Zuses Erben
Das MATHEON ist eines der größten Forschungszentren der Mathematik. Vom ersten Moment an dabei: das Zuse-Institut auf dem Campus Dahlem
22.10.2012
Das MATHEON ist eines der größten Forschungszentren der Mathematik. Vom ersten Moment an dabei: das Zuse-Institut auf dem Campus Dahlem.
Bildquelle: Klaus Tschira Stiftung / Fotograf: Norbert Michalke
Lebte Konrad Zuse heute noch, er wäre sicher beteiligt am Forschungszentrum MATHEON. Einst erfand er die ersten Rechenmaschinen, heute nutzen seine wissenschaftlichen Nachfolger leistungsstarke Rechner und die Mathematik, um chirurgische Eingriffe zu simulieren, Krankheiten zu erkennen und zu heilen. Dafür reicht manchmal schon ein einziger Tropfen Blut.
Dass Berlin mittlerweile die Hauptstadt der angewandten Mathematik ist, hat auch etwas mit Peter Deuflhards Sofa zu tun. Auf dem dunklen Ledersofa in Deuflhards Büro im Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin (ZIB) fassten Deuflhard und sein ZIB-Kollege Martin Grötschel, Professor an der Technischen Universität Berlin im Jahr 2001 den Entschluss, Berlin müsse sich auf eine Ausschreibung der Deutschen Forschungsgesellschaft DFG zu bewerben. Es ging um etwas damals völlig neues, etwas sehr großes: Die Idee von DFG-Forschungszentren stand im Raum. Deuflhard und Grötschel entwickelten die Vision eines hochschul- und institutsübergreifenden Zentrums für angewandte Mathematik.
„Wir kamen zu dem Schluss: Wir können es uns partout nicht leisten, diese Ausschreibung zu ignorieren. Wir wussten, dass es berlinweit in der Mathematik genug kluge Köpfe gibt, um etwas Außergewöhnliches zu wagen, wenn alle drei Universitäten zusammenarbeiten“, sagt Deuflhard, der nicht nur hochdekorierter Mathematikprofessor an der Freien Universität ist, sondern auch Gründer und Präsident des Konrad-Zuse-Zentrums auf dem Dahlemer Campus. Sie konzipierten gemeinsam mit Volker Mehrmann, Technische Universität Berlin und heute Sprecher von MATHEON, zuerst in zwei Tagen das Bewerbungskonzept und dann mit weiteren Kollegen der drei Universitäten und des Weierstraß-Instituts für Angewandte Analysis und Stochastik den umfangreichen Vollantrag.
Das erste Forschungszentrum für die Anwendung der Mathematik
Nach einem Bewerbungsmarathon – zunächst hatten sich 89 Bewerber gemeldet – setzte sich Berlin 2002 schließlich durch: Das erste DFG-Forschungszentrum für Anwendung der Mathematik in den Schlüsseltechnologien mit einer Laufzeit von bis zu zwölf Jahren und einer Förderung von 5,6 Millionen Euro im Jahr entstand in der Bundeshauptstadt. 200 Forscher in rund 70 Projekten arbeiten seit mehr als zehn Jahren an Problemen der angewandten Mathematik in den Schlüsseltechnologien – von Verkehrs- und Kommunikationsnetzwerken über Verfahrenstechnik und Finanzmathematik bis zu Lebenswissenschaften unter Einschluss der Medizin. Letzteres ist ein Bereich, an dem vor allem die Freie Universität stark vertreten ist. Die einzelnen Teams werden dabei nicht „mit der Gießkanne“ finanziert, wie Deuflhard es nennt, sondern müssen sich innerhalb des Zentrums mit ihren Projekten um Förderung bewerben – Nachwuchswissenschaftler ebenso wie arrivierte Professoren. Einmal im Jahr hat jeder zehn Minuten Zeit, vor dem Plenum des MATHEON sein Forschungsprojekt vorzustellen. Dann wird fünf Minuten debattiert, am Ende entschieden. 80 Projekte bewarben sich beim letzten Zentrumstag, 50 wurden finanziert. „Ein sehr gutes, sehr gerechtes Modell, das längst Schule gemacht hat“, lobt Peter Deuflhard.
