Knappe Mehrheiten in Lateinamerika
2006 stand Lateinamerika im Zeichen des demokratischen Wandels. Die Wahlergebnisse werfen ein Licht auf die Teilung der Gesellschaften.
Noch vor wenigen Jahren, im Dezember 2001, bezweifelten viele Argentinier, wirklich eine Wahl bei den Wahlen zu haben. Und auf die tiefe Wirtschaftskrise und die sozialen Verwerfungen reagierten sie mit einer harten Absage an die Politik. In ihrer Verzweiflung schickten sie alle Politiker zum Teufel und warfen leere oder beschmutzte Wahlzettel in die Urnen.
Im Jahr 2006 ging die große Mehrheit der Wähler in den meisten Ländern des Subkontinents ohne große Zwischenfälle zur Wahl und bewirkte von Mexiko bis Chile einen demokratischen Wechsel der Präsidenten und Parlamente, der Bürgermeister und Gemeinderäte. Bei allen Unterschieden in den Ländern und hier und da noch unklarem Ausgang gibt es doch Übereinstimmungen.
Die meisten Wahlen sind durch hauchdünne Mehrheiten geprägt, mit Wahlanfechtungen (wie in Mexiko), Nachzählungen (wie Costa Rica), oder zweiten Wahlrunden (wie in Brasilien, Ekuador, Peru). Proteste wie in Mexikos Hauptstadt sind ein Ausdruck dafür, dass kritische Bürger die Wahlen beobachten, sie ernst nehmen, genaue Ergebnisse erfahren wollen und darauf drängen, dass sie in entsprechenden Verfahren überprüft werden. Wahlverlierer sind die Demoskopen.
Lopez Obradors knappe Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im Juli in Mexiko kam nicht nur für ihn unerwartet. Die Umfragen hatten den als Linkspopulisten bezeichneten Kandidaten der PRD (Partido de la Revolución Democrática) bereits als Gewinner gesehen. Doch das Oberste Wahlgericht erkannte trotz gewisser Unregelmäßigkeiten beim Wahlprozess den Vorsprung des konservativen Kandidaten der PAN (Partido Acción Nacional), Felipe Calderón, an. Mit einer Differenz von 133.831 Stimmen oder 0,56 Prozent hat er am 1. Dezember 2006 sein Amt angetreten, mit einer Unterstützung von lediglich 35,7% der Wähler.
In Brasilien konnte der amtierende Präsident José Ignacio Lula da Silva (PT, Partido dos Trabalhadores) erst in der zweiten Runde eine klare Mehrheit (60.83%) erringen. Im ersten Wahlgang verpasste er, entgegen aller Vorhersagen, die absolute Mehrheit knapp.
In vielen Ländern Lateinamerikas setzt sich eine Entwicklung fort, jenseits traditioneller Parteien nach politischen Alternativen zu suchen. Eine dieser Alternativen ist Juan Evo Morales Ayma, seit Januar 2006 bolivianischer Präsident. Der Anführer der sozialistischen bolivianischen Partei Movimiento al Socialismo (MAS) und der Bewegung für die Rechte der Coca-Bauern ist als erster Indígena Staatsoberhaupt, mit 54 % der Stimmen holte er den deutlichsten Wahlsieg seit Ende der letzten Militärregierung in Bolivien 1982.
In Venezuela verkörpert Hugo Chávez mit seinem linksgerichteten Movimiento Quinta República eine andere Art der Abkehr von den angestammten Parteien. Weder die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) noch das christdemokratische Comité de Organización Política Electoral Independiente (Copei), die vier Jahrzehnte lang die Politik Venezuelas bestimmt hatten, konnten den ehemaligen Admiral der Luftwaffe aufhalten. Die Wiederwahl von Chávez, der schon einmal am 4. Februar 1992 einen Putschversuch unternommen hatte und 1999 als demokratisch gewählter Volksvertreter die Regierungsgeschäfte übernahm, am 6. Dezember 2006 gilt als sicher.
