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„Ich gestehe, in dieser Sache Partei zu sein.“

Margherita von Brentano prägte die Freie Universität Berlin durch engagierte Lehre und durchdachtes Engagement.

03.12.2018

Margherita-von-Brentano in den 1960er Jahren. Sie lehrte von 1956 bis 1987 an der Freien Universität Berlin.

Margherita-von-Brentano in den 1960er Jahren. Sie lehrte von 1956 bis 1987 an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: PIU Lieck

In ihren Publikationen setzte sich die Philosophin mit Fragen ihrer Zeit ebenso auseinander wie mit klassischen Texten. Heute ist ein Preis nach ihr benannt, und das Zentrum für Geschlechterforschung trägt ihren Namen.

„Wissenschaftspluralismus“, die „studentische Oppositionsbewegung“ oder eine Entgegnung auf Karl Jaspers „Betrachtungen eines Unpolitischen“ – in ihren Veröffentlichungen hat sich die Philosophin immer wieder mit den Themen und Fragen ihrer Zeit auseinandergesetzt, in akademischen Schriften, aber auch im Rundfunk und anderen Medien. Und sie trug diese Themen in den Hörsaal – wie etwa Anfang der 1960er Jahre, als sie eine Lehrveranstaltung zu Antisemitismus anbot. Durch diese Art, die Gegenwart buchstäblich zu durchdenken und selbst Stellung zu beziehen, prägte Margherita von Brentano viele, die bei ihr studierten, promovierten oder mit ihr zusammenarbeiteten bis heute.

Auch kanonisierte Autoren und Texte brachte sie neu zum Sprechen. „Sie konnte, wie es Hannah Arendt über Heidegger gesagt hat, tote Bücher zum Leben erwecken“, sagt Susan Neiman. „Wenn Margherita von Brentano über Aristoteles und Kant gesprochen hat, dann mit einer Leidenschaft, die sehr anziehend war.“ Die Direktorin des Einstein Forums in Potsdam war Anfang der 1980er Jahre von der Harvard University nach Berlin gekommen, um ihre Doktorarbeit fertig zu schreiben, damals besuchte sie auch Seminare bei Margherita von Brentano. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Iris Nachum und dem Philosophieprofessor Peter McLaughlin hat die Amerikanerin dafür gesorgt, dass Margherita von Brentanos Texte und Manuskripte inzwischen in zwei Bänden zugänglich sind; darin vermittelt sich die analytische Schärfe der Wissenschaftlerin und nicht zuletzt ihr Humor. „Von Brentanos Wirkung gründet bis heute auf ihrer Lehrtätigkeit und ihrem politischen Engagement“, sagt Susan Neiman.

Dass Margherita von Brentano di Tremezzo einmal in einem zu einer Insel geschrumpften West-Berlin an der Freien Universität lehren und auf Demonstrationen gegen die Regierung opponieren würde, das ahnte wohl niemand, als sie 1922 auf der Sauerburg über dem Rhein geboren wurde. Ihr erstes Lebensjahrzehnt verbrachte sie in Rom, wo der Vater, Clemens von Brentano, in der Weimarer Republik Botschafter des Deutschen Reiches war. Ihre Eltern sahen die fünf Brentano-Geschwister nur beim Mittagessen oder in Abendkleidung, vor einem der vielen Empfänge – ansonsten waren sie in der Obhut von Kindermädchen. Erst als der Vater 1931 nach Berlin zurückbeordert wurde und 1933 aus dem diplomatischen Dienst ausschied, „brach“ für die Brentano- Kinder eine „relative Freiheit aus“, wie sich Margherita von Brentano später erinnerte, „da meine Eltern nicht gewohnt waren, das Erziehungsgeschäft selbst zu übernehmen.“

Während der letzten Kriegsjahre studierte Margherita von Brentano bei Martin Heidegger in Freiburg, im März 1945 schloss sie ihr Studium ab. Heidegger habe von Brentano ihr Leben lang fasziniert, erinnert sich Susan Neiman, trotz dessen politischer Verstrickung in den Nationalsozialismus. Dabei ist bereits die 19-jährige Philosophie-Studentin ein kritischer Geist: 1941, im Arbeitseinsatz als Straßenbahnschaffnerin, setzte sie sich für eine ältere, jüdische Dame ein und scheute dabei weder die Auseinandersetzung mit einem anderen Fahrgast noch mit der Polizei. Als Margherita von Brentano nach dem Krieg anfing, für den Schulfunk des Südwestfunks zu arbeiten, verfasste sie Sendungen zu Antisemitismus und Judenverfolgung, zur Geschichte der Demokratie und zum Scheitern der Weimarer Republik. „Der Mensch ist also von Natur aus ein politisches Wesen“, heißt es in einem Feature aus dem Jahr 1950 – auch das durchaus ein Lebensmotto Margherita von Brentanos, die sich 1956 entschied, als Assistentin des Philosophieprofessors Wilhelm Weischedel nach Berlin zu gehen. Heidegger hatte ihr allerdings davon abgeraten.

