Grenzverkehr
Wie sich die Berliner in der Stadt bewegen
Die Mauer hindert nicht mehr am Seitenwechsel. Nach wie vor unüberwindlich sind die sozialen Grenzen.
Bildquelle: Gottschalk
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Anfangs, als die Mauer aufging, gab es kein Halten mehr. Alle Berliner gingen überall hin. Keine Entfernung war zu groß in der riesigen Stadt, soziale Schranken spielten keine Rolle. Mit der Zeit verebbte der innerstädtische Reiseverkehr. Man wechselte die Seiten häufig nur noch, um sich mitunter seine jeweiligen Vorurteile bestätigen zu lassen.
Und so kennen die Stadthälften einander kaum. Eine Frage der Zeit? Nutzen junge Leute, die schon in der wieder ungeteilten Stadt geboren sind, die ganze Stadt? Sie tun es nicht oder nur eingeschränkt, wie eine Arbeitsgruppe im Arbeitsbereich Stadtforschung im Fachbereich Geowissenschaften herausfand.
GPS dient normalerweise der Navigation von Fahrzeugen, um der Verirrung vorzubeugen. Es kann aber auch dem Erkenntnisgewinn dienen, zumal in der Kombination mit Palms, die als elektronische Tagebücher dienen können. „Richtig kombiniert, funktioniert das Ganze wie die elektronische Fußfessel für Verbrecher“, lacht Prof. Gerhard Braun vom Institut für Anthropogeografie. Es waren allerdings Schülerinnen und Schüler von Berliner Schulen, die er und seine Mitarbeiter nicht aus den Augen verlieren wollten. Dabei ging es aber nicht um die Beobachtung schwer erziehbarer Rowdies in Problembezirken.
Die Schüler ließen sich vielmehr höchst freiwillig an die elektronische Kette legen und auf Schritt und Tritt von den Geowissenschaftlern verfolgen. Die neue Methode, die zusammen mit dem Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt entwickelt wurde, erleichterte die Arbeit enorm. Denn früher mussten die Probanden bei solchen Untersuchungen ganz konventionell Tagebuch führen.
Das Ziel der Forscher war herauszufinden, wie die Schülerinnen und Schüler sich in der Stadt bewegen und wie groß ihre Aktionsräume dabei sind. „Man darf annehmen, dass junge Leute, die im schon wiedervereinigten Berlin geboren wurden, die Stadt anders nutzen als ihre Eltern oder Großeltern“, nennt Braun eine Arbeitshypothese. Sie haben keine direkte Mauererfahrung, aber sie sind eingebettet in ihre jeweiligen Milieus, in die Umgebungen, in denen sie sozialisiert wurden – ein wichtiger Umstand, wie sich herausstellen sollte.
Ein Big-Brother-Syndrom gab es bei den jungen Leuten nicht. Ganz im Gegenteil. „Die Schüler waren vor allem neugierig und der Sache gegenüber positiv eingestellt“, freut sich Braun. Was für die Wissenschaftler eine weitere angenehme Folge hat – eine hohe Verwertbarkeitsrate der erzeugten Daten.
Eine Woche lang trugen die Probanden die beiden Geräte mit sich, den ganzen Tag lang.
Integration ist mehr als ein "Grenzübertritt"
Wie weit war es also gediehen mit der Integration 18 Jahre nach dem Mauerfall? Eine Begriffsklärung wird nötig: Was heißt eigentlich Integration? „Es reicht nicht, gelegentlich über die ‚Grenze’ zu gehen oder einmal für eine Zeitlang die ‚Seiten zu wechseln’ sagt Braun. „Integration gelingt dann besonders gut, wenn die Aktionsräume einzelner sich mit möglichst vielen Aktionsräumen anderer Personen überschneiden“, erklärt der Humangeograf. Wie zum Beispiel bei bestimmten spezialisierten Schulen im Sample der Forscher, die Schüler aus allen Teilen der Stadt haben. Bei den „lokalen“ Schulen hingegen überschneidet sich nicht viel. Im Wesentlichen bleibt man in der Nähe seines Kirchturms, in die andere Stadthälfte geht man schon kaum. Der Aktionsraum der Schüler eines Gymnasiums im Schnittpunkt von Steglitz/Schöneberg und Tempelhof bespielsweise, das eine typische Mittelklassegegend versorgt, erstreckt sich über den ganzen Südosten des Westteils der Stadt. In den „Osten“ geht man nicht: Zum einen fehlt eine unkomplizierte Verkehrsverbindung in die östlich gelegenen Nachbarbezirke und zum anderen ist die innerstädtische „Grenze“ hier auch eine Sozialgrenze; das historische Stadtzentrum nutzen die Mittelklassekinder so gut wie gar nicht. Anders die Adepten eines spezialisierten Gymnasiums, das im Wesentlichen die upper class von Reinickendorf bedient. Die Schüler bewegen sich in einem viel weiteren Radius innerhalb der Stadt und nutzen gleichermaßen das westliche (Charlottenburg) wie das östliche (Mitte, Prenzlauer Berg) Zentrum Berlins. In den unmittelbar benachbarten Bezirk Pankow gehen sie indessen nicht. Der Einzugsbereich der Schule ist zwar klein, aber der Aktionsraum der Schüler ist weit aufgespannt. Schaut man in den Osten, so unterscheiden sich die Bilder. Der Bewegungsradius der Schüler aus sozial einfacheren Bezirken wie Lichtenberg, Hohenschönhausen oder Friedrichshain ist eher klein. Sie bleiben in unmittelbarer Nähe von Zuhause und Schule, und nur gelegentlich besuchen sie das westliche Zentrum. Eine Schule für die gehobene Mittelklasse im Süden Treptows zeigt wieder ganz andere Ergebnisse. Deren Schüler bewegen sich in ihren Aktionsräumen bis weit in den Norden und den Westen der Stadt
Einen großen Bewegungsradius in der ganzen Stadt haben auch die Schülerinnen und Schüler spezialisierter Schulen wie Fachoberschulen oder Schulen mit besonderen Sprachprogrammen für Schüler mit Migrationshintergrund. Diese Schulen rekrutieren junge Leute aus beiden Stadthälften, entsprechend groß sind hier auch die Überschneidungen der Aktionsräume – und das Integrationspotenzial. Schüler lokaler Schulen bleiben hingegen eher in der eigenen Stadthälfte. „Grenzen gibt es in allen der Städten der Welt“, sagt Braun. Der Doppelkern Berlins – das zeigen die Ergebnisse – wird weitgehend akzeptiert. Da nun 18 Jahre nach dem Mauerfall niemand mehr daran gehindert wird, sich frei in der ganzen Stadt zu bewegen, bleibt die Frage: Warum geschieht es nicht? Braun: „Grenzen in Städten sind vor allem soziale und Alltags-Grenzen“. Ein ausschließliches Ost-West- Problem ist es nicht mehr – es ist heute eher eine Frage der Verteilung der Infrastruktur und Gelegenheiten, nachdem die Neugier am jeweils anderen Teil der Stadt verflogen ist. Einen Ost-West-Unterschied haben die Forscher gefunden: „Wenn Schüler die ehemalige Grenze überschreiten, tun westliche Schüler das jeweils nur für einen Anlass“, erklärt Braun. „Östliche Schüler hingegen verbinden mehrere Besuchsanlässe miteinander. Ihre Kenntnis über den jeweils anderen Teil der Stadt ist deutlich größer.“
LK