Die Zukunft der Religionen
Warum Christen, Juden und Moslems sich wieder an ihre gemeinsamen Wurzeln erinnern sollten
17.04.2012
In den Vereinigten Staaten wird in diesem Jahr ein neuer Präsident gewählt, während sich die arabische Welt in einer politischen und sozialen Umbruchsituation befindet. Bei beiden Ereignissen spielt auch die Frage eine Rolle, wie stark religiöse Dogmen und Ideologien den Dialog der Kulturen beeinflussen. Harald Wenzel, Soziologieprofessor am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, kommentiert den Einfluss der Evangelikalen auf die Wahl in Amerika – die Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke erklärt, welche Traditionen und theologischen Hintergründe Muslime, Christen und Juden teilen. Dabei zeigt sich: Eine friedliche Zukunft ist möglich.
Nach dem Ende des Kalten Krieges gingen führende Politikwissenschaftler davon aus, dass im 21. Jahrhundert ein neues postideologisches Zeitalter anbrechen würde, in dem religiöse Dogmen und kulturelle Konflikte keine Rolle mehr spielen. Der 11. September 2001 hat gezeigt, dass dies ein Irrglaube war. Nicht nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen arabischer und westlicher Welt, sondern auch auf regionaler Ebene wird der Dialog der Religionen das globale Kräfteverhältnis entscheidend beeinflussen. Besondere Impulse wird der Ausgang der diesjährigen Präsidentschaftswahl in den USA geben. Die Welt blickt mit Spannung auf die Entscheidung im November. Wird Obama die Wahl gewinnen oder setzt sich die republikanische Rechte durch – mit dem Ziel, erneut ein kämpferisches Zeitalter im Verhältnis zwischen westlichem Christentum und arabischem Islam zu verkünden?
Einfluss der Evangelikalen
Harald Wenzel ist Soziologe am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin und beobachtet die Entwicklung in den Vereinigten Staaten genau. Er stellt fest, dass insbesondere bei der amerikanischen Rechten, aber auch in Amerika insgesamt, eine Polarisierung zu beobachten sei, die liberale und religiöse Amerikaner immer weiter voneinander entferne. Wenzel beschäftigt sich mit dem Einfluss der Evangelikalen auf die republikanische Partei, bei der er einen wachsenden Fundamentalismus in der Gruppe der Protestanten beobachtet: „Evangelikale sind Gläubige, die sich mehrheitlich in einem Endzeitszenario wähnen und die Wiederkehr Christi erwarten“, sagt er. „Sie glauben, dass diese Endzeit durch das Eintreten von besonderen Ereignissen angekündigt wird: vom Auftauchen eines Antichristen, von Naturkatastrophen, von einer schleichenden Degeneration in der Bevölkerung. Diese Vorstellungen prägen die Weltsicht der Evangelikalen und beeinflussen ihre Wahl eines Präsidentschaftskandidaten.“
Glaube und Wahl
Etwa 35 Millionen Amerikaner gehören dem evangelikalen Wählerblock an – und genau diese Gruppe hat den zweiten Wahlsieg von George W. Bush ermöglicht. Für die Evangelikalen sind die Amerikaner das erwählte Volk und die USA das gelobte Land, das mit Gott einen besonderen Bund geschlossen hat – die Exodus-Geschichte ist die religiöse Grundlage des amerikanischen Exzeptionalismus. „Den meisten Europäern ist eine solche religiöse Fundierung der Politik fremd. Für viele Amerikaner hingegen gibt das religiöse Weltbild den Ausschlag für ihre Wahlentscheidungen.“ Dieses Jahr wird also viel davon abhängen, ob der republikanische Kandidat den Wählerblock der Evangelikalen für sich gewinnen kann – oder ob die meisten evangelikalen Wähler am Wahltag zu Hause bleiben, weil sie den republikanischen Kandidaten in religiösen Fragen für unglaubwürdig halten. Eben Letzteres sei ein sehr wahrscheinliches Szenario, denn schon jetzt sei zu beobachten, sagt Wenzel, dass die verschiedenen religionsspezifischen Unterschiede die Republikaner nachhaltig hemmen. Die vertrackte Suche nach einem geeigneten Kandidaten sei das beste Beispiel: „Newt Gingrich ist zu oft verheiratet gewesen, deswegen als Kandidat unbrauchbar. Der Katholik Rick Santorum ist zwar tief religiös, doch für die gemäßigten Rechten zu radikal. Insofern bleibt nur noch Mitt Romney übrig, der konturloseste aller Kandidaten, der wenig Angriffsfläche bietet und wahrscheinlich deshalb die Vorwahl unter den Republikanern gewinnen wird.“
Kandidaten und Konfessionen
Wenzel gibt jedoch zu bedenken, dass Mitt Romney, sollte er sich durchsetzen können, gegen Obama keine Chance haben werde. „Die beiden ähneln sich zu sehr. Das ist aber nur das kleinste Problem. Der wahre Grund für Mitt Romneys schlechte Aussichten ist seine Konfession: Romney ist Mormone – für die meisten Evangelikalen ein untragbarer Glaube.“ Diese Religion impliziere Annahmen, die kein Evangelikaler akzeptieren würde: Gott sei nur für diese eine Erde zuständig, Jesus Christus habe Amerika besucht, Bischöfe könnten in den Status von Göttern aufsteigen. Dazu komme die Polygamie, die zwar offiziell abgeschafft wurde, aber immer noch für ein schlechtes Image sorgt. „Außerdem glauben die Mormonen, dass man Tote taufen kann. Das ist für Evangelikale schwer zu akzeptieren. Die Mormonen kommen für sie gleich nach den Atheisten und Agnostikern. Ich bin mir sicher: Mitt Romney ist nicht der Kandidat, mit dem die republikanische Partei die Wahlen gewinnen kann.“
