Die Magie der Zahlen
Für die einen ist es eine schlichte 5 - für die anderen Teufelszeug. Über die Bedeutung, Mystik und Irrationalität von Zahlen
22.10.2012
Um Zahlen ranken sich allerlei Mythen, denn ihre Symbolkraft ist groß. Die 5 soll diabolisch sein, die 2 weiblich und die 9 vollendend. Warum eigentlich? Philosophiehistoriker Wilhelm Schmidt-Biggemann hat die Entstehung solcher Deutungsmuster erforscht.
Es gibt Menschen, die am Freitag den 13. keine Flüge buchen oder im Hotel niemals ein Zimmer mit der Nummer 13 reservieren würden. Das sogenannte verflixte siebte Jahr soll Paaren Unglück bescheren. Wenn Professor Wilhelm Schmidt-Biggemann beantworten soll, wie viel Wahrheit in solchen Mythen steckt, muss er erst einmal schmunzeln. Der Philosophiehistoriker kennt die Gründe dafür, dass solche Geschichten entstanden sind. Seit vielen Jahren erforscht er die Symbolik der Zahlen, gilt als Experte auf dem Gebiet.
„Wenn jemand Angst vor einem Freitag, den 13. hat, dann frage ich erst einmal, ob er Christ ist“, sagt Schmidt-Biggemann. „Freitag, das ist der Todestag Jesu, und Judas, das ist der Verräter, der 13. Apostel“, sagt er. Christen könne das bewusst oder unbewusst Unbehagen bereiten. Dass Zahlen aber Einfluss auf das persönliche Schicksal haben, daran glaubt Schmidt-Biggemann nicht. Dass an solchen Tagen nicht mehr Unfälle passieren als an anderen, belegt mittlerweile die Statistik. Dass es zur Häufigkeit von Unglücksfällen überhaupt Untersuchungen gibt, belegt aber auch, wie hartnäckig sich Zahlenmythen halten.
Professor Schmidt-Biggemann, weißer Bart und sonore Erzählstimme, ist ein akademisches Urgestein auf seinem Gebiet. Seit 1979 forscht und lehrt er an der Freien Universität. Philosophie, Theologie und symbolische Mathematik haben den Professor Zeit seiner wissenschaftlichen Karriere beschäftigt.
Woher kommt die Faszination für Zahlen und Codes, warum rätseln Menschen seit Jahrhunderten, was es mit der Bedeutung der 13, der 5 oder der 7 auf sich hat? Laut Schmidt-Biggemann ist es die Mischung aus Rationalität und Irrationalität, die Dialektik des Geheimnisvollen, die Zahlen derart symbolisch auflädt. Einerseits umgebe sie ein Schleier des Unerforschlichen, weil das Geheimnis nie vollkommen gelüftet werden könne. Andererseits hätten sie mit Logik zu tun, denn sie sind berechenbar. Eine Doppeldeutigkeit, die das Rätseln immer wieder neu befeuert: „Zahlen erscheinen uns als absolut rational, und doch erwartet man etwas Rätselhaftes dahinter“, sagt Schmidt-Biggemann. „Es sind alte Geschichten, deren Sinn uns abhandengekommen ist und von denen nur noch die Hülsen übriggeblieben sind.“
Schmidt-Biggemann ist in erster Linie Wissenschaftler und wappnet sich gerne mit der wohl nötigen ironischen Skepsis gegen allerlei verbreitetes Halbund Unwissen. Das gilt auch für den Mythos um das siebte Beziehungsjahr. „Ob es verflixt ist, sei dahingestellt, aber das Deutungsmuster stammt aus der Schöpfungsgeschichte“, sagt er. In sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen, am siebten Tag ruhte er; daher komme unser Wochenrhythmus. „Nach der 7 kommt erst einmal nichts“, sagt Schmidt-Biggemann. „Deshalb steht die 8 auch für Unendlichkeit.“
Die Zahlenmanie treibt manchmal seltsame Blüten: Einmal nahm Schmidt-Biggemann an einer Radiosendung teil. Es ging um die Taktzahlen aus Bachs Matthäuspassion; Zahlen aus dem großen Chor „Kreuziget ihn“. Ein Wissenschaftler meinte herausgefunden zu haben, dass der Chor, gemessen an der Gesamtzahl der Takte der Matthäuspassion, genau in der Mitte stehe und wie ein Kreuz komponiert sei. Schmidt-Biggemann zeigte sich skeptisch in der Diskussion, er selbst habe noch nie derartige Berechnungen angestellt, weil er solche Deutungsmuster für unwissenschaftlich hält. Im Kreis der Fans von Zahlenmystik sei er oft der „Ketzer“ unter den Gläubigen.
