Die ganze Stadt kann Theaterbühne sein
Sonja Walter bekam als Studentin der Theaterwissenschaft an der Freien Universität das Rüstzeug mit, das sie als Dramaturgin an renommierte deutsche Theater brachte: für sie einer der schönsten und herausforderndsten Berufe.
19.05.2025
Seit Herbst 2024 ist Sonja Walter Chefdramaturgin des „Stadttheaters Ingolstadt“ und Stellvertreterin des Intendanten in künstlerischen Fragen.
Bildquelle: Hannes Rohrer
Kannst Du Dich noch an den Moment erinnern, als Dir klar wurde: Ja, das ist genau mein Ding?“ Diese Frage bekommen Menschen, die in künstlerischen Berufen arbeiten, oft zu hören. Auch Sonja Walter. Sie ist seit Herbst 2024 Chefdramaturgin des „Stadttheaters Ingolstadt“ und Stellvertreterin des Intendanten in künstlerischen Fragen – ein Beruf, von dem viele ambitionierte Studierende der Theaterwissenschaft träumen. Und, ja, er ist genau Walters Ding.
Der Dramaturginnenberuf hat ein bisschen von allem: Eine Dramaturgin ist die intellektuelle und in aktuellen politischen Themen bewanderte Kraft im Hintergrund; sie entwickelt nicht nur in Zusammenarbeit mit der Intendanz den Spielplan, sucht und findet aufführenswerte neue Autorinnen und Autoren sowie theatertaugliche literarische Stoffe, sondern hat auch die gute Stimmung im Ensemble im Blick.
Die studierte Theaterwissenschaftlerin und Alumna der Freien Universität lacht: „In meinem Unijahrgang wollten gar nicht so viele ans Theater – viele wollten lieber in der Wissenschaft arbeiten oder in die freie Szene.“ Für das eine wie das andere braucht es Talent, sehr viel intrinsische Motivation, inklusive eines gewissen Hangs zur Selbstausbeutung, und die Fähigkeit, schon während des Studiums durch Praktika und Hospitanzen ein Netzwerk zu knüpfen. Walter hospitierte als Studentin unter anderem an der „Schaubühne am Lehniner Platz“ und am „Maxim Gorki Theater“ sowie bei freien Bühnen. An der Freien Universität inszenierte sie für die studentische Studiobühne eine Theateradaption von „Ein Kind unserer Zeit“ von Ödon von Horváth. „Ich habe im Studium sehr schnell gemerkt, dass ich das theoretische Rüstzeug, das wir vermittelt bekommen haben, nutzen möchte, um nicht nur über Theater zu forschen, sondern es selbst zu machen.“ Denn Theater könne so viel: Geschichten erzählen, natürlich, aber auch Diskurse anstoßen und aktuelle Diskussionen aufgreifen.
Ihre neue Tätigkeit in Ingolstadt sei durchaus auch eine Herausforderung, sagt die 42-jährige gebürtige Hannoveranerin, die 2008 ihren Magisterabschluss im Hauptfach Theaterwissenschaft und in den Nebenfächern Neuere deutsche Literatur sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität machte; ihre Magisterarbeit schrieb sie über das Theaterfestival in Avignon. „In einer Millionen- und Kulturstadt wie Berlin, mit ihren vielen Bühnen, schärfen die Theater sehr stark ihre Profile, spezialisieren sich häufig auf bestimmte Genres oder künstlerische Ansätze und ziehen damit oft auch ein spezielles Publikum an“, erläutert sie. „Für ein Stadttheater einen Spielplan zusammenzustellen, bedeutet dagegen, eine große Bandbreite unterschiedlicher Facetten von Theater umzusetzen – für ein Publikum jenseits der 50 ebenso wie für Schülerinnen und Schüler.“
Dazu gehören für sie aber weit mehr als Schiller, Goethe, Brecht und Shakespeare, ergänzt durch ein paar zeitgenössische Autorinnen und Autoren. Es geht ihr vielmehr darum, auch neue Formate für die Theatervermittlung anzubieten und Theater nicht nur auf der Bühne, sondern, im Sinne einer „Stadtdramaturgie“, überall in Ingolstadt stattfinden zu lassen: mit Lesungen, Musikformaten, Livestreams, Poetry Slams oder spontanen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern.
Zurück zu der Frage nach dem magischen Theater-Moment: Als Teenagerin und junge Erwachsene hatte Walter viele solcher Aha-Momente, die letztlich dazu führten, dass sie den Weg einschlug, der sie nach dem Studium an verschiedene renommierte Theater in Deutschland brachte. Angefangen hat alles in ihrer niedersächsischen Heimatstadt mit dem „Schauspiel Hannover“. „Feuer gefangen habe ich als Schülerin. Was Ulrich Khuon als Intendant des Schauspielhauses auf den Spielplan gebracht hat, fand ich großartig. Ich habe noch viele Bilder von Inszenierungen im Kopf“, schwärmt sie. Später ging Khuon ans „Thalia Theater“ in Hamburg, danach leitete er viele Jahre in Berlin das „Deutsche Theater“.
Sonja Walter spielte schon in der Schule selbst Theater. „Das hat mir die Oberstufenzeit versüßt!“, erinnert sie sich – und nach dem Abitur stand der Entschluss für ihr Hauptfach felsenfest: Theaterwissenschaft.
