sich beispielsweise in einem Beitrag als Redner nackt auf die Bühne gestellt. Während seines Vortrags demonstrierte er dann verschiedene Bewegungen: Wie kann man sich niederlassen wie ein Raubtier? Wie ein Löwe? Und zwar ohne das Tier nachzuahmen, sondern über bestimmte Spannungsdynamiken, die bei der Bewegung eine Rolle spielen. Eine Bewegungs-Exploration, die letztendlich ein Appell ist, über das Menschliche neu nachzudenken.

fundiert: Weckt das Tier im Tanz denn überhaupt noch Sehnsucht, etwa nach einem Gegenentwurf zur Gesellschaft?

Brandstetter: Ich glaube, die Sehnsucht geht nicht dahin, dass man „eins mit sich selbst“ sein will, wie ein Tier. Eher geht es um die Sehnsucht nach Übertragungsprozessen und neuen Erfahrungen. Es ist ein explorativer und forschender Blick auf die Tiere – etwa, um Hierarchien zwischen Mensch und Tier zu hinterfragen und für einen Moment beiseite zu lassen. Eigentlich also eine menschliche Utopie des Miteinanderseins.

Das Intervies führte Julia Rudorf

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Gabriele Brandstetter

Prof. Dr. Gabriele Brandstetter
Bildquelle: Christina Stivali

Prof. Dr. Gabriele Brandstetter

Gabriele Brandstetter war die perfekte Ansprechpartnerin für ein Interview zum Tier im Tanz: Die Trägerin des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises, der ihr 2004 verliehen wurde, hatte sich schon mit einer Arbeit zu „Lecture corporelle. Körperbilder und Raumfiguren in Tanz, Theater und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ habilitiert. Seit dem Sommersemester 2003 ist sie Professorin für Theaterwissenschaft, Schwerpunkt Tanzwissenschaft, an der Freien Universität, davor hatte sie unter anderem eine Professur an der Universität Basel und der Justus-Liebig-Universität Gießen inne.

E-Mail: theater-tanz@fu-berlin.de