Bevor der Chirurg den ersten Schnitt setzt, wird die Operation am Rechner simuliert
Dass Benedikt Huber (Name geändert) schmerzfrei kauen kann und sich ohne Scheu in die Öffentlichkeit wagt, hat viel mit Mathematik und einiges mit MATHEON zu tun. Und natürlich mit der Fertigkeit seiner Ärzte. Benedikt Huber war einer der ersten Patienten, dessen Chirurg einen Eingriff an seinem Kinn – es war etwas zu lang geraten – vorher am Computer probieren konnte. Die Mathematik dazu kam von Peter Deuflhard. Seine Forschung ermöglichte eine Software, die nach einer Vermessung von Hubers Schädel berechnen konnte, wie das Gesicht aussieht und wie der Kiefer funktoniert, wenn der Chirurg den Schnitt an einer bestimmten Stelle ansetzt. Es zeigt auch, wie sich das Ergebnis verändert, wenn der Schnitt weiter vorne oder hinten ausgeführt wurde, wenn er länger oder kürzer wird. Bis dahin konnten Ärzte das Ergebnis nur mithilfe aufwändiger Plexiglasmodelle simulieren – das war teuer, kostete viel Zeit und erwies sich bei gewünschten Änderungen als unpraktisch.
Mit Deuflhards Algorithmen hingegen sind Prognose-Genauigkeiten von 0,5 bis 0,1 Millimeter möglich. Dazu muss das Computerprogramm partielle Differentialgleichungen lösen, was wiederum auf Gleichungen mit rund einer viertel Million Unbekannten führt. „Sie können das entweder unelegant lösen, dann dauert es Monate, oder elegant, dann dauert es Minuten“, sagt Deuflhard. Monate wären viel zu aufwändig für die Operationsplanung, dank Deuflhards Algorithmen aber schafft das ein handelsüblicher PC heute in wenigen Minuten. Doch um die Veränderungen im Gesicht überhaupt berechnen zu können, benötigt das Programm ein dreidimensionales Modell vom Kopf des Patienten. Auch hier kommen die Forschungen aus dem MATHEON der Medizin zugute.
Mit ihrer Hilfe ist es möglich, aus den einzelnen Schnittbildern des Kopfes, die ein Computer- und ein Magnetresonanztomograph erzeugen, ein dreidimensionales mathematisches Modell zu gewinnen, an dem die Algorithmen rechnen können. Ein klassisches Röntgengerät liefert die Informationen über die Knochen, die Tomographen jene vom Gewebe, den Muskeln und den Sehnen. So bleibt bei der Platzierung des Schnitts mit dem Skalpell – genauer: mit der Oszillationssäge – wenig dem Zufall überlassen. Das funktioniert mittlerweile mit nahezu jeder Operation am Schädel zuverlässig und wurde hundertfach erprobt, sagt Peter Deuflhard. Lediglich der Augenbogen bereitete den Forschern wegen einiger Besonderheiten seines komplizierten Aufbaus noch eine Weile Kopfzerbrechen. Peter Deuflhard indes war das Gesicht irgendwann nicht mehr genug: Er arbeitet mit seinen Kollegen mittlerweile an der Prognose des Operationserfolgs an weiteren Körperteilen. Als besonders schwierig erwies sich das Knie, ein hochkomplexes Organ, das sehr komplexe Bewegungen ausführt und mit dem sich Deuflhard zusammen mit seinem Kollegen Ralf Kornhuber von der Freien Universität eingehend beschäftigt hat. „Das haben wir am Ende geknackt, obgleich sich andere Kollegen jahrelang erfolglos daran versuchten“, sagt Deuflhard heute. Seine Vision: Irgendwann kann ein Programm jedes Operationsresultat an jedem Körperteil prognostizieren, vorausgesetzt die Operation gelingt.
