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Von Seepferdchen, Elemeten und chemischen Synthesen

Die Sitten der Pharmazie und ihre Heilmittel

Bilder aus: Theodor Friedrich Ludwig Nees van Esenbeck, Plantae medicinales oder Sammlung offizineller Pflanzen (Düsseldorf, 1828)

Bilder aus: Theodor Friedrich Ludwig Nees van Esenbeck, Plantae medicinales oder Sammlung offizineller Pflanzen (Düsseldorf, 1828)

Plantae medicinales

Plantae medicinales

Mit der Heilung von Krankheiten befasst sich die Menschheit seit Anbeginn. Kaum etwas blieb vom Willen der Menschen, zu Medizin gemacht zu werden, verschont – wirksam oder unwirksamen ist alles auf seine ganz eigene Art.

Mit der Heilung von Krankheiten befasst sich die Menschheit seit Anbeginn. Einige Methoden sind über die mündliche Tradition auf uns gekommen, die Schriftkulturen hingegen haben uns eine Unzahl von Rezepten überliefert. Kaum etwas blieb vom Willen der Menschen, zu Medizin gemacht zu werden, verschont – seien es wie im magischen Denken Teile von Seepferdchen oder Nashörnern, Gebete oder Beschwörungen. Wirksam oder unwirksamen sind sie alle auf ihre ganz eigene Art – anders allerdings als beispielweise Seepferdchen die rationalen physikalischen Therapien wie Waschungen, Massagen oder Akupunktur. Viele Therapien hatten aber auch unbeabsichtigte Wirkungen, manche sogar unheilvolle wie der bis ins 19. Jahrhundert praktizierte Aderlass.

Ein „pharmakon“ ist ein „stark wirkendes Mittel“ – sei es Arznei oder Gift. Verstanden wird es als ein vom Nahrungsmittel Unterschiedenes. Das lateinische „medicamentum“ leitet sich her von „medium“, auch dies meint das Vermitteln von Kräften – hier bei der Genesung von Krankheit. Dass die Dosis den Unterschied zwischen Arznei und Gift mache, war in der Antike schon bekannt. Zugeschrieben wird diese Erkennntnis häufig aber erst dem Mediziner, Pharmazeuten und Alchemisten Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, dessen Heilerfolge im 16. Jahrhundert legendär wurden.

Schon in der Antike gab es so etwas wie einen Schulenstreit unter den Ärzten. Die einen hingen der Knidischen, die anderen der Koischen Schule an. Während die Koer von Allgemeinerkrankungen mit individuellen Abwandlungen ausgingen, sahen die Knidier eher eine lokalisierbare Einzelerkrankung am Werk. Beide Schulen sind im Corpus Hippocraticum zusammengefasst, benannt nach Hippokrates, dem berühmtesten Arzt des Alterums. Er wiederum stammte aus Kos. Mit neuen Konzepten wollte man den „magischen“ Praktiken bei der Behandlung von Krankheiten einen wissenschaftlichen Ansatz entgegenhalten. Seit dem Wirken der hippokratischen Schule gilt die Reihenfolge von Diätetik (gesunde Lebens weise), Pharmazie (Arzneistoffeinsatz) und schließlich Chirurgie als therapeutischer Ansatz. Das meiste Schrifttum galt seit jeher der Pharmazie, die über Jahrhunderte indessen das war, was heute gelegentlich noch abfällig „Alternativmedizin“ genannt wird. Diese Naturheilkunde war zumeist Phytotherapie, also Pflanzenheilkunde. Das Tierreich blieb dem eher magischen Bereich verhaftet.

Alchemisten wie Paracelsus führten das Mineralreich in die Therapie ein, und Mineralien und deren Verbindungen wie Quecksilber, Antimon oder Arsen erfuhren in kurzer Zeit eine starke Aufwertung. Ihre zum Teil gefährlichen Nebenwirkungen kannte man noch nicht. Doch die Heilpflanzen behielten als „Apotheke Gottes“ den größten Anteil an der Therapie – besonders in der so genannten Volksmedizin, denn sie waren leicht erreichbar.

