Wahrheit - die unberechenbare Größe
Wie eine Philosophin und ein Mathematiker mit Zahlen der Wirklichkeit nahekommen
22.10.2012
Seitdem es Philosophie und Mathematik gibt, überschneiden sich die Fragestellungen beider Disziplinen. Drückt Mathematik etwas über die „wahre“ Wirklichkeit aus? Oder sind Kalküle nur Konstrukte menschlichen Denkens? Über Wahrheiten, Parallelen und Schnittmengen sprach fundiert mit Sybille Krämer, Philosophin an der Freien Universität, und Ehrhard Behrends vom Institut für Mathematik der Freien Universität.
„Keiner möge hier eintreten, der nichts von Geometrie versteht.“ Dieser Satz stand auf den Toren der Akademie des griechischen Philosophen Platon. Keine Philosophie ohne Mathematik – das war die Überzeugung der Antike. Schon damals waren Philosophen von den Grundlagen der Mathematik fasziniert. Auch heute besuchen Studierende der Philosophie Logikkurse, argumentieren und begründen, um mithilfe der Mathematik den Verstand zu schärfen und das Urteilsvermögen zu trainieren.
Das Interesse von Sybille Krämer geht freilich noch weiter. Die Philosophin interessiert sich für das Spannungsverhältnis zwischen Idealität und Realität in der Mathematik und Philosophie: „Einerseits zielt der Mathematiker auf etwas Abstraktes, ganz Ideales, wie den perfekten Kreis. Andererseits gibt es keine Kreise in der irdischen Welt. Der Kreis ist ein mathematischer Begriff; er ist ein Konstrukt. Doch um über diese idealen Kreise etwas zu erkennen, muss der Mathematiker mit gezeichneten Kreisen, mit Zirkel und Lineal auf dem Papier arbeiten“, sagt die Philosophin.
Mathematik für Schafzüchter und Bauherren
Die Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin hat sich in ihrer Habilitationsschrift mit dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und seinen mathematischen Studien beschäftigt. In ihrem Buch „Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert“ diagnostiziert sie einen Bruch, der für das moderne Denken radikale Folgen hat.
Sybille Krämer beschreibt die Entstehung des sogenannten Operativen Symbolismus, mit dem die Mathematik sich von der konkret erfahrbaren Welt abgewendet und zu einer abstrakten hingewendet hat. So erst entstand das System der Formeln, ein neuartiges Medium, das mit unendlichen Größen operiert. „Bei den Ägyptern war Mathematik noch eine Rechenkunst, die sich im praktischen Gebrauch zu bewähren hatte.“ Von Nutzen war Mathematik also zunächst beim Häuserbau oder beim Zählen von Schafen.
Erst die Griechen unterwarfen das Operieren mit Zahlen dem Beweis: Auf einmal ging es nicht nur darum, Zahlen im Alltag zu verwenden, sondern auch darum, ihre Relationen untereinander zu beweisen. „Die Rechenkunst wurde bei den Griechen umgebildet zu einer Wissenschaft, bei der es darum ging, wahre Sätze über mathematische Objekte zu rechtfertigen.“ Ein wichtiger Schritt hin zum abstrakten Denken.
Trotzdem blieb auch bei den Griechen noch die überprüfbare Wirklichkeit der Anker für mathematische Studien. Es gab keine einheitliche Variablensprache, mit der man abstrakte Größen hätte ausdrücken können. „Ein Grieche konnte „a“ mit einer Linie verbinden, „a2“ mit einem Quadrat und „a3“ mit einem Volumen“, sagt Sybille Krämer „Aber ein „a4“ ist dann kein akzeptables Objekt mehr, weil es den Bereich der menschlichen Erfahrungswelt übersteigt.“ Insofern sei die griechische Mathematik immer noch am Realen orientiert gewesen. Das habe sich erst mit der Formalisierung in der Neuzeit geändert.
Emanzipation von der Wirklichkeit
Die Philosophin beschreibt diese Wende mit dem Begriff des Kalküls, der auf den Philosophen Leibniz zurückgeht. Dessen mathematische und logische Studien hätten Rechnungen ermöglicht, die sich von den realen Verhältnissen in der Welt losgelöst hätten. „So stellte man sogenannte Kalküle auf, bevor man sie überhaupt interpretieren konnte. Dazu gehörte auch der Einsatz des Zeichens für die Null im dezimalen Positionssystem oder das Rechnen mit unendlichen Größen. Man vertraute den regelgeleiteten Verfahren.“ Es entstand ein Symbolismus, durch dessen Existenz die Nabelschnur zwischen Zeichen und Welt ein Stück weit durchtrennt wurde.
Für Sybille Krämer ist Leibniz deshalb eine bahnbrechende Figur, weil er das mathematische Kalkül auch in der Erkenntnistheorie zur Anwendung brachte. Er glaubte, durch die algorithmische Manipulation von Zeichen auf dem Papier zu neuen Wahrheiten zu gelangen.