„Man kann nur philosophieren lernen...“

Das philosophische Seminar der Freien Universität befand sich zu dieser Zeit noch in einer Villa in der Gelfertstraße: Ein „überschaubarer Rahmen“ mit 60 bis 70 Hauptfachstudierenden sowie Kommilitoninnen und Kommilitonen aus Medizin, Rechtswissenschaft und Mathematik, wie Margherita von Brentano in einem Interview in den 1980er Jahren erzählte – als die Freie Universität längst zur Massenuniversität geworden war und aus allen Nähten platzte. Bald engagierte sie sich auch außerhalb der Universität. 1960 – in einem Winter, in dem Synagogen in Deutschland wieder mit Hakenkreuzen beschmiert wurden – nahm sie an einer Kundgebung gegen Antisemitismus teil, auf der auch die Absetzung mehrerer Minister der Adenauer-Regierung gefordert wurde. Allerdings gehörte diesem Kabinett auch ihr Onkel Heinrich von Brentano als Außenminister an. Grund genug für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, sich in der Rubrik Personalia zwischen Klatsch über Modeschöpfer Yves Saint Laurent (24) und Filmproduzent Artur „Atze“ Brauner (41), auch „Fräulein Dr. von Brentano“ (37) erstmals genauer anzusehen, die als „energische Protestruferin“ an der Kundgebung mitgewirkt hatte. Der Spiegel sollte auch später immer wieder über „die Nichte“ berichten.

Das „Fräulein Dr.“ war eine der wenigen Dozentinnen an der Freien Universität. Frauen waren damals an allen westdeutschen Universitäten unterrepräsentiert. Die Lehrstühle an den Universitäten in der noch jungen Bundesrepublik waren noch nicht mal zu einem Prozent mit Frauen besetzt, an der Freien Universität gab es damals immerhin schon 1,3 Prozent weibliche Ordinarien, bei 30 Prozent Studentinnen. Margherita von Brentano selbst hatte diese Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik 1962 zusammengestellt für einen Vortrag im Rahmen der Universitätstage 1963 an der Freien Universität, in dem sie sich mit der Situation von Frauen an der Universität auseinandersetzte. Deutschland, so erklärte sie den vielen Zuhörerinnen und wenigen Zuhörern, sei international in dieser Hinsicht ein Schlusslicht, „unterboten nur noch von Guatemala, Ecuador und Österreich.“

Die Zahlen spiegeln die heute erschütternden Ressentiments, die die Fachkollegen der wenigen Wissenschaftlerinnen damals als vermeintlich wissenschaftlich unterlegte Fakten unverhohlen äußerten: „Der Frau liegt das Auftreten auf dem Katheder nicht“, zitierte Margherita von Brentano aus einer Studie über die Einstellungen von Universitätsangehörigen zum Thema „Universität und Frau“. Das sei ein „sekundäres Geschlechtsmerkmal“ und „Geistigkeit ein Privileg der Männer“. Oder: „Weibliche Hochschullehrer sind immer häßlich. Wenn sie hübsch wären, wären sie geheiratet worden.“

Besonders empörte die Philosophin, dass solche Ansichten in Hochschulkreisen geäußert wurden und die Universität kein besserer Ort war als der Rest der Gesellschaft: Obwohl eine „Stätte der Wissenschaft“, gediehen auf ihrem Boden „die Vorurteile ungehindert und fast stärker als anderswo“. „Wissenschaft als Beruf“ mache „die Menschen, die sie betreiben, um nichts widerstandsfähiger, um nichts kritischer und gefeiter gegen die Vorurteile.“ Den Anspruch, dass die Universität ein Ort ist, an dem Dinge nicht nur gedacht, sondern auch vorgelebt werden müssten, setzte Margherita von Brentano selbst in die Tat um, wo immer möglich. Sie unterstützte Frauen in Gremien und bei Stellenbesetzungen.

„Von der Frauen- und Geschlechterforschung forderte sie – genauso wie von der marxistischen Theoriebildung – strenges selbstkritisches Denken“, sagt Anita Runge, Geschäftsführerin des Margherita-von-Brentano-Zentrums der Freien Universität Berlin. Ihre Überzeugung, dass Wissenschaft sich immer selbst in Frage zu stellen habe und nicht bei Ideologiekritik stehenbleiben dürfe, sei eine Verpflichtung für die Arbeit des Zentrums.