Seit dem Erscheinen der „Materia medica“ des Dioskurides, griechischer Arzt in römischen Diensten (1. Jh.), sind zahlreiche Einzelpflanzen (simplicia) mit ihrer Indikation beschrieben und über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit zu einem pharmazeutischen Kanon zusammengefasst worden. 100 Jahre nach Dioskurides beschrieb Galenos, eben falls in römischen Diensten, vor allem die Zubereitungen (composita) der Pflanzen, zum Beispiel in Tee, als Pflaster oder Salben. Noch bis vor kurzem bezeichnete man die pharmazeutische Technologie – die Lehre von der Herstellung der Arzneimittel – als Galenik.

Im 12. Jahrhundert nimmt sich unter anderen die Äbtissin und Gelehrte Hildegard von Bingen dieses Wissens an und verarbeitet es in „Causae et Curae“ (Ursachen und Heilungen), einem Buch über die Entstehung und Behandlung von Krankheiten, und bis heute werden in Klostergärten zahlreiche Heilpflanzen sachkundig kultiviert. Mit der Erfindung der Buchdruckerkunst erscheinen im 16. Jahrhundert berühmte Kräuterbücher, die nach der Bibel die zweithöchste Auflage unter den Druckwerken erreichten. Ein Grund war, dass diese Bücher, die ganz wesentlich auf Dioskurides aufbauen, nicht in Latein, sondern in den Landes sprachen verfasst waren. Dadurch gaben sie den Laien die Möglichkeit der Selbstmedikation, denn Arzt und Apotheke waren oft weit entfernt und sehr teuer. Berühmt wurde das New Kreüterbuch von Leonart Fuchs, 1543 erschienen, „in welchem nit allein die ganz histori / das ist / namen / gestalt / statt und zeit der wachsung / natur / krafft und würckung (...) contrafayt ist / das dergleichen vormals nie gesehen / noch an den tag komen.

Elemente und Qualitäten

Die Wahl der Behandlung wandelt sich mit dem Kranheitskonzept. Einen Dämon wird man exorzieren wollen. Sah man die Ursache von Krankheit in einem Ungleichgewicht guter und schädlicher Körpersäfte, so galt es, die schädlichen Säfte auszutreiben. Die Reinigung – Katharsis – wurde mit Stoffen, die Erbrechen herbeiführten, Abführ mitteln (Laxantia und dem Klistier), oder entwässernden Substanzen, den Diuretika, durchgeführt – oder mit Aderlass und Schröpfen. In der griechischen Antike stand bei der Viersäftelehre oder Humoraltherapie (humus, humoris – Humor = voll im Saft), die Harmonisierung der Körpersäfte im Vordergrund. Die vier Säfte wurden analog zu den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde gedacht. Auch die Krankheiten teilte man gemäß diesem Prinzip in heiße (Fieber), wässrige (Aus fluss), Schleim bzw. erdige (Verstopfung etc.) und luftige (Atemwege) ein. Entsprechend wurden die Arzneimittel in Qualitäten eingeteilt, die konträr wirkten: So gab man Opium als kühlend und beruhigend bei Fieber, Lungenkraut als Schleimdroge bei Bronchitis.
Jeder der Säfte wird in einem eigenen Organ gebildet. Diese Säfte waren die Chole (Galle), Melanchole (schwarze Galle), Sanguis (Blut) und Phlegma (Schleim). Galenos schließlich ordnete den vier Körpersäften je ein Temperament zu: Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker und Phlegmatiker.
Diese Theorie war in der Therapie neben neueren anatomischen und physiologischen Ansätzen bis ins 19. Jahrhundert hinein Schulmedizin. Dann trat als Krankheitskonzept die Zellularpathologie Rudolf Virchows auf den Plan. Krankheiten wurden fortan auf Störungen der Körperzellen bzw. ihrer Funktionen zurückgeführt. Zusammen mit der Mikrobiologie bildet die Zellularpathologie das Fundament der heutigen Schulmedizin. Von Ver tretern einer ganzheitlich ausgerichteten Natur heilkunde wurde das Virchow'sche Zellular paradig ma wiederum als zu reduziert kritisiert.

