Zukunft ansteuern
Informatikerin Gretta Hohl trainiert einen "FUmanoid"
Bildquelle: Sabrina Wendling
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Bildquelle: Sabrina Wendling
Er wohnt in seinem Labor, umsorgt und beschützt von kleinen Helfern. Sie wischen den Boden, mähen den Rasen, bewachen das Grundstück. Und wenn er unterwegs ist, halten sie stets Kontakt, unterrichten ihn über Temperatur, Stromverbrauch, Anrufe. Sie sind immer da, sichtbar und unsichtbar, kleine Roboter und intelligente Programme. Raúl Rojas hat sich entschieden mit ihnen zu leben.
Ein Experiment hat Rojas, 54, Professor für Künstliche Intelligenz an der Freien Universität, aus seinem Leben gemacht, einen Echtzeitversuch; jedenfalls wenn er zuhause ist. Er hat ein „intelligentes Haus“ entwickelt, wie er es nennt. Zusammen mit seiner Frau testet er jetzt den Prototypen „IQ150“ in Kleinmachnow südlich von Dahlem, vor wenigen Monaten sind sie eingezogen.
Es ist eine Wohngemeinschaft, in der das Wissenschaftler-Paar zusammenlebt mit der Technik von morgen; mit Systemen, die helfen Strom und Heizkosten zu sparen, und mit Spielereien, die es erlauben, den Body-Mass-Index des Partners mit dem Mobiltelefon abzurufen. Denn die Badezimmerwaage ist ebenso mit dem Internet verbunden wie Herd und Pfanne, Heizung und Jalousien. Rojas will herausfinden, wie die Informatik helfen könnte, „Häuser energetisch effizienter, nachhaltiger und intelligenter zu machen“. Was taugt für den Alltag? Was muss verbessert werden? Und was ist Unsinn? Deshalb hat er das Haus so bauen lassen, dass sich jedes Zimmer verkabeln lässt, und hat es vollgepackt mit moderner Technik: Eine Wärmepumpe regelt die Temperatur; ein automatisches Bewässerungssystem gießt die Pflanzen; der Wohnzimmertisch besteht aus einem berührungsempfindlichen Bildschirm, zugleich Spielbrett und Arbeitsplatz; über die Lichtschalter lässt sich der Medienserver im Keller steuern, auf dem Musik, Filme, Fotos, Dokumente gespeichert sind; putzende Mini-Roboter rollen über die Fliesen.
Rojas ist jetzt Forscher und Versuchsperson in einem. Er gehört zu jenen Wissenschaftlern und Absolventen der Freien Universität, die heute schon darüber nachdenken, welche Geräte und Programme morgen die Gesellschaft verändern. Die das Potential neuer Technologien erkunden und sie nutzbar machen für den Alltag. Dahlem mag kein deutsches Silicon Valley sein, doch die Freie Universität hat sich zum Kompetenzzentrum entwickelt für die Anwendungen der Zukunft – von der Grundlagenforschung bis zur Marktreife, von der Informatik bis zur Medizin. Sie bietet ein Umfeld, in dem Wissenschaftler sich ausprobieren und austauschen können, über die Grenzen der Disziplinen hinweg. Sie zieht junge Talente aus aller Welt an. Sie berät und unterstützt junge Unternehmer und Firmen-Gründer, die mit ihren Erfindungen in den Markt drängen. Die Entwickler, seien es Absolventen oder Angehörige der Freien Universität, nutzen vorhandene Technik für ihre Ideen, modifizieren sie, kombinieren sie mit eigenen Erfindungen – und schaffen so Neues.
Zu den wichtigsten Arbeitsgeräten des Mathematikers Tim Conrad, 31, gehört die Play Station 3, eine Spielkonsole, mit der sonst vor allem Jugendliche in Wettfahrten durch virtuelle Straßenschluchten jagen und Fußball-Weltmeisterschaften nachspielen. Conrad jedoch arbeitet mit in der „Bio Computing Group“ am Institut für Mathematik, einer Arbeitsgruppe, die unter anderem berechnet, wie sich Moleküle bewegen. Da die Play Station 3 einen extrem schnellen Prozessor hat und vergleichsweise günstig ist, nutzt Conrad sie für die aufwändigen Kalkulationen. Seine These: Jede Krankheit verändert die Konzentration bestimmter Moleküle im Blut und hinterlässt eine Art Fingerabdruck, ein wiedererkennbares, eindeutiges Muster. „Wir sind mittlerweile ganz gut darin, auch in einer scheinbar total chaotischen Datenflut aus medizinischen Experimenten Krankheiten herauszulesen und für die klinische Diagnostik zu nutzen“, sagt Conrad, „das ist unter anderem für die Entwicklung von Medikamenten wichtig.“ Seine Arbeit verbindet Mathematik, Informatik und Medizin; die Methoden lassen sich aber auch auf anderen Gebieten einsetzen: So analysieren die Wissenschaftler etwa Finanz- und Klimadaten.
