Schulden, Mythen, Theorien
Prof. Dr. Barbara Fritz ist Ökonomin am Lateinamerika-Institut und am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, weiß etwas über Ursünden und findet, dass ökonomische Diskussionen über Lateinamerika in Denkschablonen festsitzen.
WIR „Die Lateinamerikaner integrieren sich auf dreierlei Wegen in die globalisierte Weltwirtschaft: Als Kulturschaffende, als Emigranten und als Schuldner“, zitieren Sie einmal den Kulturwissenschaftler Néstor García Canclini. Meldungen über spektakuläre Schuldenkrisen auf dem Subkontinent rufen ja auch regelmäßig das ökonomische Feuilleton mit seinen Analysen auf den Plan.
Barbara Fritz Die Diskussion um die Schuldenkrisen der lateinamerikanischen Länder wird immer noch von zahlreichen Mythen bestimmt. „Sie können’s einfach nicht“, ist die eine Erklärung. Die „bad governance“-These schiebt alle Probleme auf Regierungsversagen und korrupte Eliten. Ein verwandter Mythos, den man häufig hört, ist der von der falschen Ausgabenpolitik: Das wenige Geld werde auch noch falsch verteilt. Niemand bezweifelt, dass es diese Sachverhalte gibt – wie überall auf der Welt – aber sie reichen bei weitem nicht, um die ökonomische Großwetterlage in Lateinamerika hinreichend zu erklären.
WIR Was fehlt diesen Erklärungen?
Barbara Fritz Ihnen fehlt unter anderem die historische Analyse dieser Situation, denn die Ursachen für die heutige Situation reichen weit in die Vergangenheit zurück – nämlich zu dem, was neue Ansätze der Wirtschaftswissenschaft „original sin“ nennen. Viele der Staaten Lateinamerikas wurden bereits mit Schulden in die Unabhängigkeit entlassen. Sie waren politisch zwar frei, blieben aber befangen in den kolonialen ökonomischen Strukturen und mussten sich zur Aufrechterhaltung ihrer Staatswesen und ihrer Ökonomien in fremder Währung verschulden. So etwas destabilisiert jedes Wirtschaftssystem. Denn wenn sich der Wechselkurs ändert, dann ändert sich der reale Wert der Verschuldung, gemessen in eigener Währung; wenn aber wegen einer Abwertung des Wechselkurses Schuldner massenhaft Probleme bekommen, dann setzt eine Flucht aus dem heimischen Geld ein und das drückt zusätzlich auf den Wechselkurs. Und es gibt ein weiteres Problem: Wenn eine Regierung versuchen will, dieses Aufschaukeln von Problemen zu verhindern, hat sie kaum eine andere Möglichkeit, als neues Kapital anzulocken – und damit die Verschuldungsspirale weiterzudrehen. Ein Teufelskreis. Das hat nichts mit Politik in der Form von „bad governance“ zu tun, das ist reine Ökonomie.
WIR Die Nachrichten über korrupte Eliten, die zudem keine Steuern zahlen, sind aber nicht alle falsch?
Barabra Fritz Auch in Lateinamerika gibt es korrupte Eliten, wie in allen anderen Ländern der Erde. Man muss aber wissen, dass diese Eliten ihre Staaten nie als Steuerstaat gesehen haben – ähnlich wie in den USA übrigens. Bis heute gibt es ein sehr viel niedrigeres Steuerniveau als in europäischen Ländern. Zudem haben sich die Eliten dezentral und regional gebildet, in Hafenregionen oder in der Nähe von Bodenschätzen. Das alles führte zu einer Schwäche des Zentralstaates, wie wir ihn kennen, weil der Staat auch deshalb zu viel stützen muss, weil die Eliten nicht bezahlen.
WIR Das klingt, als wolle man die Fakten einer unzureichenden Theorie anpassen.
