Eine Prognose ist nie sicher
Warum sich Wirtschaftswissenschaftler mit Vorhersagen bei der Eurokrise schwertun
22.10.2012
In der Finanzkrise erreichen uns jeden Tag neue Informationen über Kurs- und Konjunkturentwicklungen, mögliche Blasen und drohende Staatspleiten, die auf den Finanzmärkten große Paniken auslösen können. Die wenigsten Nicht-Ökonomen wissen jedoch, was sich hinter diesen Prognosen verbirgt: Bei den meisten Vorhersagen handelt es sich um stochastische Verfahren, die die Wahrscheinlichkeit von Krisen oder Konjunktur in Zahlen abbilden. Was rapide Kurssteigerungen oder tiefe Abstürze auslösen kann, ist – nüchtern betrachtet – nichts weiter als pure Mathematik. Zumindest in der Theorie.
Helmut Lütkepohl ist Bundesbankprofessor für das Fachgebiet „Methoden der empirischen Wirtschaftsforschung“ an der Freien Universität Berlin. Er ist einer jener Wissenschaftler, die mathematische Gleichungen entwickeln, um ökonomische Prognosen so zuverlässig wie möglich zu gestalten. 1981 wurde der Ökonom an der Universität Bielefeld promoviert und lehrt jetzt am Institut für Statistik und Ökonometrie. Sein Spezialgebiet sind sogenannte vektor-autoregressive Modelle, die auf wahrscheinlichkeitstheoretischen Prämissen basieren. Mit ihrer Hilfe werden lineare Modelle entwickelt, um möglichst genaue Vorhersagen zu treffen. „Man versucht, aus den vergangenen Daten eine Struktur herauszudestillieren, die sich in der Zukunft fortschreiben lässt.“ Aus den Daten von gestern kann dann bestenfalls ein realistisches Szenario für Morgen entstehen. Eine Kunst, an der viele Marktteilnehmer interessiert sind. Denn gute Prognosen können einen entscheidenden Informationsvorteil bedeuten.
Scheinbar keine Sicherheit. Nirgends.
Ausgerechnet in der aktuellen Eurokrise gestalten sich Vorhersagen jedoch auffallend kompliziert. Wohin man auch blickt – kein Ökonom kann mit Sicherheit sagen, was in der Zukunft passieren und welches Szenario mit größter Sicherheit eintreten wird. Damit werden auch Grenzen für abgeleitete Empfehlungen erreicht. Sollte Griechenland aus der Euro-Zone austreten und somit einen Staatsbankrott riskieren? Oder sollte sich das Land zur Euro-Währung bekennen und versuchen, die verbleibenden Schulden zu tilgen? Die Meinungen der Experten gehen auseinander – nicht zuletzt deshalb, weil genauere Vorhersagen fehlen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Doch warum hat die Prognostik gerade jetzt so zu kämpfen? Das Dilemma basiert vor allem auf der erhöhten Unsicherheitslage, sagt Helmut Lütkepohl.
Der Wirtschaftswissenschaftler, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung auch das Doktorandenprogramm des „DIW Graduate Center“ leitet, verweist auf die Einmaligkeit der Situation: Aus vielen unberechenbaren Faktoren ist es kaum möglich, eine zuverlässige Prognose zu bekommen. „Wenn man aus der Vergangenheit die Zukunft prognostizieren will, dann kann man das natürlich nur auf der Basis dessen tun, was schon mal vorgekommen ist. Und wenn so eine Krise ganz neue Aspekte und Dateneigenschaften aufweist, dann muss man das entsprechend berücksichtigen.“
Bislang kein Austritt aus der Eurozone
Zum Beispiel die Variable Griechenland. Den Austritt eines EU-Mitgliedslandes aus der Euro-Zone hat es bisher noch nicht gegeben. Also können die Modelle, die Ökonomen wie Helmut Lütkepohl entwickeln, auch nicht mit verlässlichen Daten aus der Vergangenheit operieren. Der Wirtschaftswissenschaftler vergleicht das Phänomen mit der Lage von 2008. Damals standen amerikanische Politiker vor der Entscheidung, die Lehman Brothers Bank – damals eine der größten Banken der Welt – pleite gehen zu lassen. Keiner wusste so genau, was bei solch einer Pleite passieren würde, denn ein solches Szenario hatte es bis dahin in keinem Industriestaat gegeben. Ein weiterer unberechenbarer Faktor: die Politik. Wenn es um wichtige ökonomische Entscheidungen geht, könne man nie genau voraussagen, was die Staatschefs beim nächsten Gipfeltreffen beschließen. Weil die mathematischen Modelle mit Daten operieren müssen, die auf der Spekulation der Ökonomen beruhen, steht hinter jedem Ergebnis im Moment ein großes Fragezeichen.
Allgemein gilt: je außergewöhnlicher die Situation, desto unsicherer die Prognose. Doch genau das werde oft unterschlagen, wenn über die Krise berichtet wird. Das ärgert den Ökonomen Lütkepohl. „Modelle müssen immer stark vereinfachen. Man muss sich aber im Klaren sein, dass es wegen dieser Vereinfachung große Unsicherheiten bei den Ergebnissen gibt. Das spiegelt sich in den Medien nicht wider. Da wird häufig nur ein einziger Wert angegeben. Dabei wird in unseren Modellen bei jeder Prognose auch veröffentlicht, wie unsicher der Wert ist.” Wer sich also auf Voraussagen beziehe, müsse das beachten. Die Erfahrung zeige jedoch: je komplexer die wirtschaftliche Situation, desto größer der Wunsch nach einfachen Erklärungen. Das sei zwar menschlich nachvollziehbar, wissenschaftlich jedoch nicht haltbar.
Bis zu welchem Punkt kann die Mathematik helfen?
Auch bei der Interpretation von Prognosen dürfe man nicht vergessen, wie sie zustande kommen. Dass ein Staat eine niedrige Wirtschaftsleistung erwartet, das könne man berechnen. Eine eindeutige Antwort, was man als nächstes tun müsste jedoch nicht. Deshalb, so Lütkepohl, könne man Empfehlungen nur mithilfe eines ideologischen Modells, das subjektive Faktoren beinhaltet, ableiten. Wenn die Mathematik nicht mehr weiterhilft, kommen konkurrierende Denkschulen und ökonomische Vorstellungen ins Spiel.
Das kann man jetzt auch bei der Griechenland-Krise beobachten. Verschiedene Ökonomen geben unterschiedliche Handlungsanweisungen. Und niemand weiß mit Sicherheit, welche Lösung unter den vielen möglichen die richtige ist. Ein bisschen sei es wie bei der Wettervorhersage: Ob es morgen regnet, kann man noch mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen. Die Prognose für die nächste Woche fällt schon viel schwieriger aus. Und was dann tatsächlich passiert, das ist immer noch eine ganz andere Geschichte.