Mémoire gegen Histoire. Überlegungen zur Memorialkultur im archaischen und klassischen Hellas
Prof. Dr. Egon Flaig
Geschichte wird notwendigerweise zur Waffe, sobald sie nicht als Wissenschaft betrieben wird, sondern als "kulturelles Gedächtnis" agiert. Der Grund liegt darin, daß keine kulturelle Orientierung zuverlässig funktionieren kann ohne historische Erinnerung; daher klärt der Vortrag im ersten Teil den Zusammenhang dieser beiden Begriffe. Und er stellt heraus, daß die Wertideen jeder Kultur – sogar die Menschenrechte – nur wertvoll bleiben, wenn das kulturelle Gedächtnis uns sagt, warum sie nicht verloren gehen dürfen.
Doch just diese orientierende Funktion des kulturellen Gedächtnisses widerspricht tendenziell dem Wahrheitsanspruch der Historie als Wissenschaft. Der zweite Teil des Vortrages beschäftigt sich mit dem von Nietzsche erkannten, von Maurice Halbwachs, Alfred Heuß und Pierre Nora herausgearbeiteten scharfen Gegensatz zwischen der histoire (Wissenschaft) und der mémoire (kulturelles Gedächtnis, Eingedenken).
Der dritte Teil des Vortrages wendet sich einem konkreten historischen Beispiel zu. Er zeigt auf, wie die athenische Demokratie schon Ende des 6. Jhs. v. Chr. sich einen Gründungsmythos schuf, der historisch falsch war aber dennoch das offizielle Gedächtnis der Polis bestimmte. Denn nicht der Volksaufstand gegen einen oligarchischen Staatsstreich 507 v. Chr. wurde erinnert, sondern die fragwürdige Tat der Tyrannentöter von 514 v. Chr. Diese ‚Verdrängung’ war, wie Ernest Renan sagte, heilsam für die Kohäsion der Bürgerschaft. Entgegen der Lehre der Psychoanalyse sind Vergessen und Verdrängen keine pathogenen Vorgänge, sondern für Kollektive geradezu überlebenswichtig. Der vierte Teil des Vortrages zeigt, daß die athenische Bürgerschaft im "kommunikativen Gedächtnis" sehr wohl wußte, daß der Gründungsmythos nicht stimmte, bei den Festen und Ritualen des politischen Eingedenkens aber diesem Mythos "glaubte". Doch einige Geschichtsschreiber widersetzten sich dem offiziellen Gedächtnis, bezeichneten es als falsch und tradierten die tatsächlichen Geschehnisse. In der griechischen Kultur entstand somit eine auf objektive Wahrheit bezogene autonomisierte histoire, die sich scharf absonderte vom offiziellen Gedächtnis im politischen Raum. Den Maßstäben dieser griechischen Historie verdankt sich unsere historische Wissenschaft.
Diese Maßstäbe sind also prekär und können verloren gehen. Der abschließende fünfte Teil des Vortrages geht auf die Gefahren ein, die der Geschichte als Wissenschaft heute drohen: Die Attitude des anything goes (Verwischung der Differenz von Fakten und Fiktionen), die postkoloniale Ideologie (Ausblendung jeder Vergangenheit vor 1492), und die selbstkonstruierten Vergangenheiten sogenannter Opfergruppen (Vergangenheit als Trumpf, um Forderungen zu stellen) ergeben zusammen einen Trend, der sogar in die Geschichtswissenschaft eindringt. Stellenweise rechtfertigen Wissenschaftler bereits das Leugnen historischer Tatsachen. Freilich wird wissenschaftliche Auseinandersetzungen dann unmöglich. Die mémoire droht die histoire zu beseitigen.