„Diese Idee wurzelt in der Einführung des schriftlichen Rechnens. Die Römer benötigten noch einen Abakus als Recheninstrument”, erläutert Krämer mit Blick auf die Entstehungsgeschichte. „Erst die Erfindung des dezimalen Positionssystems, das die Araber nach Europa brachten, erlaubte es, Rechnungen als Kalküle, also rein schriftlich, durchzuführen. Leibniz übertrug diese Rechenkunst auf die höhere Mathematik – und hoffte, dieses Verfahren schließlich auch in der Philosophie einsetzen zu können.
Wahrheit durch richtiges Rechnen
Leibniz‘ größte mathematische Leistung war aber die Erfindung des Infinitesimalkalküls. Mit diesem System konnten unendlich kleine oder unendlich große Größen analog zu endlichen Zahlen berechnet werden. Leibniz schaffte es, diese Option zu durchdenken, ohne dass die Frage nach der realen Entsprechung für abstrakte Rechnungen eine Rolle spielte. Das war die Geburtsstunde der Infinitesimalmathematik, die wiederum weitreichende Folgen für die Erkenntnistheorie hatte. Denn Leibniz strebte ein universales Denkkalkül an, das bis in die Disziplin der Rechtsprechung reichen sollte. „Die Annahme war: Wenn sich das Positionssystem der Ziffern als schriftliches Rechenwerkzeug bewährt, dann müsste es auch ein Gedankenalphabet geben. Dieses referiert dann nicht auf Zahlen, sondern auf Begriffe“, erläutert Sybille Krämer. „Sollte es ihm gelingen, diese Schrift so zu organisieren wie ein Kalkül, dann müsste es also möglich sein, alle wahren Gedanken durch mechanische Symbolmanipulation zu entwickeln und so bei jedem vorgelegten Satz entscheiden zu können, ob er wahr ist oder falsch.“ Abstrakte Werte wie Gerechtigkeit oder Wahrheit sollten fortan mathematisch berechenbar sein.
Eine bahnbrechende Idee. Und in ihrer Zeit auch eine hochpolitische, sagt Sybille Krämer. Denn Leibniz entwickelte seine Philosophie vor dem Hintergrund der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Die Wahrheit vom Streit zwischen herrschenden Lehrmeinungen zu emanzipieren, war sein Versuch, eine Universalsprache jenseits aller Dogmen zu finden. „Die Devise hieß: ‚Streiten wir uns nicht um Interpretationen, sondern setzen wir uns zusammen und rechnen! Dann zeigt sich schon, wer Recht hat.’“ Mit Mathematik gegen den Krieg? Dass diese verheißungsvolle Vision mathematisch nicht zu realisieren war, bewies schließlich mehr als 200 Jahre später der österreichisch-amerikanische Mathematiker Kurt Gödel.
Die Welt als Zahlenwerk
Doch nicht nur Leibniz arbeitete an der Formalisierung der Zahlensprache: Im selben Jahrhundert erfand Isaac Newton die Infinitesimalmathematik in England. Und obwohl es zu heftigem Streit darüber kam, wer der erste Entwickler gewesen sei, begannen die Menschen von nun an zu verstehen, dass die Mathematik für alle Bereiche des menschlichen Lebens von enormer Bedeutung ist – ob nun für die Naturwissenschaften oder die Erkenntnistheorie.
Das bestätigt Ehrhard Behrends, Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin. Der Wissenschaftler behandelt in seinen Vorlesungen wichtige Bereiche der Naturphilosophie, um seinen Studierenden zu erklären, welche philosophischen Implikationen mit mathematischem Fortschritt einhergehen. In der Geschichte der Mathematik war die Formulierung der Newton‘schen Gesetze im 17. Jahrhundert besonders einflussreich: „Jetzt war man der Auffassung, dass man die ganze Welt mit Mechanik erklären könne“, sagt Behrends. „Die Erde stellte man sich vor wie ein großes Uhrwerk, das nach rationalen Gesetzen funktioniert. Die Annahme war: Wenn ich in einem Augenblick alle Zustände kenne, kann ich die Zukunft voraussagen und zugleich rekonstruieren, was jemals in der Vergangenheit passiert ist.“ Mathematikhistoriker bezeichnen diese Denkfigur als Laplace‘schen Dämon, der sich die Welt anschaut und alles zurück- und vorausrechnen kann. Diese radikale Vorstellung geht auf den französischen Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749 – 1827) zurück, der mit der Mathematik alle Menschheitsfragen beantworten wollte.
Wissenschaftliche Überheblichkeit und neue Demut
Die Vorstellung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berechnen zu können, habe aber die Mathematik in eine folgenschwere Hybris getrieben, sagt Behrends. „Die Wissenschaft ging jetzt davon aus, sie könne früher oder später alle Probleme lösen.“ Insbesondere die Theologie habe es in dieser Zeit schwer gehabt, sich gegen die wachsende und immer selbstbewusster werdende Wissenschaft zu behaupten. Ehrhard Behrends beschreibt die Wissenschaftshörigkeit jener Epoche mit einer Anekdote.