Dass ein Arzt, wenn er den Verdacht hat, ein Patient könnte an einer Grippe leiden, bisher mehrere Tage auf ein Testresultat aus dem Labor warten musste, um Sicherheit zu erlangen, findet Tim Conrad recht umständlich. Er würde das Problem gern mathematisch lösen. Conrad ist Bio-Informatiker an der Freien Universität, und seine Arbeitsgruppe befasst sich mit der Analyse biologischer Muster. Ohne MATHEON, sagt er, gäbe es diese Arbeitsgruppe gar nicht. Angefangen hat alles mit einem Projekt zur Proteomanalyse. Als Proteom wird die Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen bezeichnet. Das menschliche Proteom besteht aus zigtausend verschiedenen Eiweißen in verschiedensten Konzentrationen, darunter auch Hormone und Peptide.
Eine Proteom-Analyse kann Lungenkrebs im Frühstadium erkennen. Ein einziger Tropfen Blut genügt.
Bildquelle: photocase, exenmann http://www.photocase.de/foto/13756-stock-photo-rot-wassertropfen-spitze-schmerz-obskur-blut
Beim Analysieren des Proteoms kommen selbst beste Rechner an ihre Grenzen
Um diese vielen Milliarden Moleküle zu analysieren, scheidet Handzählung weitgehend aus: Computerhilfe ist unerlässlich. Doch selbst moderne, leistungsfähige Computer kommen an ihre Grenzen, wenn sie solche Datensätze in kurzer Zeit analysieren müssen. Mehrere Stunden benötigt ein handelsüblicher Rechner für die statistische Auswertung des Proteoms. Conrad verkürzte diese Zeit, indem er eine Spielkonsole für seine Zwecke nutzte – die ist jedem handelsüblichen Rechner an Vielseitigkeit weit unterlegen, eignete sich aber für die laut Conrad „strunzdumme“ Aufgabe des Proteom-Auszählens hervorragend. Mittlerweile ist auch Conrad mit seinem Team ein paar Schritte weiter:
Das Projekt, mit Statistik im Milliarden Informationen umfassenden Proteom bestimmte Muster zu erkennen, um etwa Lungenkrebs in einem Stadium zu erkennen, in dem noch kein anderer Test anschlägt, ist abgeschlossen und soll in den nächsten zwei Jahren auf den Markt kommen. Das Verfahren könnte vielen Menschen das Leben retten, denn Lungenkrebs ist in einem frühen Stadium noch sehr gut und in einem späten Stadium fast nicht mehr heilbar. Zudem erspart die Proteom-Analyse dem Patienten eine aufwändige und schmerzhafte Lungenspiegelung, ein Tropfen Blut genügt. Tim Conrad indes sucht weiter nach den statistischen Mustern von Krankheiten – doch nicht nur in Körperflüssigkeiten wie Blut, Speichel oder Augenwasser, sondern in allen gesundheitsrelevanten Daten. Das können auch Fragebögen sein, wie sie in den letzten drei Jahren mehr als 1000 Eltern vorgelegt bekamen, die ihre Kinder mit Verdacht auf Grippe in die Kinderrettungsstelle der Charité brachten. Mehrere Dutzend Fragen mussten sie beantworten – zur Höhe und Dauer des Fiebers, zur Rötung des Halses, Art des Hustens und vielem mehr. Die Ärzte schickten zugleich von jedem Kind eine Abstrichprobe an das Robert-Koch-Institut, um es auf Grippe-Viren testen zu lassen.
Die Frage, die Tim Conrad und seine Projektpartner um Barbara Rath von der Charité interessiert, ist nun: Welche der 100 Faktoren, die der Fragebogen erfasst, unterscheiden am Ende am sichersten zwischen einer echten Grippe und einer normalen Atemwegs-Infektion? „Wenn es uns gelingt, fünf oder zwölf Faktoren zu isolieren, können wir Eltern und Patienten möglicherweise den Gang zum Arzt ersparen – oder zumindest das Warten auf das Laborergebnis“, sagt Tim Conrad. Auch Kosten spart das, denn ein Grippetest schlägt mit etwa 200 Euro zu Buche. Um aus der Datenflut dieses „Muster“ der Krankheit sicher bestimmen zu können, braucht der Mathematiker eine große Menge an Daten. Je mehr Fälle, desto sicherer ist es, dass ein Ergebnis kein Zufall ist, das ist – etwas verkürzt – eine der Grundfesten der Statistik.