Auch der Informatiker Rojas hat für sein intelligentes Haus Geräte verwendet, die es längst zu kaufen gibt, und Technik, die er mit seinen Teams an der Freien Universität entwickelt hat. Die größte Herausforderung dabei: Es fehlen bisher einheitliche Standards, auf die sich die Industrie geeinigt hat. Rojas und seine Leute müssen Maschinen erst beibringen, miteinander zu kommunizieren. Allein das Anschließen von Herd und Backofen dauerte einen Tag. Erst durchs Vernetzen entsteht aus den Leitungen, Servern und den Terabyte großen Festplatten etwas, das die Forscher „ambient intelligence“ nennen, Umgebungs-Intelligenz. „Im Idealfall erkennt das Haus, was ich tue und merkt sich meine Vorlieben“, sagt Rojas. Ein lernendes System, das ist das Fernziel.
Er kennt sich aus mit Technik, die für viele nach Science Fiction klingt – und die manchmal noch Jahre braucht bis zur Marktreife. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern hat er ein brummendes Gerät konstruiert, die „Robobee“, das den Tanz europäischer Honigbienen imitieren soll, um herauszufinden, wie Insekten kommunizieren. Sie haben ein mobiles Lesegerät für Blinde gebaut, das Zeitungsartikel und Bücher vorliest, und elektronische Kreide für Schulen und Hörsäle entwickelt. Kleine Geräte, die das Leben und Forschen einfacher machen sollen.
Weit mehr Aufsehen erregt Rojas damit, dass er Robotern das Fußballspielen beibringt und einem Auto das Fahren ohne Fahrer. Mit den humanoiden Robotern, „FUmanoids“ genannt, feiert sein Team seit Jahren Erfolge bei Roboter-Weltmeisterschaften. Die kleinen Figuren reichen einem Erwachsenen noch nicht einmal bis zur Hüfte, ihre Bewegungen sehen ziemlich unbeholfen aus, ein bisschen wie Kinder, die gerade laufen lernen. Das Fußballfeld, auf dem die mechanischen Kicker spielen, misst nur wenige Meter von Tor zu Tor. Umständlich bewegen sie sich auf den Ball zu, kicken und schieben ihn hin und her. Was klingt wie ein abgedrehtes Hobby von Computer-Bastlern, liefert wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Trainiert und programmiert werden die Roboter vor allem von Studenten und Doktoranden. Gretta Hohl, 24, gehört seit drei Jahren zum Team, sie hat eine Software geschrieben, die zugleich ihr Diplom-Thema ist: „Kooperative Planung für autonome humanoide Fußballroboter“. Die Arbeit hat sie gerade abgegeben. Bis zu zehn Stunden am Tag verbringt sie mit den Robotern, seit Monaten schon. „Mit Fußball konnte ich eigentlich nie viel anfangen“, sagt Hohl, „erst bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 habe ich begonnen, etwas mitzufiebern.“ Wegen der Roboter hat sie sich mit den Fifa-Regeln beschäftigt, die in abgewandelter Form auch für die Roboter-Teams gelten – sie will beurteilen können, ob der Schiedsrichter zu Recht rote und gelbe Karten verteilt.
Die größte Herausforderung: Den Maschinen das beibringen, was beim Menschen unbewusst abläuft, Intuition, automatisierte Bewegungen, das Erkennen und Bewerten von Situationen. Rojas sagt es so: „Einem Computer Schachspielen beizubringen, das ist leicht; Fußball ungleich schwerer.“
Wesentlich praxistauglicher als die Roboter ist ein weißer Minivan, dem die Forscher aus Rojas‘ Teams einen stolzen Namen gegebenhaben: „Spirit of Berlin“, angelehnt an das Raketenauto „Spirit of America“, das wiederholt Geschwindigkeitsrekorde aufstellte. Im Vergleich zum Hochgeschwindigkeits-Boliden schleicht das Berliner Gefährt zwar über seine Teststrecke auf dem Flughafen Tempelhof – gerade mal 25 Stundenkilometer zeigt der Tacho während der Fahrt. Rasend schnell bewegen sich jedoch die Daten und Informationen in den Bordrechnern: Sie koordinieren das Navigationssystem, werten die Bilder der Videokameras auf dem Dach aus, steuern den Laser-Scanner, der vor der Motorhaube angebracht ist. Alle Daten werden vom System kombiniert, sodass der Wagen ein umfassendes Bild von der Umgebung hat und selbstständig entscheiden kann, welche Route er wählt. Im Weg stehende Autos oder andere Hindernisse umfährt „Spirit“ problemlos - ein Auto, das keinen Fahrer mehr braucht.