„Sie wollte zum Denken anregen – ob in der Vorlesung oder im politischen Bereich. Diese Liebe zum Selbstdenken hat sie auch praktiziert“, erzählt Susan Neiman. „Man kann keine Philosophie lernen, man kann nur philosophieren lernen“, heißt es in einer Seminarbeschreibung im kommentierten Vorlesungsverzeichnis des Instituts für Philosophie im Sommersemester 1975 mit einem Kant-Zitat.

Die Liebe zum Selbstdenken vermittelte sie auch in der Lehre mit Veranstaltungen zu aktuellen Themen wie etwa zu Faschismus-Theorien oder in den 1970er Jahren zu Begriff und Theorie der Bürgerlichen Gesellschaft. Das Seminar, das sie gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Assistenten Peter Furth, im Wintersemester 1960/61 Jahre zu Antisemitismus gab, wurde für viele Studierende zu einer wegweisenden Lernerfahrung, zu einem Vorboten der Studentenbewegung. So auch für Siegward Lönnendonker, der den Zettelkasten mit den Exzerpten, der in diesem Seminar entstand, noch heute in dem von ihm gegründeten APO-Archiv an der Freien Universität aufbewahrt.

„Auf Folgenlosigkeit verpflichtete Wissenschaft ist keine mehr.“

Philosophie war für Margherita von Brentano eine Art, sich mit gesellschaftliche Fragen auseinanderzusetzen. Daher gehörte sie bei der großen Fakultätsreform 1970 auch zu jenen in ihrem Institut, die sich dafür aussprachen, dass die Philosophie zum Fachbereich 11, der die Gesellschaftswissenschaften umfasste, zählen sollte. Dazu gehörte auch, sich mit der Frage der Parteilichkeit in der Philosophie auseinanderzusetzen – ebenso wie mit dem Verhältnis von Philosophie und Politik. Mit diesen Themen hat sich Margherita von Brentano immer wieder beschäftigt. Im Vortrag zur Situation der Frau an der Universität erklärte sie etwa: „Ich gestehe, in dieser Sache Partei zu sein. Ich meine nämlich, daß dort, wo noch Ungerechtigkeit herrscht, sei es viel oder sei es wenig, gehöre man selbst zu den von ihr Betroffenen oder – was noch ärger ist – zu den von ihr Profitierenden, die Parteinahme, cum ira et studio, Bedingung objektiver Erkenntnis ist.“ Die Forderung nach Neutralität hingegen verkläre „gesellschaftliches Unrecht zur Natur“. In dieser Weise – auch von der jeweiligen Position aus – sollte das eigene Denken wie Handeln reflektiert werden.

Hochschulpolitisches Engagement und praktische Philosophie gingen auf diese Weise in ihrem Leben ineinander über, so auch von 1970 bis 1972 in ihren Jahren als erste Frau im Vizepräsidentenamt der Freien Universität Berlin – in einer aufgeheizten Zeit. Schon von Brentanos erstes Amtsjahr wurde überschattet von einer Diffamierungskampagne, die auf einer zunächst anonymen Denunziation beruhte. Eine Zeugin wollte mitgehört haben, dass die Akademische Rätin auf einer hochschulpolitischen Veranstaltung der Wilmersdorfer Jungsozialisten im Oktober 1970 zur Revolution aufgerufen habe, zudem eine sozialistische Universität anstrebe und Gewaltanwendung gutheiße. Mehrere Zeitungen hatten dieses „Gedächtnisprotokoll“ einer – wie sich später herausstellte – Professorengattin, deren Mann Mitglied des konservativen Zusammenschlusses „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ war, in Auszügen abgedruckt. Unbekannte schrieben daraufhin „Ulbricht-Nutte Brentano über die Mauer“ an die Außenmauer des Auditorum maximum. Hochschullehrerinnen und -lehrer, Schriftstellerinnen und Schriftsteller nahmen öffentlich gegen die „Kampagne“ Stellung; die Ermittlungen für ein Disziplinarverfahren gegen die Landesbeamtin wurden schließlich eingestellt.