Tim Conrad schwebt am Ende eine personalisierte Medizin vor, die aus einer Menge an Datenquellen – Proteom, Genom, Fragebogen – schnellere, bessere und vor allem individuellere Antworten auf Gesundheitsfragen und Behandlungsempfehlungen geben kann. „Wir müssen vom blutigen Fingerabdruck zu einem Fingerabdruck der Krankheit in allen Daten gelangen“, sagt er. Das mathematische Verfahren dazu nennt sich Netzwerkanalyse, denn aus Sicht der Mathematik kann auch jeder Mensch als Netzwerk aus Daten und Parametern begriffen werden. „Flapsig gesagt wollen wir so herausfinden, ob, wenn links oben etwas kaputt ist, die Ursache nicht auch rechts unten liegen kann“ – das ist so ein typischer Tim-Conrad-Satz. Mit der Komplexität der Mathematik will der Bioinformatiker so der Komplexität des Körpers gerecht werden. Das gelingt nicht mit einem Fachgebiet allein: Der Charme von MATHEON sei es, dass das Forschungszentrum so viel Austausch und Inspiration gewährleiste, sagt Conrad. Wann immer der Bioinformatiker ins Stocken kommt, kann er sich beim Mathematiker Inspiration holen. Oder seine Algorithmen, die zwar funktionieren, in dieser Kooperation so zu optimieren, dass sie schneller und zuverlässiger gerechnet werden.
Brückenschwingungen als Vorlage für die Medizin
So greift Conrad etwa auf Methoden zur Berechnung von Brückenschwingungen zurück, um seine Daten auf Robustheit zu überprüfen. Zunächst sei MATHEON nur ein guter Gedanke und eine tolle Geldquelle gewesen, doch schnell sei es gelungen, einen Teamgedanken zu verbreiten, schwärmt Tim Conrad. „Das gibt es nicht oft in Deutschland, in Forschungsverbünden schaut traditionell erstmal jeder auf seinen Bereich. MATHEON hat es geschafft, dass die Projekte miteinander reden, das führt oft erst zum Heureka-Moment“, sagt er. In Europa gibt es auf dem Gebiet der Mathematik nichts Vergleichbares.
Das bestätigt auch Peter Deuflhard, der, obgleich erfolgsverwöhnt, noch immer fast ein wenig überrascht wirkt, dass etwas, das auf seinem Sofa seinen Anfang nahm, so schnell so erfolgreich wurde. „Berlin ist weltweit die Hauptstadt der angewandten Mathematik geworden. Ich bin alt genug, das sagen zu dürfen“, sagt Deuflhard und kokettiert ein wenig mit seiner Ende September anstehenden Emeritierung. „Was wir hier auf die Beine gestellt haben, kann weltweit nur noch vom berühmten Courant-Institut in New York übertroffen werden. In einigen Dingen ist man dort weiter als wir, in anderen weniger gut aufgestellt“, so Deuflhard. Dass das vielen Berlinern gar nicht so bewusst ist, liege auch daran, dass MATHEON „nicht viel Reklame“ mache:
„Unsere Reklame ist unsere wissenschaftliche Wirkung, und die ist weltweit enorm.“ Berlin stehe für moderne, angewandte Mathematik, die einerseits sehr stark in der Theorie und andererseits sehr stark in schwierigen Anwendungen verankert sei. Dafür spreche auch, dass die MATHEON-Forscher rasante Karrieren machten: 80 Rufe an andere Unis haben sie in den letzten Jahren bekommen, 60 Wissenschaftler sind diesen Rufen gefolgt. „Wir pumpen viel Wissen über MATHEON in die deutsche Universitäts- und Industrielandschaft“, so Deuflhard. Zahlreiche Ausgründungen, gerade im Medizinbereich, bringen die Ergebnisse zu den Patienten.