Spezielle Motoren bedienen Gaspedal, Bremse und Lenkrad. Auf dem Fahrersitz sieht es ein bisschen aus wie in einem Raumschiff, so viele Konsolen und Computer sind angebracht. Mittlerweile lässt sich der Wagen auch über ein iPhone steuern, denkbar ist als Anwendung das Einparken per Fernsteuerung. Für die Serienproduktion seien autonom fahrende Autos zwar noch viel zu teuer, sagt Rojas, und im Straßenverkehr werde es auch aufgrund rechtlicher Hürden noch eine ganze Weile dauern, bis Autos ohne Fahrer zugelassen werden. Doch dass sie die Mobilität verändern werden, davon ist Rojas überzeugt: „Perspektivisch ist das möglich, sagt er. „Autonome Autos sind wie Taxis. Es wird billiger, mit ihnen zu fahren, als einen eigenen Wagen zu unterhalten.“ Ein stadtweites Carsharing, davon träumt er. Doch das werde noch einige Zeit dauern, auch weil das Konzept ökologisch erst richtig sinnvoll wird, wenn Elektromotoren serienreif sind.
Der Informatikprofessor konstruiert aber nicht nur die Maschinen der Zukunft, er unterstützt auch Unternehmer, die von seinem Wissen und den Ideen seiner Studenten und Mitarbeiter profitieren wollen. Sven Engelmann und seine Geschäftspartner von der noch jungen Firma OMQ treffen sich alle paar Wochen mit den Wissenschaftlern der Arbeitsgruppe „Künstliche Intelligenz“, um darüber zu sprechen, wie sie ihre Produkte verbessern können. Rojas ist der Mentor der Jungunternehmer. Sie verkaufen ein Programm, das hilft, wenn der Büro-Computer nur noch Fehlermeldungen ausspuckt. Die QMC-Software erkennt die Signatur des Fehlers, vergleicht sie mit bisherigen Fehlern und besorgt dem verzweifelten Nutzer die richtige Lösung für das Problem; eine Art intelligente Wartungs- und Reparaturdatenbank. „Das hilft dem Endkunden, der nicht dauernd bei Support-Hotlines anrufen muss“, sagt Engelmann, „und es hilft dem Hersteller, der nicht die immer gleichen Anfragen beantworten muss.“
Engelmann und seine Kollegen landeten 2008 beim Businessplanwettbewerb Berlin Brandenburg auf dem dritten Platz. Sie hatten eine gute Idee, eine funktionierende Basistechnologie und den Mut, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Was sie brauchten, war kompetente Beratung und eine Anschubfinanzierung. Sie wendeten sich an profund, die Gründungsförderung der Freien Universität. Die profund-Mitarbeiter knüpfen Kontakte zu Steuerberatern und Anwälten, sie helfen beim Beschaffen von Fördergeldern und der Suche nach Geschäftsräumen, sie vernetzen Gründungswillige untereinander, damit die angehenden Unternehmer voneinander lernen können. Sie sorgten auch dafür, dass QMC-Macher Engelmann und seine Partner mit dem Spezialisten Rojas zusammenkamen. Auch andere Firmen aus der Internet- und Tech-Branche profitieren von den profund-Leistungen. Das Start-Up BeatAndMusic will Musikern und Produzenten Programme verkaufen, mit denen sie sich im Netz vermarkten können, einen eigenen Online-Shop zum Beispiel. Die Spanne der unterstützten Neugründungen reicht von kleinen Ideen, die den Alltag ein wenig vereinfachen, etwa ein Sekretariats-Service, der Anrufe entgegennimmt und protokolliert - bis hin zu Erfindungen mit großem Potential, die helfen können, Krankheiten wie Alzheimer zu diagnostizieren und zu therapieren.
