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Da steh´ ich nun, ich armes Tor...

Die Begegnung von Fußball und Literatur

Fussball und Literatur

Fussball und Literatur

Dr. Oliver Lubrich ist wissenschaftlicher Assistent am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Dr. Oliver Lubrich ist wissenschaftlicher Assistent am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

Fußball ist das bedeutendste Phänomen unserer Kultur. Weder quantitativ, gemessen an der Zahl seiner Anhänger, noch qualitativ, in der Intensität der Leidenschaften, die sich mit ihm verbinden, hat er seinesgleichen. Wenn die Aufgabe der Literatur darin besteht, die Wirklichkeit künstlerisch zu Modellen zu formen, liegt es nahe, dass sie in ihm einen Gegenstand findet, der sie herausfordert.

Vor allem europäische und lateinamerikanische Schriftsteller haben sich mit dem Fußball auseinandergesetzt – in deutscher Sprache etwa Eckhard Henscheid, Walter Jens, Thomas Brussig oder Ror Wolf; im Spanischen zum Beispiel Eduardo Galeano , Manuel Vázquez Montalbán, Augusto Roa Bastos oder Miguel Delibes.

Die Arbeiten dieser Autoren sind nicht bloß "Fußball-Literatur", die sich in einer vordergründigen Beschreibung erschöpfen würde. Ebenso wenig ist der Fußball austauschbares Detail, verschiebbare Kulisse, folkloristisches Kolorit – oder intellektuelle Koketterie. Denn an ihm wird etwas deutlich, das ohne ihn nicht sichtbar werden würde: etwas, das über ihn hinausweist – in dem Sinne, wie Moby Dick nicht nur ein Buch über Walfang ist – aber auch keines, in dem dieser eine bloße Zutat wäre.

So schildert Friedrich Christian Delius in "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" (1994) den Tag des 4. Juli 1954, an dem er als Junge das Endspiel im Radio verfolgte. Mindestens ebenso sehr wie vom Fußball handelt die Erzählung vom Erwachsenwerden und von Nachkriegsdeutschland, von individueller und von kollektiver Identitätsbildung. Verunsichert von verdrängter Vergangenheit und verstört von bigotter Gegenwart, findet der elfjährige Pastorensohn im Spiel einen Raum, in dem er seine Fantasien entfalten, und ein Medium, durch das er sich über sich selbst klar werden kann. Der Fußball eröffnet ihm einen Ausweg aus der Ordnung der Provinz. Die legendäre Übertragung des Berner Endspiels anzuhören, wird zu einer religiösen Erfahrung anderer Art, zu einer subversiven Handlung, zu einem befreienden Erlebnis.

Auch Peter Handkes "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970) hat mit Fußball zugleich weniger und mehr zu tun, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Von einem Elfmeter ist in der berühmten Erzählung keine Rede. Und auf ihn könnte sich die Furcht eines Torhüters – unter ‚normalen‘ Bedingungen – auch kaum beziehen. Denn der Strafstoß ist die einzige Situation im Spiel, in der er keinen Fehler machen, in der er sich unmöglich blamieren kann. Die Angst des "Tormanns", die der Titel ankündigt, muss also einen anderen Auslöser haben, eine größere Tragweite besitzen, die immerhin indirekt durch den Fußball zu verstehen ist. Handkes Text ist das Protokoll einer bestimmten Form von Wahnsinn: des Verfolgungswahns. Der Protagonist misst allen möglichen Details, denen er in der Wirklichkeit begegnet, Bedeutungen bei, die er auf sich bezieht und auf die reagieren zu müssen er sich gezwungen sieht. Ohne äußeren Grund tötet er eine Frau, der er kurz zuvor erst begegnet ist, er hinterlässt Spuren am Tatort, die ihn verraten und die dazu führen werden, dass er auf der Flucht an der Grenze festgenommen wird.