Trotzdem fasziniert ihn die paradoxe Rationalität der Zahlen und ihre nachhaltige Wirkung auf den Menschen – selbst im 21. Jahrhundert. „Niemand weiß, wie sie entstanden sind, Zahlen haben keinen Zeitindex, sie haben den Anspruch, immer zu gelten“, sagt er. Das Argument, Zahlen seien erst mit dem menschlichen Denken entstanden, hält er aus mathematischer wie philosophischer Sicht für falsch. „Dann ergäben 2 und 2 erst 4, seit es Menschen gibt“, sagt Schmidt-Biggemann. Eine schwierige Vorstellung, einerseits. Andererseits: Wer sonst könnte diese Rechnung vor dem Menschen aufgestellt haben?
Dass diese Gleichung nur aufgeht, wenn man von einer ewigen, einer göttlichen Intelligenz ausgeht, ist ebenfalls ein Merkmal der Zahlensymbolik. „Sie hat meistens einen theologischen, häufig einen jüdischen Ursprung“, sagt Schmidt-Biggemann. 5 ist die Zahl, die über den vierbuchstabigen göttlichen Namen JHWH hinausgeht, deshalb stelle sie die Perfektion des Göttlichen infrage und gelte als diabolisch. Die 2 ist weiblich, weil sie seit dem Paradies zeige, dass es nicht gut ist, wenn der Mann allein bleibt. Die 9 ist perfekt, weil sie die Kraft des dreieinigen Gottes symbolisiere. Als Rheinländer, im katholischen Olpe geboren, erfreut sich Schmidt-Biggemann manchmal an der 11 gerade, weil diese keine tiefere Bedeutung habe. „Sie ist religiös nicht besetzt, deshalb feiern wir am 11.11. Karneval“, sagt er.
Besonders in der Tradition des Judentums hat Zahlenmystik einen festen Platz. „Im Hebräischen bedeutet jeder Buchstabe eine Zahl, und jedes Wort hat einen Zahlwert“, erläutert Schmidt-Biggemann. Einige gläubige Juden berechnen deshalb Passagen aus der Thora. Über Interpretation und Deutung erhalten Zahlen Symbolwerte, die über die reine Arithmetik hinausgehen. „Gläubige hegen die Hoffnung, den zentralen Buchstaben und das zentrale Wort zu erhalten, worin die ganze Kraft der Offenbarung vereinigt ist.“
Eine derartige Mystifizierung von Zahlen bietet viel Stoff für Debatten – esoterischer, aber auch wissenschaftlicher Natur. Schmidt-Biggemann inspirierten sie zu einem seiner großen Forschungsprojekte. Als junger Wissenschaftler hatte er den Religionshistoriker Gershom Scholem kennengelernt, der als Wiederentdecker der jüdischen Kabbala gilt, der mystischen Tradition des Judentums. Da die Kabbala fest in der Thora verwurzelt ist, brachte das den Forscher auf einen Gedanken: Wenn es eine jüdische Kabbala gibt, muss es auch eine christliche Kabbala geben, dachte Schmidt-Biggemann.
Tatsächlich entdeckte er Belege für eine solche zahlenmythische Strömung, die vor allem in der Renaissance Einfluss hatte. Die jüdische Kabbala wurde genutzt, um in ihr nach einem christlichen Sinn zu suchen. Für sein Buch mit dem Titel Die Geschichte der christlichen Kabbala hat Schmidt-Biggemann die Genese der christlichen Zahlenmystik nachgezeichnet – vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Es ist die erste Monografie auf diesem Gebiet, der erste von vier Bänden ist kürzlich erschienen. „Kabbala ist erheblich mehr als Zahlensymbolik, aber diese ist ein wichtiger Teil davon“, sagt er. Dass sein Lebenswerk, an dem er 15 Jahre arbeitete, ausgerechnet 700 Seiten hat, mag Zufall sein. Schmidt-Biggemann sieht es mit mystischer Ironie: „Was ist unter kabbalistischen Bedingungen schon Zufall?“