Chemische Synthese und giftige Frösche

Gewiss hat mit der Analyse, Isolierung und Syn these von Stoffen die Pharmazeutische Chemie seit dieser Zeit neue unentbehrliche Heilmittel entwickelt – und tut dies weiterhin mit großem Erfolg. Die Isolierung der Inhaltsstoffe von Heil- und Giftpflanzen hat zur Alkaloidforschung im 19. Jahrhundert geführt, man denke an Morphin oder Chinin. Ein gewisser Übermut der Chemie führte indessen dazu, dass die Pharmakognosie – heute: Pharmazeutische Biologie mit erheblich ausgeweiteten Forschungsaufgaben – an den Rand gedrängt wurde. Mit „dem einen“ Stoff wollte man das Problem gezielt lösen.
Inzwischen sind viele Medikamente an ihre Grenzen gestoßen. Gravierende Nebenwirkungen sorgen immer wieder für Schlagzeilen, und gefährliche parasitäre und Infektionskrankheiten breiten sich weiter aus, weil die Erreger gegen die meisten Antibiotika resistent geworden sind.
Alternativen gewinnt man inzwischen wieder vermehrt aus Heilpflanzen. Artemisia annua, ein chinesisches Beifußgewächs, und andere Pflanzen traditioneller Heilsysteme beispielsweise spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Malaria. Taxol, aus der amerikanischen Eibe gewonnen, oder auch Vinblastin und Vincristin, Alkaloide aus dem Madagaskar-Immergrün, werden in der Krebstherapie eingesetzt, und die nicht nur wohltuenden, sondern sogar gesundheitsfördernden Wirkungen des grünen Tees haben sich weithin herumgesprochen (siehe auch "Unvergesslich gesund"). Moderne Arzneimittel sind heute zu etwa einem Drittel pflanzlicher Herkunft oder nach dem Vorbild pflanzlicher Inhaltsstoffe hergestellt. Auch das Penicillin, die einstige Wunderwaffe gegen bakterielle Infektionen, ist biogenen Ursprungs.
Der britische Bakteriologe Alexander Fleming entdeckte den Schimmelpilz 1928. Heute muss Penicillin vermehrt durch andere Antibiotika ersetzt werden, gegen die die Krankheitserreger noch keine Resistenzen gebildet haben. Neue Substanzen gewinnt man aus Meeresorganismen, die einen ebenso reichen Schatz bieten wie die auch zunehmend ins Blickfeld geratenden tropischen Pflanzen und Tiere, beispielsweise „giftige“ Frösche, was wiederum in Sinne des „pharmakon“ Pharmazie und Toxikologie enger verbindet – die Dosis macht das Gift. Um diese Schätze zur Gewinnung von rationalen Arzneimitteln nutzbar zu machen, ist eine mit allen Mitteln der modernen Wissenschaft – Analyse, Isolierung, Synthese, Derivatforschung, Standardisierung und klinische Prüfung – durchgeführte Erforschung Vorbedingung. Dazu arbeiten in der Pharmazie Chemie, Biochemie, Biologie und Medizin zusammen, um neue Wirkstoffe und innovative Arzneiformen zu entwickeln, und um ein Monitoring etablierter Wirkstoffe durchführen zu können. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah man die Pharmazie als Teilgebiet der Chemie an, obgleich sie in ihrer Entwicklung von der „Apothekerkunst“ über die Apothekerlaboratorien der Experimentalchemie durchaus gleichwertig war. Schon im 19. Jahrhundert hat die Pharmazie zunehmend an akademischem Status gewonnen, und ein zwar späterer, aber überragender Ort für die Pharmazie in Forschung und Ausbildung ist das 1902 in Berlin-Dahlem gegründete Pharmazeutische Institut mit Hermann Thoms als Direktor. Es war – da es in West-Berlin lag – das erste Institut der 1948 gegründeten Freien Universität. Heute ist es ein Schwergewicht in der Forschung und die größte pharmazeutische Ausbildungsstätte in Deutschland.

Von Guido Jüttner