Und was ist mit Obama? Wie würde seine Wiederwahl den interreligiösen Austausch beeinflussen? Könnte eine neue Legislaturperiode ihm die erforderliche Kraft geben, um eine Veränderung im Dialog der Kulturen anzustoßen? Wenn Obama sich durchsetzen sollte, prognostiziert Wenzel, werde es zwar zu einem vergleichsweise entspannten Verhältnis zwischen den Weltreligionen und insbesondere zum Islam kommen, innenpolitisch könnte sich der Demokrat jedoch erneut mit einer polarisierten Rechten konfrontiert sehen, die, falls sie wieder die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewönne, alle Reformprozesse zu blockieren wüsste. „In solch einem Fall würde sich Amerika in zentralen Debatten – wie schon in der vergangenen Amtsperiode – selbst im Wege stehen. Das wäre fatal.“
Reform und Umbruch
In der Beziehung zwischen westlicher und arabischer Welt kommt als entscheidender Faktor auch die Iran-Frage hinzu. Ist eine grundlegende Verständigung möglich – oder wird es zu einem kriegerischen Konflikt kommen? „Ich halte einen amerikanischen Angriff für unwahrscheinlich“, sagt Wenzel. „Die Vereinigten Staaten würden einen Krieg nur dann riskieren, wenn Israel den Erstschlag verübte und der Iran anschließend unverhältnismäßig antwortete.“ Die großen Pulverfässer befänden sich ohnehin anderswo: in Pakistan und Afghanistan zum Beispiel, wo eine Radikalisierung der Bevölkerung zu beobachten sei, und in den arabischen Ländern, die im vergangenen Jahr einen komplizierten Reformweg eingeschlagen hätten und momentan einer ungewissen und riskanten Zukunft entgegensteuerten.
Muslime, Juden und Christen sprechen eine Sprache
Die Welt befindet sich im Umbruch: In Ägypten und Tunesien kam es zu blutigen Diktatorenstürzen; in Syrien tobt der brutale, noch unentschiedene Kampf der Assad-Regierung gegen Demonstranten und Bürger, während die politische Führung im Iran die Umwälzungen mit großer Sorge betrachtet. Auch in Israel fragt man sich, welche Auswirkungen der arabische Frühling auf das Verhältnis zwischen muslimischer und jüdischer Welt haben könnte. Doch gerade im arabischen Raum waren – und sind – die Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen von erstaunlicher Intensität. Das zeigen die Forschungen von Sabine Schmidtke. Die Professorin für Islamwissenschaft ist Leiterin der Research Unit Intellectual History of the Islamicate World an der Freien Universität Berlin, in der sie gemeinsam mit sieben anderen Experten der Islamwissenschaft, der Judaistik und des christlichen Orients mittelalterliche, spätmittelalterliche und vormoderne Theologie, Philosophie und Rechtsmethodologie in der islamischen Welt erforscht. Viele Grenzen, die man gemeinhin erwartet, sagt die Islamwissenschaftlerin, seien im ideengeschichtlichen Diskurs gar nicht existent. Mehr noch: Seit mehr als einem Jahrtausend finde ein intensiver Austausch statt, der von einer gemeinsamen Sprache getragen werde – und das nicht nur im metaphorischen Sinne: „Muslime, Christen und Juden teilen seit dem neunten Jahrhundert eine Alltags- und Kultursprache – das Arabische. So kommunizieren sie Ideen, Konzepte und Texte, die sich wechselseitig beeinflussen. Besonders in den rationalen Wissenschaften, also Theologie, Philosophie und Rechtsmethodologie, aber auch in den Naturwissenschaften, der Medizin und den schönen Künsten rezipieren Vertreter aller Religionen einen ähnlichen Kanon“, beschreibt Sabine Schmidtke die theologischen Verflechtungen. Diesen multidimensionalen Austausch will das 2011 gegründete Team der Research Unit rekonstruieren, indem es Quellenforschung betreibt und die unterschiedlichen Kulturen aus einer grenzüberschreitenden Perspektive betrachtet. So würden wechselseitige Analogien erkennbar, die für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft neue Wege aufzeigen könnten: „Religionsübergreifende Interaktion ist über Jahrhunderte hinweg ein historisches Faktum. Das sollte man nicht vergessen.“
Noch unbekannte Quellen und Manuskripte
Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus allen zu erforschenden Kulturkreisen stammen und somit nahezu paritätisch die drei abrahamitischen Weltreligionen repräsentieren, sind ständig unterwegs, um das kulturelle Interaktionsgeflecht anhand noch unbekannter Quellen und Manuskripte zu studieren; die Forschungsreisen führen in den Iran, nach Ägypten, in den Jemen, die Türkei, nach Russland und in die Vereinigten Staaten. Zurück in Dahlem werden die individuell festgehaltenen Ergebnisse gemeinsam diskutiert. Auf diese Weise ergibt sich eine multidimensionale Perspektive auf die Quellen, die Sabine Schmidtke zufolge ohnehin unerlässlich ist, um die kulturell eng verzahnten Schriftstücke einzuordnen und zu verstehen.