Worte wie „Das ist doch brotlose Kunst, Kind!“ bekam sie zu Hause nicht zu hören. „Meinen Eltern war vor allem wichtig, dass ich etwas studiere und lerne, das mir Freude macht, und sie haben mich immer in meinen künstlerischen Ambitionen bestärkt“, betont Walter. Vielleicht auch deshalb, weil sie zu diesem Zeitpunkt schon etliche Jahre im regionalen Jugendsinfonieorchester Oboe spielte. Denkbar wäre auch ein Musikstudium gewesen. Aber die Faszination fürs Theater war stärker.
Nach dem Studium war sie drei Jahre lang Dramaturgieassistentin und zuletzt Dramaturgin am „Residenztheater“ in München, eine für sie wichtige Zeit an einer der renommiertesten Bühnen Deutschlands, in der sie auch den heutigen Ingolstädter Intendanten Oliver Brunner kennen und schätzen lernte. „Im Theater sagt man immer: Man sieht sich mindestens noch ein zweites Mal“, sagt Walter. Und so war es kein Zufall, dass Brunner sie in Ingolstadt in seinem Leitungsteam haben wollte.
In den Jahren dazwischen sammelte sie ab 2011 Erfahrungen in der verantwortlichen Position als Schauspieldramaturgin und Geschäftsführende Dramaturgin am „Theater und Orchester Heidelberg“. Sie wirkte bei der Kuratierung des Programms zum „Heidelberger Stückemarkt“ mit und begleitete internationale Koproduktionen.
Früh sammelte Sonja Walter Erfahrungen mit dem Inszenieren von Theaterstücken – hier die Theateradaption von „Ein Kind unserer Zeit“ von Ödon von Horváth an der Studiobühne der Freien Universität.
Bildquelle: privat
Zu dieser Zeit machte Walter außerdem per Online-Studium an der Hochschule Wismar noch einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre: eine ungewöhnliche Kombination, von außen betrachtet. Für Walter ist dieses zusätzliche Studium aber nur eine logische Konsequenz ihrer beruflichen Entwicklung: künstlerisches Gespür, gepaart mit einem Blick für das wirtschaftlich Machbare. „Ein Theater ist ein Betrieb wie jeder andere“, erläutert sie. „Klar, bei uns geht es nicht um Fertigung und Verkauf von Waren, sondern um künstlerische Produktionen, aber auch Theater müssen beim Konzeptionieren ihrer Spielpläne die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten. Gerade in Zeiten, in denen die Fördergelder und Budgets geringer werden, ist es wichtig zu schauen, wo sinnvoll Kosten reduziert werden können.“ Etwa indem man bei Requisiten und Bühnenbildern die Möglichkeiten für mehrfache Nutzung mit geringen Umbaukosten gleich mitdenkt. Gesetzestexte und Tarifverträge auf Anhieb richtig lesen und verstehen zu können, sei in ihrer Position ebenfalls von großem Vorteil, betont die Dramaturgin. Auch dafür sei das Studium sehr nützlich gewesen.
2018 wechselte sie als Produktionsdramaturgin nach Karlsruhe und war Teil des Leitungsteams der Schauspieldirektorin Anna Bergmann. Diese Zeit, sagt Walter, habe sie stark geprägt. Nicht nur weil ihr Sohn Leon zur Welt kam, sondern auch, weil das Team mit einem radikal weiblichen Spielplan und ausnahmslos Regisseurinnen für Diskussionen über Geschlechtergerechtigkeit in der Kunst sorgte.
Wenn die neue Spielzeit 2025/26 des „Stadttheaters Ingolstadt“ während einer Pressekonferenz vorgestellt wird, ist die Expertise von Sonja Walter gefragt.
Bildquelle: Ritchie Herbert
Die Frage nach der Vereinbarkeit von Kind und nicht sehr familienfreundlichen Arbeitszeiten am Theater erübrigt sich da fast. „Es wäre merkwürdig gewesen, wenn ich ausgerechnet in Karlsruhe, in einem weiblichen Leitungsteam, meine Arbeit für meinen Sohn nicht hätte vorübergehend reduzieren können, was ich auch tatsächlich getan habe“, sagt sie, räumt aber ein: „Gerade für Alleinerziehende wie mich ist es am Theater oft nicht einfach, wenn man nicht das Glück hat, ein gutes Betreuungsnetzwerk bei der Hand zu haben.“ Sie hat dieses Glück, auch jetzt wieder in Ingolstadt, wo sie sich bereits sehr wohlfühlt. Schwieriger sei es natürlich besonders für Schauspielerinnen und Schauspieler, deren Probenplan selten bis gar keine Rücksicht auf die Betreuung kleiner Kinder nehmen kann, betont Walter.
Das Thema Geschlechtergerechtigkeit wird Sonja Walter weiter umtreiben und begleiten: Von 2021 bis 2023 gehörte die Dramaturgin dem ersten Vorstand des neugegründeten Vereins „Women in Arts and Media“ (WAM) an. WAM ist ein interdisziplinäres, branchen- und spartenübergreifendes Netzwerk für Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien. „Zu unseren Zielen gehören Strukturveränderungen. Denn noch immer sind Frauen in Führungspositionen oder auch im Regiebereich unterrepräsentiert. Darüber hinaus geht es aber auch darum, Ungleichheiten über Gender, Race und Ability hinaus anzuerkennen und ihnen entgegenzuwirken.“ Mit anderen Worten: Es gibt noch viel zu tun.