Weshalb bedarf eine psychologische Studie, die auf der Handlung eines Kriminalfalls beruht, der Beziehung zum Fußball? Warum ist es wichtig, dass die Figur, wie wir im ersten Satz erfahren, "früher ein bekannter Tormann gewesen war"? Die Exzentrizität dieser Position im Fußballspiel bietet sich hervorragend für Handkes Thema an. Die Rolle des Torhüters besteht darin, den gesamten Spielverlauf als auf sich gerichtet verstehen zu müssen, nämlich alle gegnerischen Spielzüge als Angriffe zu lesen und ihren eigentlichen Zweck in der Absicht zu sehen, ihn zu überwinden und den Ball in seinem Tor unterzubringen. Dieses Motiv bildet den – unausgesprochenen – Ausgangspunkt der literarischen Darstellung einer Paranoia und der Symptome einer entsprechend verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Es ist nicht der Torwart, es ist der Schütze, der beim Elfmeter einiges zu verlieren hat. Wie nahe Glück und Unglück in dieser Situation beieinander liegen, beschreibt daher Julio Llamazares, indem er den Strafstoß als Metapher ausspielt, nicht aus der Sicht eines Torhüters, sondern eines Feldspielers. In der Erzählung "Viel Leidenschaft für nichts. Das Paradox von Djukic" ("Tanta pasión para nada. La paradoja de Djukic", 1995) schildert der spanische Schriftsteller, wie ein einziger Augenblick ein Leben zum Guten oder Schlechten wenden kann. Und er deutet dieses Thema ins Tragische, indem er es mit einer drohenden Vorahnung verbindet, die der scheiternde Held in den Wind geschlagen hat. Wie Julius Caesar und Marcus Brutus bei Shakespeare, so wird auch sein Protagonist am Morgen des wichtigen Spieltages durch seine Frau beschworen: auf keinen Fall einen Elfmeter zu schießen.

Der Strafstoß ist der Inbegriff des entscheidenden Augenblicks. Überhaupt erlaubt es der Fußball in besonderer Weise, das Thema des bedeutenden Moments zu gestalten. Javier Marías konzentriert sich auf den winzigen Zeitraum, in dem im Spiel eine Entscheidung fällt, in deren Folge entweder ein Tor zustande kommt oder aber der Ball abgefangen wird. Die Kurzgeschichte "Zu unentschiedener Zeit" ("En el tiempo indeciso", 1995) handelt von der Begegnung des Erzählers mit einem ausländischen Fußballstar in Spanien, der sich mit Mädchen in einer Diskothek vergnügt, während er die Briefe seiner Freundin aus der Heimat missachtet – bis diese ihn aufsucht und erschießt. Im Fernsehen ist zu verfolgen, wie er als Stürmer einen sicheren Torschuss bewusst verzögert, wie er den Torwart bereits ausgespielt hat und für einen Augenblick frei vor dem leeren Tor steht, bevor er den Ball herausfordernd langsam über die Linie schiebt. Diese Szene wird zur Allegorie der Entscheidung und zum Sinnbild seiner Hybris. Die Handlung des Spielers nimmt den Augenblick seines Todes vorweg – die Sekunde, in der seine Geliebte die Pistole auf ihn richtet, vielleicht eine Sekunde lang zögert und dann abdrückt.

Mario Benedetti lässt sich sogar formal von seinem Gegenstand anregen: Er wechselt zwischen der ersten und der dritten Person, zwischen der Perspektive der Spieler und dem Reportagestil der Beobachter. Benedettis Kurzgeschichte "Der Rasen" ("El césped", 1990) handelt – wie Handkes Erzählung – von einem Torwart. Aber Benedetti verbindet dieses Motiv mit einem ganz anderen Thema. Ihm geht es um Träume und Verzweiflung, um greifbar nahen Erfolg und plötzliches Versagen, um Freundschaft und Selbstmord. Welche Rolle spielt es, dass seine Figur ein uruguayischer Torhüter ist? Dass dieser die Aussicht hat, einen Vertrag bei einem europäischen Profi-Verein zu erhalten? Dass diese Chance in einem einzigen Spiel, in einer einzigen Aktion zunichte wird? Und dass der Spieler der gegnerischen Mannschaft, der den unseligen Ball ins Tor schießt, sein bester Freund ist? Der sprichwörtliche "Torwartfehler" (zumal der "Tunnel", der Schuss zwischen die Beine) steht für eine öffentliche Blamage, für ein folgenschweres Missgeschick, für einen Augenblick, der eine Karriere beenden, einen Ruf zerstören, ein Selbstwertgefühl ruinieren kann. Der "Rasen" des Spielfeldes, der ein Schauplatz des Triumphes hätte sein sollen, verwandelt sich in das Gras des Armenfriedhofs, unter dem der Unglückliche begraben wird. Es geht um Fußball. Und es geht um Leben und Tod.

Endspiel, Elfmeter, Torwartfehler – der Fußball stellt Motive bereit, in denen Schriftsteller ihre Geschichten zu Bildern verdichten. In ihnen nehmen "ewige" Themen der Literatur eine zeitgenössische Gestalt an: Kampf, Sieg und Niederlage; Passion, Freude und Verzweiflung; Aufstieg, Überhebung und Untergang. Die Popularität und scheinbare Leichtigkeit des Spiels sollten nicht dazu verführen, in der Begegnung von Fußball und Literatur eines von beiden zu unterschätzen.