Barbara Fritz Auch die Wissenschaft ist kulturgebunden. Amerikanische Ökonomen, die in der Regel die Debatte beherrschen, können sich zu einer Staatsquote, wie wir sie in Europa haben und die auch in einigen lateinamerikanischen Ländern Sinn machen würde, gar nicht hindenken. Für die ist eine Staatsquote von 40 Prozent genau 40 Prozent falsch ausgegebenes Geld – „bad governance“ eben. Diese „bad governance“-These kommt auch deshalb immer so schnell, damit man sich nicht gründlich mit den einzelnen Ländern und ihren politischen und sozialen Realitäten befassen muss. Der homo oeconomicus westlicher Tradition definiert eine Art anthropologischer Konstante, und so muss niemand zugeben, dass es an der Ökonomie selbst liegt – und nicht an der schlechten Politik. Ökonomische Modelle erfinden dafür auf schmalster empirischer Basis Theorien, die die Realität indessen nur selten streifen. Gelegentlich irritierende „Abweichungen“ hegt man mit „stylized facts“ und „anecdotical evidence“ ein.
WIR Mit solchen Tricks ließen sich aber die massiven Krisen, die – angefangen mit der mexikanischen „Tequila-Krise“ – in den 90er-Jahren nicht nur Lateinamerika erschütterten, nicht wegerklären.
Barbara Fritz Es hat sich an einigen Stellen tatsächlich etwas verändert. Die internationale Finanz- und auch die Wissenschafts-Community hatten auf diese Krisen nämlich mit erheblicher Verstörung reagiert, weil die Analyseraster weder zur Prognose noch zur Erklärung und auch nicht zur Lösung solcher Krisen ausreichten. Seitdem ist die reine Liberalisierung vom Tisch, und inzwischen gibt es einen neokeynesianischen Konsens, der „den Markt“ aus seiner Allzuständigkeit für die Geschicke der Menschheit entlässt. Politische Umsetzungen gibt es zwar nur sehr fragmentiert, aber es gibt einen glücklichen intellektuellen Fortschritt und lebhafte Diskussionen – vorangetrieben auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der wegen dieser häufigen Krisen von allen Seiten in die Schusslinie geraten war.
WIR Wo sehen Sie denn die größten Reformdefizite?
Barabara Fritz Was fehlt, ist ein geregeltes Insolvenzrecht für Staaten. Staaten müssen bankrott gehen können, genau wie ein Unternehmen. Aber als sich Anne Krueger, die Vizechefin des IWF, diesen Vorschlag zu eigen machte, wurde sie von von rechts wie von links attackiert. Die Linken sahen darin einen Eingriff in die staatliche Souveränität, die Rechten meinten, das sei reine Geldverschwendung. Doch wenn man ein verschuldetes Land einfach sich selbst überlässt, kann das sehr weit reichende internationale Auswirkungen haben. In Argentinien haben auch deutsche Anleger sehr viel Geld verloren, und im Grunde haben die Gläubiger ein Interesse an geregelten Verhältnissen, die von unabhängigen Insolvenzverwaltern geschaffen werden könnten. Die nächsten Finanzkrisen werden mit Sicherheit kommen, und da ist die Frage, überlege ich mir vorher etwas oder lasse ich es erst einmal schief gehen?
WIR Ein Tipp fürs ökonomische Feuilleton?
Barbara Fritz US-amerikanisch oder europäisch geprägte Lehrbücher tendieren dazu, das Problem der Verschuldung aus der Gläubigerperspektive zu betrachten. Das Thema wird darauf reduziert, wie man die Zahlungsfähigkeit dieser Länder aufrecht erhalten könne. Diese Verkürzung dient aber nicht nicht etwa der Vereinfachung der Analyse, sie stellt einfach bestimmte Interessen in den Vordergrund. Um das zu korrigieren, reichen allerdings weder die nackte Empirie noch Berge von Datensätzen über einzelne Länder. Man muss schon die komplexen wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und deren historische Gewordenheit wahrnehmen können. Außerdem ist es dringend erforderlich, im Sinne eines „Forschen mit“ statt eines „Forschen über“ auch die akademische und gesellschaftliche Debatte in den jeweiligen Ländern in die eigenen Überlegungen einzubeziehen – statt nur die Denkschablonen zu benutzen, die im Kontext entwickelter Ökonomien entstanden sind.
Interview: Susanne Weiss