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Zahlen, Schönheit, Eleganz

Prof. Martin Aigner

Prof. Martin Aigner
Bildquelle: Illustration: Stefan Pigur

Prof. Dr. Martin Aigner <br/> Iliustration: Stefan Pigur

Prof. Dr. Martin Aigner Iliustration: Stefan Pigur

Prof. Dr. Martin Aigner ist Mathematiker, kennt die eigentliche Bedeutung der Primzahlen und findet, dass die Mathematik das Abbild der Schönheit der Natur ist.

WIR Wie begegnet ein durchschnittlicher Nicht- Mathematiker den Angehörigen Ihrer Zunft?

Martin Aigner Man begegnet ihnen mit einer Mischung aus Unverständnis und Ehrfurcht. Niemand kann sich vorstellen, was wir eigentlich tun. Allen falls sind wir die Leute, die das Mysterium beherrschen, 99 Formeln durcheinander zu würfeln und daraus eine hundertste zu machen.

WIR Es heißt ja sogar, Mathematiker könnten nicht rechnen …

Aigner Das ist ein Mythos. Aber Mathematik heißt ja nicht, blitzschnell im Kopf zwei vierstellige Zahlen miteinander zu multiplizieren. Wer kann das schon? Mathematik ist etwas anderes und gleichzeitig viel mehr: Mathematik heißt, ein Problem zu modellieren, sodann eine Vermutung über die Wahrheit aufzustellen und schließlich zu rechnen und zu beweisen. Und gute Mathematiker können auch gut rechnen. Als aber Andrew Wiles 1995 in einer überregionalen Zeitung als ‚Rechenkünstler‘ bezeichnet wurde, nachdem er nach 350 Jahren das berühmteste offene mathematische Problem, die Fermat’sche Vermutung, bewiesen hatte, so könnte dies der Wahrheit nicht ferner sein. Wir hatten es hier mit einer virtuosen Abfolge von logischen Schlüssen und Strukturaussagen zu tun, nicht mit einfachem Rechnen.

WIR Das klingt alles noch sehr esoterisch. Wenn etwas 350 Jahre Zeit hat, kann es nicht sehr diesseitig sein.

Aigner Das ist ein weiterer der gängigen Irrtümer über Mathematik, nämlich dass sie nicht nützlich sei. Doch sogar mancher der spielerischsten Gedanken erweist sich am Ende als nützlich. Und der Druck, den man an die Mathematik heranträgt, Anwendung um jeden Preis zu produzieren, ist ganz überflüssig. Tatsächlich geht ohne Mathematik gar nichts. Kein Licht geht an, kein Zug fährt. Mathematik ist die Grundlage aller Technik.

WIR Warum ist dann in der Mathematik so viel von Schönheit und Eleganz die Rede?

Aigner Weil die Mathematik zugleich das Abbild der Schönheit der Natur ist. Das macht sie zu einer Wissenschaft, die selbst der Schönheit verpflichtet ist. Das Wunderbare an ihr ist, dass sie das „ewige“ Gedankengebäude einhegt, die großartige Logik, die uns seit Aristoteles als die richtige erscheint. Und bei allem Disput, der gelegentlich über „reine Lehre“, Anwendungsorientierung und Anwendung  entflammen kann, sind sich doch Mathematiker jeder Orientierung über Schönheit und Eleganz von mathematischen Formeln, Sätzen und insbesondere Beweisen unbedingt einig.

WIR Da ist es kein Wunder, dass man sich bisweilen über den Einsatz von Computern, schieren Rechenknechten, streitet.

Aigner Als 1976 das berühmte und seit 100 Jahren offene Vier-Farben-Problem mit enormem Computereinsatz gelöst wurde, zog dies eine bis heute andauernde Kontroverse nach sich: Ist so ein Beweis akzeptabel? Ein computergestützter Beweis derartiger Länge ist für den, der nicht über ähnliche Rechnerkapazität verfügt, nicht nachzuprüfen. Er ist, überspitzt formuliert, mehr eine Glaubenssache als ein mathematisches Faktum. Heute sind solche Einwände auch aufgrund gestiegener Rechenleistung nicht mehr wirklich relevant. Eigentlich tut ja der Computer auch nichts anderes als die Mathematiker mit Bleistift und Papier: Er geht Schritt für Schritt voran, bis das Resultat vorliegt. Das ist aber auch der springende Punkt: Ein Computer-Beweis ist nicht transparent, er ist auch nicht von Leichtigkeit beseelt. Vor allem aber: Er lehrt uns nichts. Er zerhackt das Problem in endlich viele Einzelfälle und schließt dann einen Fall nach dem anderen aus. Das heißt: Er erschlägt den Satz, statt ihn zu erklären.

WIR Wie würde sich der Mathematiker dem Problem auf elegante Weise nähern?

Aigner Eher wie ein Künstler. Einen Satz zu beweisen, ist ein intellektuelles Erlebnis, das nur noch in der Kunst ein Gegenstück hat, wie das Erlebnis des Künstlers, dem der richtige Pinselstrich gelungen ist. Und wie die Kunst, so ist auch die Mathematik eine Art Abbild der Wirklichkeit. So, wie die Primzahlen ein Abbild unseres Gehirns sind.

WIR Primzahlen?

Aigner Ja! Wir sind doch immer bestrebt, die kleinsten Einheiten zu erfassen. Aus den Primzahlen entstehen alle anderen Zahlen und sie zeigen uns eine wunderbare Dichotomie. Im Primzahlsatz von Carl Friedrich Gauß erscheinen sie wie ein preußisches Regiment. Der Blick aus der Ferne schafft Ordnung. Doch aus der Nähe betrachtet, bieten uns die Primzahlen das reine Chaos. Und das Abbild der Unendlichkeit.

WIR Mathematiker sind …

Aigner … Menschen, die stets Grenzen überschreiten. Jeder neue Satz, und sei er noch so klein, ist so noch nie gedacht worden. Mathematiker betreten Neuland. Und das ist sehr schön.

Interview: Susanne Weiss