Doch nicht nur in Venezuela, Kolumbien oder Mexiko, auch in der „Schweiz Lateinamerikas“, in Costa Rica, zeichnet sich ein Ende des alten Parteiensystems ab. Die christdemokratische Partei Unidad Social Cristiana (PUSC) brachte es bei den Parlamentswahlen gerade einmal noch auf 7,8 %. Sie unterstütze zwar den Sozialdemokraten und Friedensnobelpreisträger Oscar Arias von der Partei der Nationalen Befreiung (PLN). Das konnte aber an dem engen Kopf-an-Kopf-Rennen mit Ottón Solís von der Partido de Acción Ciudadana (PAC), einer neuen, aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen hervorgegangenen linken Partei, nichts ändern. Bei den Präsidentschaftswahlen am 5. Februar 2006 musste nach Auszählung von ca. 85% der Stimmen die maschinelle Auszählung gestoppt werden. Als nach zwei Wochen per Hand nachgezählt wurde, hatte Oscar Arias (40,5%) gegenüber Solís (40,3%) die Wahl nur äußerst knapp gewonnen.
Linksruck?
Viele Beobachter charakterisieren diese Prozesse, die seit 2001 zu beobachten sind, als Linkswende oder Linkspopulismus. Diese Etikettierung verwischt zwar mehr, als sie verdeutlichen kann. Doch gewisse Trends lassen sich durchaus erkennen: Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen zeigen zweigeteilte Gesellschaften. Arme, weniger gut ausgebildete Menschen aus unterentwickelten Regionen wählen linke Parteien, sie haben vielerorts zum ersten Mal nicht mehr in lokal verankerten, konservativen Klientelbeziehungen gewählt; Reiche und besser gebildete Mittelschichten ziehen die Konservativen vor. Im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas beispielsweise hatten die Bewohner bis vor wenigen Jahren kaum eine echte Wahl. Doch mit der Demokratisierung und der Durchsetzung freier Wahlen hat der ewige Wahlsieger PRI Konkurrenz bekommen,und in den armen Hochburgen im Süden des Landes besiegte Lopez Obrador von der PRD die PRI. Im wohlhabenderen Norden dagegen gewann sein Kontrahent von der PAN. In Brasilien siegte Lula in den armen Bundesstaaten des Nordens und Nordostens, nach Jahrzehnten endeten auch in der tiefsten Provinz die Vorherrschaft lokaler Clans und die Zeit der Obristen.
Kirche und Staat
Die Konservativen werfen ihren Kontrahenten politische Polarisierung vor. Doch es sind die sozialen Fragmentierungen der Gesellschaft, die ökonomischen Disparitäten und die Ausschließungen entlang ethnischer, sozialer und rassisch konnotierter Diskriminierung, die die vielfältigen Ungleichheiten nach Jahrzehnten neoliberaler Politik noch weiter verschärft haben, und die nun einen Großteil der armen Bevölkerung zu einer Abstimmung gegen diese Politik bewogen haben.
So standen in fast allen Ländern – eine Ausnahme bildet Chile – die Fragen von Freihandelsabkommen, wie „CAFTA“ in Costa Rica, oder die nach der Kontrolle der eigenen Ressourcen, wie in Bolivien, auf der Agenda der Wähler. Angesichts der seit Jahrzehnten wieder gestiegenen Erlöse aus Agrar- und Rohstoffexporten besteht dabei durchaus ein Spielraum, erneut über Alternativen zu neoliberaler Politik nachzudenken. Dabei mögen sich die Politik und die Stile zwischen einer Michelle Bachelet in Chile und einem Evo Morales in Bolivien unterscheiden; beide jedoch wissen, dass sie eine soziale Schuld abzutragen haben und dafür ihre Integration in den Weltmarkt nutzen müssen. Schließlich zeigt sich in den Wahlen eine tiefe historische Trennlinie, die den Subkontinent politisch das ganze 19. Jahrhundert über prägte: Die Stellung der Parteien zum Verhältnis von Kirche und Staat.
Die Agnostikerin und Sozialistin Verónica Michelle Bachelet Jeria, seit dem 11. März 2006 die erste Präsidentin von Chile ist, steht am deutlichsten in der Traditionslinie einer antiklerikalen, liberalen, linken Politik. In Mexiko und Brasilien hingegen kehren mit den Präsidentschaftskandidaten der Konservativen die engen Verflechtungen rechter klerikaler Gruppen der katholischen Kirche mit entsprechenden gesellschaftspolitischen Positionen wieder gestärkt in die politische Arena zurück.