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Verletzlichkeit

Der Klimawandel trifft jeden anders - die Mathematik hilft bei der Analyse

Das Klima ändert sich. Und das hat Folgen, Foto: photocase

Das Klima ändert sich. Und das hat Folgen, Foto: photocase

Flut

Flut

Das Klima ändert sich. Und das hat Folgen. So weit, so klar. Seit einigen Jahrzehnten wird dazu geforscht. Dabei hat sich herausgestellt, dass verschiedene Regionen und gesellschaftliche Systeme den Effekten des Klimawandels   ausgesetzt sind – ihre „Vulnerabilität“ ist nicht dieselbe.

Während zum Beispiel die Niederlande und andere Nordseeanrainer mit hoch entwickelten technischen und institutionellen Systemen auf eine Erhöhung des Meeresspiegels reagieren können, haben Länder wie Bangladesh oder kleine pazifische Inselstaaten keine Ressourcen, sich vor diesen Bedrohungen von Land und Leben zu schützen. Ebenso klar?
„Der Begriff der Vulnerabilität scheint hier eindeutig zu sein“, stellt Prof. Rupert Klein, Mathematiker und Klimaforscher fest. „Tatsächlich hat sich in der internationalen Diskussion und auch innerhalb der wissenschaftlichen Debatte herausgestellt, dass der Interpretationsspielraum beträchtlich ist.“
So konnten manche Definitionen des Begriffs vielleicht Politiker und Medien in Alarmbereitschaft versetzen. Für diejenigen aber, die daraus vor Ort anwendbare Erkenntnisse und praktischen Nutzen ziehen wollten, waren sie oft wenig hilfreich. Und hier kommt die Mathematik ins Spiel.

Was also heisst Verletzlichkeit genau?

Klein erläutert das an einem ebenso klimafernen wie einleuchtenden Beispiel: Ein Motorradfahrer ist auf einer kurvigen Strecke im Gebirge unterwegs, auf der einen Seite eine steile Wand, auf der anderen Seite ein Abgrund. Er ist allein. Hinter der nächsten Linkskurve gibt es einen Ölfleck auf der Straße; der Motoradfahrer weiß nichts davon.
Seine Verletzlichkeit gegenüber der Öllache ist sehr hoch. Ein anderer Motoradfahrer, der langsamer und vorsichtiger fährt, ist dagegen weniger verletzlich gegenüber dem Ölfleck. Bei erweitertem Zeithorizont wird das Problem komplexer: Ein weiterer Motorradfahrer hat von dem Ölfleck gehört und sich durch den Kauf neuer Reifen und Verbesserung seiner Fahrkünste auf die Situation vorbereitet. Kann man seine Ausgangsbedingung mit derjenigen der ersten beiden vergleichen, die mit einer plötzlichen Gefahr konfrontiert waren? Und was gilt für einen vierten Motorradfahrer, der zwar Bescheid weiß, aber kein Geld für neue Reifen hat?

Genau so trifft der Klimawandel verschiedene Regionen und Gruppen von Menschen in unterscheidlicher Weise. In manchen Gegenden wird es wärmer als in anderen, der Meeresspiegel steigt nicht überall gleich an, in einigen Regionen wird es starke Regenfälle geben, in anderen verlängerte Trockenperioden, in wieder anderen beides. Nun mag in manchen Gegenden mehr Regen niemandem schaden, in anderen wieder kann er verheerende Überschwemmungen verursachen. Mehr Hitzestress mag jüngeren Menschen nicht viel ausmachen, für Ältere hingegen kann er fatale Auswirkungen haben. In Florida kann ein Sturm Schä den in Millionenhöhe anrichten, in Bangladesh tötet er Zehntausende. In reichen Ländern können sich die Bauern Bewässerungstechnologie zulegen, wenn sie wissen, dass es länger trocken wird, andere können sich das nicht leisten, wieder anderen fehlen die Kenntnisse, um überhaupt eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Verletzlichkeit ist eine relative Grösse

Die Mathematik kommt ins Spiel als Übersetzerin. „Wir können die Sachverhalte mathematisch abbilden“, erklärt Klein, „So haben wir die Möglichkeit, Klarheit in die Diskussionen zu bringen und die Basis für integrierte Computermodelle bereitzustellen, die eine Zusammenarbeit zwischen den hier beteiligten Klima- und Sozialwissenschaften unterstützen.“ Klein hat zusammen mit einer Gruppe internationaler Kollegen einen formalen Rahmen entwickelt, innerhalb dessen eine Klärung des Begriffs Vulnerabilität gefunden werden kann.
Dieses Vorgehen macht es möglich, die Probleme systematisch zu betrachten und Missverständnisse zu vermeiden; mathematische Konzepte sind auf alle Systeme anwendbar. Diese Übersetzungsarbeit der Mathematik fördert nicht nur die Verständigung der wissenschaftlichen Disziplinen untereinander, sondern auch die Kommunikation zwischen Wissenschaft und möglichen Anwendern. Und sie vermeidet die Mehrdeutigkeiten der natürlichen Sprache, besonders dann, wenn die gewählte Sprache der Kommunikation nicht die Muttersprache aller Beteiligten ist.

Susnne Weiss


Das steckt dahinter

Der Vorschlag, den Klein und seine Kollegen erarbeitet haben, baut auf dem mathematischen Konstrukt eines dynamischen Systems auf. Dynamische Systeme sind gekennzeichnet durch einen Satz von Variablen, die den Systemzustand charakterisieren sowie durch ein Gesetz bzw. eine Formel, die ihre zeitliche Entwicklung in Abhängigkeit vom momentanen Systemzustand, von eventuellen zusätzlichen äußeren Einflüssen und von der Wahl möglicher interner Steuergrößen   festlegt. Grob gesprochen wird nun einem solchen System „Verletzlichkeit gegenüber einem bestimmten äußeren Einfluss“ attestiert, wenn sich sein Zustand unter diesem Einfluss und unter Berücksichtigung aller dem System zur Verfügung stehenden Steuerungsalternativen „verschlechtern“ wird. Der Begriff des „Verschlechterns“ des Zustandes wird dabei mathematisch durch eine Präferenzrelation festgelegt, die auf dem Raum der einem Beobachterzugänglichen Beobachtungsgrößen des Systemzustandes definiert ist.
Kurz, zur Definition der Vulnerabili tätbraucht es ein dynamisches System, inklusive der äußeren Einflüsse und der Auswahlmenge für die internen Steuergrößen, eine „Beobachtungsfunktion“ die aus dem Systemzustand die beobachtbaren Größen herauskristallisiert (misst) sowie eine Präferenzrelation auf der Bildmenge dieser Funktion.