Eines der zentralen Projekte ist die Erforschung der „Mu’tazila“, einer theologischen Variante des Rationalismus, die sich im achten Jahrhundert zu einer der dominantesten Strömungen unter Muslimen entwickelt hat. „Die Mu’tazila sticht besonders durch die Vorstellung eines ethischen Werteobjektivismus hervor, mit dem die Anhänger das Postulat der Gerechtigkeit Gottes begründeten“, erklärt Sabine Schmidtke. „Hieraus leiteten die Muslime ferner die Vorstellung der Eigenverantwortlichkeit und Wahlfreiheit des Menschen für seine Handlungen ab.“ Das Erstaunliche sei, dass viele jüdische Theologen schon im neunten Jahrhundert Elemente dieser neuen Denkrichtung rezipierten. Im zehnten und elften Jahrhundert kam es dann zu einer vollständigen Übernahme durch führende jüdische Denker – etwa in Bagdad, Jerusalem und Kairo. „Diesen Prozess wollen wir erschließen“, sagt Sabine Schmidtke.
Dabei dürfe interreligiöser Austausch nicht mit einem modernen Toleranzverhalten verwechselt werden. Denn trotz der Analogien hätten sich die Vertreter der monotheistischen Religionen immer voneinander abzugrenzen versucht. Sie haben Streitschriften und Polemiken verfasst, um den Alleingültigkeitsanspruch der konkurrierenden Theologien zu unterwandern. Diese Schriften sind bislang weder vollständig gesichtet noch gänzlich ausgewertet worden, obwohl die Betrachtung der interreligiösen Dialektik aus Polemik und Reaktion einen aufschlussreichen Wissenstransfer offenbart. „Nehmen wir die jüdische Seite: Zahlreiche jüdische Gelehrte haben über Jahrhunderte hinweg Schriften verfasst, die sich gegen den muslimischen Anspruch auf Authentizität der Prophetie Muhammads und des Korans als Offenbarung Gottes richten.“
Austausch der drei Religionen
Sabine Schmidtke konnte diese These mit einem umfangreichen Textfragment belegen, auf das sie in der Bibliothek von Sankt Petersburg gestoßen ist. „Es handelt sich um eine jüdische Polemik aus dem 15. Jahrhundert, die sich gegen den einflussreichen Text ‚Das-zum-Schweigen-Bringen-der-Juden‘ richtet, verfasst von dem jüdischen Konvertiten Samaw’al al-Maghribi im zwölften Jahrhundert.“ Der zeitliche Abstand lässt darauf schließen, dass der muslimische Text eine langwährende interreligiöse und über die Grenzen hinweg wirkende Aufnahme erfuhr. Das dürfte auch die Forschung überraschen. Immerhin galt es lange als unanfechtbare Tatsache, dass es auf jüdischer Seite keine provokanten, gegen den muslimischen Glauben gerichteten Polemiken gab. Auch in diesem Fall war also der religionsübergreifende Austausch facettenreicher als bisher angenommen.
Diese Erkenntnis hat auch eine gesellschaftliche Dimension: Während politische Mauern immer höher gezogen werden, paradoxerweise nicht selten mit Verweis auf religiöse Dogmen, findet auf wissenschaftlicher Ebene ein fruchtbarer Austausch zwischen Juden, Christen und Muslimen statt. Dies versucht die Forschergruppe nicht nur auf internationalen Konferenzen vorzustellen, sondern auch in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Iran, Jemen, in Ägypten und Saudi-Arabien zu praktizieren. Die Hoffnung ist, dass der akademische Dialog ein gesamtgesellschaftliches Umdenken in die Wege leitet, der den Weg in eine friedliche Zukunft weist. Denn auch wenn es manche Ideologen und Hassprediger in Ost und West nicht wahrhaben wollen: Die kulturellen Wurzeln, auf die sich Juden, Christen und Muslime beziehen, sind enger miteinander verwoben, als man glaubt – so eng, dass die gegenseitige Ablehnung als ein auf Unkenntnis basierendes Missverständnis erscheint.