„Profund vermittelt genau das Wissen, das in der Gründungsphase benötigt wird“, sagt Jochen Schiller, als Vize-Präsident mitverantwortlich für die Gründungsförderung – und ebenfalls ein Technikbegeisterter. Schiller ist selbst Informatik-Professor und Experte für mobile Kommunikation, sein Buch zum Thema gehört zur Standardliteratur. Er leitet die Arbeitsgruppe „Computer Systems & Telematics“, die wiederum mehrere Projekte vorantreibt: ein System zum Orten von Feuerwehrleuten im Einsatz; ein Sensornetz zur Beobachtung von Tieren in freier Wildbahn; eine Art intelligenter Bau-Zaun, der anzeigt, an welcher Stelle jemand versucht hinüberzuklettern.
Wenn Schiller über die Möglichkeiten des Internets und der Vernetzung mobiler Geräte spricht, gerät er geradezu ins Schwärmen. Dabei kann auch er sich noch gut an die Zeit erinnern, als sich kaum jemand vorstellen konnte, was einmal aus dem Internet werden würde. Seine ersten E-Mails schrieb Schiller 1983. Damals, als Austauschschüler in den USA, musste er den Telefonhörer auf einen Akustik-Koppler pressen, um einen Computer mit dem Netz zu verbinden - ein Modem aus der Frühzeit der Daten-Übertragung. Das Gerät wandelte Daten in Töne um, pfiff und summte, und verschickte sie so über die Telefonleitung. „Mit 150 Bits pro Sekunde konnte man problemlos Texte übertragen“, erinnert er sich. Heute koordiniert er seine Termine mit den Präsidiums-Kollegen drahtlos via Online-Kalender. „Es ist faszinierend, wie sehr sich das wissenschaftliche Arbeiten, das Studium, der ganze Campus durch die Vernetzung verändert haben“, sagt Schiller. Allein die Studenten und Mitarbeiter der Freien Universität empfangen heute über eine halbe Million E-Mails – jeden Tag. Die Internetseite www.fu-berlin.de wird pro Monat drei Millionen Mal angeklickt. Die 1300 Funk-Hotspots auf dem Campus bilden das größte WLAN-Netz Europas. Auf die Lernplattform Blackboard greifen über 21.000 Nutzer zu, tauschen Unterlagen aus und melden sich für Kurse an. Mittlerweile beginnen an der Freien Universität mehr Abiturienten ihr Informatik-Studium als an allen anderen Berliner Universitäten zusammen – Dahlem digital.
Schiller interessiert aber auch, wie Internet und Computer die Gesellschaft verändern, etwa die Kultur. „Das Fernsehen in seiner klassischen Form wird untergehen, in spätestens 20 Jahren“, prognostiziert Schiller, „DVDs und CDs werden schon in zehn Jahren verschwinden.“ Selektives Sehen: Jeder lädt sich die Sendungen oder Filmschnipsel auf seinen Computer oder sein Handy. Das allerdings bringe auch Probleme mit sich, die Aufmerksamkeitsspanne wird abnehmen. „In wenigen Jahren werden die Leute bei klassischen Kinofilmen kribbelig“, fürchtet er.
Es sind auch solche Gedanken und Analysen, die eine Stärke der Freien Universität ausmachen. Die Technologien von morgen werden hier nicht nur entwickelt, Nutzen und Risiken werden abgewogen. So kennt sich auch Roboter-Entwickler Rojas nicht nur mit Zahlen aus. Nach seinem Mathematik-Studium in Mexiko promovierte er am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft mit einer Arbeit über die Kritik an der Politischen Ökonomie, um sich danach am Fachbereich Mathematik und Informatik zu habilitieren, das Thema: neuronale Netze. Für seine Projekte arbeitet er immer häufiger und intensiver mit Experten anderer Fächer zusammen, mit Psychologen, Philosophen und Neurobiologen. Doch am Ziel ist er noch lange nicht.
Wenn er über sein neues Haus spricht oder das selbstfahrende Auto, fallen immer Worte wie Nachhaltigkeit, Energie-Effizienz und grüne Intelligenz. „Bei aller Begeisterung: Die Technik ist kein Selbstzweck, sie muss uns dienen“, sagt er. Für das Jahr 2011 plant er ein noch intelligenteres Haus, bei dessen Planung er enger mit Architekten und Bauingenieuren zusammenarbeiten will, um es noch umweltfreundlicher zu machen. Diesmal soll es in Dahlem stehen, auf dem Campus der Freien Universität. Das Experiment soll weitergehen.
Von Florian Michaelis