Es handelt sich um eine Begegnung, die sich zwischen dem Mathematiker Pierre-Simon Laplace und Napoleon am Anfang des 19. Jahrhunderts ereignet haben soll. Laplace zeigte Napoleon seine Abhandlung über die Himmelsmechanik und erklärte ihm, welche spektakulären Veränderungen sich in der Physik ereignet haben. Daraufhin fragte Napoleon: „Warum haben Sie dieses Buch über das Weltall geschrieben, aber nicht einmal seinen Schöpfer erwähnt?“ Laplace antwortete selbstsicher: „Diese Hypothese habe ich nicht benötigt.“ Behrends beschreibt diesen Moment als den Höhepunkt der Überheblichkeit.
Inzwischen hat sich die Situation fundamental verändert. Die Mathematik habe gegenüber Fragen der Theologie und der Metaphysik neue Demut gelernt. „Durch die Entdeckung der sogenannten Unschärferelation wissen wir, dass wir den Zustand der Welt niemals genau erkennen können. Seitdem es die Feldtheorie, die Wärmelehre und die Relativitätstheorie gibt, ist Physik nicht mehr ganz so einfach wie in der Vorstellung des 18. Jahrhunderts.“ Insbesondere in der Moderne seien die Naturwissenschaften immer wieder an die Grenzen des Machbaren gestoßen. Das habe auch die Theorien von Leibniz und Newton relativiert.
Platoniker und Formalisten – zwei unterschiedliche Strömungen
Wenn der Wahrscheinlichkeitstheoretiker Ehrhard Behrends auf die Gegenwart zu sprechen kommt und die philosophische Haltung von zeitgenössischen Wissenschaftlern beschreibt, nennt er zwei wichtige Strömungen, zu denen sich die Mathematiker rechnen ließen. „Einerseits gibt es den Platonismus, auf der anderen Seite den Formalismus.“ Der Platonismus gründe auf dem Glauben, dass das, was sich in der Mathematik als wahr herausstellt, vorher schon existiert haben müsse. Diese Annahme beziehe sich auf die platonische Ideenlehre, die besagt, dass die Begriffe, mit denen wir die Erde beschreiben, immer schon in der Welt existierten. „Platonismus in der Mathematik bedeutet also, dass man mathematische Sachverhalte eigentlich nur noch entdecken muss“, sagt Behrends. Die Tatsache, dass die Wurzel aus 2 eine irrationale Zahl sei, sei für einen Platoniker bereits wahr gewesen, als die Menschen noch auf Bäumen lebten. Die Formalisten sähen das ganz anders: „Die wiederum sagen, dass jede Formel und jede mathematische Gleichung ein Menschenwerk sei, ein Konstrukt.“ Wenn es keine Menschen gäbe – so die Schlussfolgerung –, dann gäbe es auch keine Wurzel aus 2.
Ehrhard Behrends vermutet, dass sich die meisten Mathematiker tendenziell als Platonisten verstünden. Das Gefühl, etwas entdecken zu können, sei die treibende Kraft für mathematischen Fortschritt. „Doch wo die Entdeckungen herkommen und wo die Zahlen existieren – das ist eine Frage, die nicht mehr so einfach zu beantworten ist.“ Deswegen hätten Mathematiker philosophische Überzeugungen gerne für sich behalten.
Gesellschaftliche Vereinbarung oder Abbild der Wirklichkeit?
Im Wesentlichen geht es in der Mathematik nach wie vor um Abstraktionen, die einen praktikablen Weltzugang ermöglichen. „Wenn man es ganz genau nimmt, ist jede Zahl eine Idealisierung. Nehmen wir die Zahl 3. Wo ist diese 3 bitte schön?“ Schon allein die Frage nach der Herkunft der Zahl stellt sich als schwerwiegendes Problem heraus, wenn man diese Frage aus philosophischer Perspektive begreift. „3 ist sozusagen das, was meinen drei Fingern mit anderen drei Fingern und allen anderen Dreiheiten gemeinsam ist. Es handelt sich um eine Abstraktion. Mehr lässt sich darüber nicht sagen.“
Mit anderen Worten: Die Mathematik, die mit Exaktheiten operiert, ist eine Wissenschaft, deren philosophische Grundlage sich nicht genau bestimmen lässt. Verschiedene Glaubenshypothesen konkurrieren miteinander: Mathematik könnte eine gesellschaftliche Vereinbarung sein – oder ein Abbild der Wirklichkeit. Beide Hypothesen seien zulässig, sagt Behrends. Letztlich sei dieser Streit aber irrelevant, weil sich Mathematiker bei ihrer Arbeit um diese Fragen nicht scheren müssten. „Irgendwie hat Gott die Welt so eingerichtet, dass man viele Teile seiner Schöpfung mithilfe der Mathematik verstehen kann.“ Hier haben Philosophen und Mathematiker etwas gemeinsam: Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist Vertretern beider Disziplinen ein Rätsel. Ehrhard Behrends ist davon überzeugt, dass das auch so bleiben wird – aller Voraussicht und Wahrscheinlichkeit nach.