Kenzaburo Oe
Berlin, 1.12.1999
Poetische Groteske
Kenzaburo Oe ist Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU
Kenzaburo Oe |
Gefragt, was er mit dem Geld des Nobelpreises machen wolle, der ihm 1994 für die "poetische Kraft" seines Werkes verliehen worden war, antwortete der japanische Schriftsteller Kenzaburo Oe: "Lesen". Bescheidenheit, gepaart mit einem stupenden Wissen und der Kunst, weltläufig zu sein, ohne dies eigens zu betonen, zeichnet Kenzaburo Oes Wesen in einem besonderen Maße aus. Seit Ende November ist der Literaturnobelpreisträger nach Vladimir Sorokin und Valentine Y. Mudimbe dritter Inhaber der 1997 eingerichteten Samuel-Fischer-Gastprofessur für Poetik an der Freien Universität. Zwei Mal in der Woche hält er im Wintersemester Veranstaltungen, einmal wöchentlich eine Sprechstunde ab. Sein essayistisches und erzählerisches Werk ist in den vergangenen dreißig Jahren dabei ständig gewachsen und liegt seit der Verleihung des Nobelpreises vermehrt auch in deutscher Sprache vor.
"However, please allow me to say that the fundamental style of my writing has been to start from my personal matter and then to link it up with society, the state and the world", erklärte Oe in seiner am 7. Dezember 1994 in Stockholm gehaltenen Rede. Und in der Tat spiegeln sich in Oes umfangreichem Werk leitmotivisch seine großen Lebensthemen wider: Der Dualismus zwischen dem heimatlichen Dorf Ose auf der West-Insel Shikoku und der Großstadt, Gefühle von Einsamkeit und Verzweiflung, Sexualität, Selbstverletzung und Suizid, die Rolle als Außenseiter in der Gesellschaft, nicht zuletzt aber die Behinderung seines Sohnes.
1935 wird Oe als drittes von insgesamt sieben Kindern in eine eingesessene Grundbesitzerfamilie eines kleinen Dorfes auf der Insel Shikoku geboren. Die Mutter rät ihm statt japanischer Literatur lieber Schriftsteller anderer Länder zu lesen, die Großmutter ist eine bekannte Geschichtenerzählerin. Oe fasziniert die Welt von "Huckleberry Finn", und er identifiziert sich mit dem kleinen Nils Holgerson. Der Tod von Vater und Großvater, das Erscheinen der amerikanischen Besatzer im Tal – mit "Konserven, Comics und Demokratie" beenden die Kindheit Oes auf drastische Weise und begründen sein politisches Engagement für Demokratie und die Umwelt- und Friedensbewegung. Oe verlässt die Enge des Waldtales, studiert in Tokyo Romanistik. Noch bevor er seine Examensarbeit "Über das Image bei Sartre" abschließt, erhält er für seine Erzählung "Der Fang" den bedeutenden Akutagawa-Preis.
Mit dieser von Miller, Sartre, Mailer und Faulkner beeinflussten Erzählung entwickelt Oe seine für ihn in den jungen Jahren typische Erzählweise: "Im Mittelpunkt steht in der Regel eine dem eigenem Ich verwandte Figur; sie sucht sich, in Vergangenem wurzelnd, mit Traumata belastet, in Richtung auf eine selbstbestimmte, aber auch von gegenwärtigen Widrigkeiten mitbedingte Zukunft ,freizuschwimmen’" (Schaarschmidt). Im "Fang" setzen japanische Dörfler kurz nach der Kapitulation einen schwarzen GI im Gemeindehaus gefangen und behandeln ihn wie ein fremdes Tier. Die Auseinandersetzung mit der japanischen Gesellschaft nach 1945, die Oe oft aus der Sicht eines Jugendlichen schildert, durchzieht sein ganzes Frühwerk wie auch seinen Roman "Reißt die Knospen ab". Oe konterkariert damit nicht nur den damals vorherrschenden Glauben an die japanische Volksgemeinschaft, gleichzeitig enthält sein Frühwerk Passagen, die die Neue Zürcher Zeitung in einem Artikel als "degoutante Ästhetik des Hässlichen" charakterisierte.
Oe hat sich dabei nie gescheut, den Akt der Selbstverstümmelung und den Suizid mit einer für den westlichen Leser bis zur Schmerzgrenze gehenden Genauigkeit zu erzählen. "Wir Japaner haben den Selbstmord nicht monopolisiert", erklärt Oe mit der für ihn typischen reichen Gestik während seiner ersten Veranstaltung an der Freien Universität. Doch will Oe den für ihn überraschenden Selbstmord seines berühmten Schwagers, Freundes und Filmregisseurs Juzo Itami in einem seiner künftigen Romane verarbeiten. In der "Groteske" als Stilmittel und einem tief empfundenen Humanismus, der an die Verwandelbarkeit des Menschen glaubt, sieht Oe indes keinen Widerspruch. "Nur durch Verzweiflung, Katastrophen und den Tod erreicht man ein neues Leben", sagt Oe und kündigt an, seinen letzten Roman "ohne Verletzung und Tod" schreiben zu wollen. Maßgeblich geprägt wurde Oe dabei von der Geburt seines 1963 geborenen geistig behinderten Sohnes Hikari, die er in seinem Buch: "Eine persönliche Erfahrung" verarbeitet. Als Alter ego fungiert ein junger Lehrer, der zunächst fest entschlossen ist, vor der schweren Behinderung des als Monster empfundenen Sohnes nach Afrika, beziehungsweise zunächst zu einer verwitweten ehemaligen Kommilitonin ins Bett zu fliehen. "Seit der Erfahrung mit meinem Sohn definiere ich den englischen Begriff 'innocent' neu, nämlich als zusammengesetzt aus 'not' und 'nocere' – verletzen", sagt Oe und erzählt, dass sein Sohn trotz seiner schweren Behinderung inzwischen auf Grund seines absoluten musikalischen Gehörs ein anerkannter Komponist geworden sei. Diese zutiefst vom Humanismus geprägte Grundeinstellung hat von früh an Oes politisches Denken bestimmt und ihm in Japan nicht nur Freunde gemacht: Oe engagiert sich in zahlreichen Schriften für die Atombombenopfer von Hiroshima, für das koreanische, das vietnamesische und das Volk von Okinawa. Gleichzeitig kämpft er gegen Militarismus und Tennoismus und die gerade in Japan weit verbreitete Tendenz des Konformismus. "Verwundungen, die nicht vernarben" ist deshalb kaum zufällig der "Deutsch-japanische Briefwechsel" betitelt, den Oe 1995 öffentlich mit Günter Grass geführt hat.
In seinen späteren Romanen und Erzählungen wie "Der kluge Regenbaum" oder "Therapiestation" setzt sich Oe vermehrt mit dem Begriff der Fremdheit und Ausgrenzung auseinander, vermischt auf wundersame Weise "Spuren der mythischen Vergangenheit und Schwankungen des modernen Bewusstseins" (Frankfurter Rundschau). Es ehrt die Freie Universität, einen Weltbürger neuen Typs zu Gast zu haben, der selbst wenn er nur japanisch spricht, alleine durch seine Ausstrahlung die Zuhörer eines ganzen Saales in Bann schlägt.
Von Felicitas von Aretin