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Cäsarenfreies Europa

Prof. Preuss

Prof. Preuss

Die Europäer werden lernen, dass sie die erste historische Formation in der Weltgeschichte sind, die sich friedlich und frei zusammengeschlossen hat. Prof. Dr. Ulrich Preuß erforscht die Rechtsgrundlagen in einem cäsarenfreien Europa

Jahrzehnte lang ist die „Europäische Union“ in Europa irgendwie mitgelaufen, ohne dass sie besondere Begeisterungsstürme ausgelöst hätte. Was ist denn eigentlich das Besondere an der EU?

Eine Grund legende Eigenschaft der EU ist ihr Charakter als Rechtsgemeinschaft. Ihr Zusammenhalt wurzelt nicht in vor- oder nicht-rechtlichen Quellen wie Religion, Kultur oder Geschichte, auch nicht in funktionalen Imperativen wie zum Beispiel Markterfordernissen, sondern in inhaltlichen Grundsätzen und den Verfahrensweisen des Rechts. Und der bindende Charakter der Rechts entwickelt genug Kraft, diese heterogene Mixtur aus Individuen, Firmen, Gruppen, Staaten und nicht-staatlichen politischen Akteuren im Rahmen der EU zu organisieren. Geschichtlich gab es ein solches Zusammenleben immer nur unter der Hoheit eines autoritären Zentrums – als Imperium. Und jetzt gelten dieselben Gesetze überall, es gibt dieselben Institutionen, dieselbe Währung, aufeinander abgestimmte Bildung und Hochschulen, ohne die Oberherrschaft eines Caesar.

Wie kann das funktionieren bei so unterschiedlichen politischen Traditionen in West- und Osteuropa?

Ich denke, es wird einen harten Kern geben, der vorangeht. Gravitationszentren gab es immer in Europa. Genau so gibt aber auch eine Tradition der Gleichheit unter den Staaten. Das schafft natürlich Spannungen. Wir haben in der westeuropäischen Union ziemlich lange gebraucht, um uns zusammenzuraufen. Wir sollten uns deshalb den osteuropäischen Ländern gegenüber nicht auf den Sockel stellen und sie auf ihre autoritäre Tradition hinweisen. Die haben wir doch selbst. Ich bin in den 50-er Jahren zur Schule gegangen, und diese 50-er Jahre waren autoritär. Vielleicht werden die osteuropäischen Länder ihre eigene Form eines 1968 erleben und alte autoritäre Strukturen im Zuge eines Generationswechsels abstreifen.

Und danach kann man sich an die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität machen?

Eine europäische Identität wird nicht entstehen, wenn man es bei den ständigen do-ut-des-Geschäften lässt. Sie wird entstehen aus der Erkenntnis der Singularität. Die Europäer werden lernen, dass sie die erste historische Formation in der Weltgeschichte sind, die sich friedlich und frei assoziiert. Hier wird zum ersten Mal versucht, die Vielfalt mit der Struktur der Gleichheit zu verbinden. Deshalb wird es auch kein zwangsweise homogenes Einheitsbewusstsein wie in den Nationalstaaten werden. Die Europäer werden stolz darauf sein – und sie können es jetzt schon sein – nicht einfach Macht gegen Macht zu setzen mit der Gefahr des Krieges, sondern dass sie in der Lage sind, sich trotz aller Unterschiede zusammenzutun. Eine gemeinsame Identität zu entwickeln, wird sicher 20 bis 30 Jahre dauern.

Europa braucht Forschung. Berlin ist als deutsche Hauptstadt und nach der EU-Osterweiterung eines der wichtigen Zentren der Europäischen Union. Wie kann man das für die Forschung nutzen?

Berliner sozial- und kulturwissenschaftliche Einrichtungen haben dank ihrer Lage und ihrer engen Verbindungen mit Ost- und Mitteleuropa besonders gute Voraussetzungen für die Erforschung der Ost-Erweiterung. Übrigens nicht nur für die EU als Ganzes, sondern auch für die einzelnen Beitrittsländer selbst. Die Vertretung der EU in Deutschland, die Europäische Akademie und andere Institutionen veranstalten eine Vielzahl von Konferenzen und Tagungen, und an den Berliner Universitäten wird ebenfalls Europawissenschaft betrieben.

Bislang sind das allerdings Aktivitäten Einzelner. Was wir aber brauchen, ist ein intellektuelles und institutionelles Zentrum interdisziplinärer Europaforschung. Es sollte als Informations- und Diskussionsforum und als Themeninitiator für neue Forschungsfragen innerhalb der Berliner europawissenschaftlichen ‚community‘ fungieren. Und es sollte vor allem auch ein nach außen sichtbarer Ansprechpartner für in- und ausländische Institutionen aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft sein.

Die Fragen stellte Susanne Weiss