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„Tiefste Erschütterung und unendliches Mitgefühl“

Post aus Mexiko! In keinem anderen Land der Welt werden mehr Menschen entführt als in Mexiko – in einem Seminar lernt Estefanía González betroffene Familien kennen

24.11.2015

Straßenkunst in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Von Palestina bis Ayotzinapa - Die Frauen sind die Säulen der sozialen Bewegungen.“

Straßenkunst in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Von Palestina bis Ayotzinapa - Die Frauen sind die Säulen der sozialen Bewegungen.“
Bildquelle: Privat

Straßenkunst in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Ayotzinapa. Es war der Staat. Lebend nahmen sie sie uns, lebend wollen wir sie zurück.“

Straßenkunst in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Ayotzinapa. Es war der Staat. Lebend nahmen sie sie uns, lebend wollen wir sie zurück.“
Bildquelle: Privat

Straßenkunst an Haustor in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Es war der Staat.“

Straßenkunst an Haustor in Santo Domingo, Mexiko Stadt: „Es war der Staat.“
Bildquelle: Privat

Das Semester geht zu Ende und ich beginne, nostalgisch zu werden. Noch einmal dienstags vor der philosophischen Fakultät die leckeren enchiladas verdes essen, die der Verkäufer bereits für mich bereit hält, wenn ich komme, und die spannenden, kritischen Diskussionen in den Seminaren genießen, bevor es nächste Woche in die Examens-Phase geht. Verrückt, dass ich schon seit vier Monaten hier bin, denke ich mir, als ich das Philologie-Institut betrete, um an einem Kolloquium mit dem Titel „Heteronomien der Gerechtigkeit“ teilzunehmen, das meine Mitbewohnerin mitorganisiert hat.

Heute, am Eröffnungstag der einwöchigen internationalen Konferenz mit Gästen aus Paris, sind Familienangehörige von Verschwundenen eingeladen, um ihre Geschichten mit uns zu teilen. Sie sind alle Mitglieder der Organisation „Familiares en Búsqueda“ (Familienangehörige auf der Suche), einer Gruppe, deren Ziel es ist, Menschen bei der Suche nach ihren Lieben zu unterstützen. In Mexiko verschwinden jeden Tag 13 Menschen spurlos. Oft handelt es sich hier um „desaparición forzada“, was bedeutet, dass es sich um einen politischen Akt handelt, in den der Staat involviert ist, und nicht um eine bloße Entführung.

Vor allem in den letzten 30 Jahren sind vor allem Frauen und Jugendliche „verschwunden“ - der Fall von Ayotzinapa in 2014, bei dem 43 Studenten verschwanden, war kein Einzelfall. Während die erste Frau beginnt, von ihren vier verschwundenen Söhnen zu erzählen, nach denen sie seit mehreren Jahren verzweifelt sucht, kippt die Stimmung im Saal sofort von der anfänglichen Unbeschwertheit um in tiefste Erschütterung und unendliches Mitgefühl. Jedes der Schicksale dieser Menschen ist geprägt von unvorstellbarem Schmerz - ich traue meinen Ohren nicht.

Im Anschluss an die persönlichen Schilderungen der Einzelnen, die voller direkter Hilferufe an uns Studenten und die „Welt da draußen“ sind, bricht eine heiße Diskussion im Saal aus.Welche Rationalität steckt hinter der Strategie des Verschwindens? Warum gerade die Jugendlichen? In wie weit ist der Krieg gegen die Drogen „schuld“ an diesen Gewaltzuständen in Mexiko? Wie kann es sein, dass ein Staat so etwas zulässt? „Die Gesetze schützen uns nicht, sie existieren nur, um uns zum Narren zu halten“ - mit diesem Satz beendet einer der Vorsitzenden von „Familiares en Búsqueda“ die Debatte, da die Zeit um ist. Aber meine Fragen sind noch lange nicht beantwortet und ich beschließe, diesem Thema meine bevorstehende Masterarbeit zu widmen.

Weitere Informationen

In unserer campus.leben-Serie „Post aus...“ berichten sechs Studierende, zwei Doktorandinnen und ein Auszubildender von ihren Auslandsaufenthalten. Hier haben wir die neun Reisenden vorgestellt und hier finden Sie die vorangegangenen Berichte von Estefanía González.

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