Wenig später eskalierte der Konflikt um die Berufung des belgischen Marxisten Ernest Mandel als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Freie Universität. Mandel war nicht nur Wissenschaftler und Verfasser einer im Suhrkamp Verlag erschienenen und in der ZEIT besprochenen Wirtschaftstheorie, sondern auch Trotzkist und Mitglied der Vierten Internationalen, in mehreren Ländern mit Einreiseverbot belegt. Würde er an der Freien Universität lehren und forschen – oder nicht vielmehr zu Klassenkampf und Revolution aufrufen? Der damalige Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein, verweigerte seine Zustimmung zu dem einzigen Kandidaten, auf den der Fachbereich die Berufungsliste reduziert hatte. Margherita von Brentano trat daraufhin vom Amt der Vizepräsidentin zurück: „Auf Folgenlosigkeit verpflichtete Wissenschaft ist keine mehr“, schrieb sie in ihrer Erklärung. Für sie, die sich in mehreren Texten mit Wissenschaftspluralismus auseinandergesetzt hatte, war der Eingriff „staatlicher Behörden in die Substanz der Universität“, in die Berufungsfreiheit, nicht tragbar.

Margherita von Brentano scheute sich nicht anzuecken, berichteten Weggefährtinnen und -gefährten. Seit 1972 Professorin, fiel sie auch durch ihre elegante Kleidung auf. In ihrer Wohnung befanden sich Bücher in schönen Ausgaben, Familien-Erbstücke und ein Cembalo. Durch Dahlem sauste sie in einem Sportwagen. An der Freien Universität sorgte Margherita von Brentano noch in anderer Hinsicht für Gesprächsstoff, denn 1961 ging sie eine Beziehung mit Jacob Taubes ein, den sie während eines Vortrags eines Institutskollegen kennengelernt hatte. Der Religionssoziologe von der Columbia University war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch in den USA mit Susan Taubes verheiratet. Dass Jacob Taubes, der aus einer Schweizer Rabbinerfamilie stammte, sich nach Zögern und Pendeln zwischen New York und Berlin für die Professur, die Leitung des neugegründeten Instituts für Judaistik an der Freien Universität – dem ersten in der Bundesrepublik – und ein Leben in Deutschland entschied, hat vor allem auch mit der Beziehung zu und seinem Vertrauen in Margherita von Brentano zu tun. Das zeigen heute Briefe und Dokumente in den beiden Universitätsarchiven.

„Philosophie war in ihren großen Zeiten immer auch politische Theorie.“

Margherita von Brentano und Jacob Taubes heirateten 1967. Nach dem Tod von Taubes‘ erster Ehefrau zwei Jahre später zogen seine beiden Kinder nach Berlin. In dem kürzlich veröffentlichen Briefwechsel, den Jacob Taubes mit dem Philosophen Hans Blumenberg führt, ist „Frau Dr. von Brentano“, wie er sie in seinen Briefen gegenüber dem Kollegen in Münster nennt, eine wichtige Gesprächspartnerin – ihr Urteil zählte. Und so bleibt auch nach ihrer Scheidung 1975 die Freundschaft mit Taubes erhalten, einem „brillanten, aber sehr schwierigen Menschen“, so Susan Neiman, die beide Ehepartner kannte.

1987, im Jahr, in dem Jacob Taubes starb, wurde Margherita von Brentano emeritiert. In der öffentlichen Debatte in Berlin blieb sie präsent: Sie, die bereits in der Nachkriegszeit in Schulfunksendungen an die Ermordung der Juden erinnert und mit ihrem Antisemitismus-Seminar die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu einem Thema für die universitäre Lehre gemacht hatte, setzte sich seit 1988 für die Errichtung eines Holocaust-Mahnmals in Berlin ein. Und sie meldete sich auch weiter zu Wort, etwa in der Diskussion um die Zukunft der Humboldt-Universität nach der Wende.

Schließlich wurde es stiller um Margherita von Brentano, sie zog sich aus gesundheitlichen Gründen zurück und starb 1995 mit 72 Jahren. „Wissenschaftspolitik geht doch wohl auch die Wissenschaftler an, ist nicht nur Sache der Politiker“, sagte sie in einem ihrer letzten Interviews 1991 mit der ehemaligen DDR-Wochenzeitung Wochenpost über ihr Selbstverständnis, nach dem Philosophie, eigenes Handeln und politisches Engagement zusammengehören: „Philosophie war in ihren großen Zeiten immer auch politische Theorie, hat sich eingemischt. Das gilt für Platon und Aristoteles, das gilt für die großen Philosophen der Neuzeit von Hobbes über die Aufklärer bis Kant. Erst seit die Philosophie sich zunehmend spezialisiert und insgesamt zur Spezialwissenschaft neben den anderen einengt und bescheidet, wird sie unpolitisch. Ich habe mich immer dagegen gewehrt.“