Der ganz normale Ausnahmezustand
Post aus Taipeh! Nora Lessing hat ihren ersten Taifun erlebt
02.11.2015
Schon am Vormittag beginnt es zu nieseln. Fadenfeine Tropfen, die beständig vom Himmel sprühen. Über dem Platz vor der U-Bahnstation Nanshijiao frischt der Wind auf. Die Böen kommen wie aus dem Nichts, reißen hungrig an den Ästen der Bäume. Fast menschenleer ist es jetzt, wo sich sonst täglich Frauen und Männer mittleren Alters zum gemeinsamen Sportprogramm treffen. Nur der Verkehr fließt unberührt. Wo mein Freund Martin und ich uns kaum trauen, den Platz zu überqueren, zischen Rollerfahrer in Funktionskleidung vorüber. „Bleibt zu Hause“, schreibt Trista, meine Ansprechpartnerin an der Universität, „und sichert die Fenster.“ So beginnt mein erster Taifun in Taiwan.
Vergitterte Fenster und massive Betonbauten allerorten – bei der Ankunft auf Taiwan fragte ich mich, was es mit der tristen Architektur auf sich haben könnte. Dann zeigte mir ein Kurzausflug nach Wulai im Süden Taipehs, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das regelmäßig von tropischen Stürmen heimgesucht wird. Hier hat im August Taifun „Soudelor“ gewütet. Teile der Straße sind weggebrochen, abgerissene Kabel und geborstene Baumstämme treiben im Fluss. Noch immer laufen die Aufräumarbeiten. Ein Vergnügungspark wirkt wie die Kulisse für einen Gruselfilm. Wir sind die einzigen Besucher hier, passieren verlassene Bungalows und Schießbuden. Schlamm füllt ein Becken, in dem bis vor wenigen Wochen Kinder Tretboot gefahren sind. Nur der Beton steht ungerührt.
Es sei möglich, dass das Wasser abgestellt werde, lese ich online. Man solle vorsorgen. Flüge werden gestrichen, die Züge fahren nicht mehr. Die Universität sagt alle Kurse für den nächsten Tag ab. Am Nachmittag will ich mir die Hände waschen, doch aus der Leitung kommt nur noch ein Tröpfeln. Wir wollen einkaufen gehen, stehen in unseren Regenjacken auf der Straße. Von einer Windböe erfasst, ist Martin binnen Sekunden vollkommen durchnässt. Der Weg zum Supermarkt ist nur teilweise überdacht und erscheint zu weit. Wir kehren um, stellen einen Eimer vor die Tür, damit er sich mit Regenwasser füllt. Draußen heult der Wind. Durch den Spalt zwischen Tür und Boden fegt eine Böe, lässt die Fußmatte ein Stück in den Raum hineinwehen.
Am nächsten Morgen tröpfelt es nur noch. Die Nachrichten melden zwei Tote und viele Verletzte. Roller um Roller zischt vorbei. Auf der Straße wird Tofu frittiert, werden Fleisch und Obst verkauft. Einige Bäume sind entwurzelt, einige Blumenkübel zerbrochen. Das Leben geht weiter, als ob nichts gewesen sei.