Springe direkt zu Inhalt

Wahrheit, Wahn und Wunder - Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie religiösen Wunderglaubens am Beispiel von Franz Werfels Roman Das Lied von Bernadette.

Angelika Ebrecht – 2009

Der Aufsatz vertritt die These, dass der religiöse Wunderglauben von Frauen im politischen Raum der Moderne eine ambivalente Funktion erhält: Einerseits dient er der psychischen Unterordnung unter patriarchalische Herrschaftsverhältnisse, andererseits vertritt er aber auch das Bedürfnis, durch Visionen die Entfaltung der eigenen psychischen Kräfte in Richtung auf Selbstmacht und politischen Widerstand zu fördern. In einem theoriegeschichlichen Abriss wird zunächst kursorisch die Diskussion über die Funktion von Wundern dargestellt. Schwerpunkt bildet die deutsche Aufklärung, die Wunder in die innerpsychische Sphäre der Täuschung und Krankheit, der Einbildungskraft und der Träume verwies und ihnen die Funktion zusprach, als Irritationen der Wahrnehmung und des Denkens die Naturgesetze zu durchbrechen. Seit der Aufklärung übernimmt das Wunder analog zum Traum eine quasi ästhetische, symbolische Funktion. Sie dient dazu, im Subjekt ein Gefühl der Gewissheit seiner inneren und äußeren Welt zu schaffen und die Unterscheidung von Wahrheit (Realität), Wahrscheinlichkeit (Fiktion) und Wahn (Lüge) zu ermöglichen. Paradigmatisch für die Ambivalenz des Wunderglaubens in der Moderne wird anschließend der Roman Das Lied von Bernadette interpretiert, den Franz Werfel 1941 in den USA veröffentlichte aus Dankbarkeit dafür, dass er 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Lourdes Unterschlupf fand. Er schildert, wie die vierzehnjährige Bernadette Soubirous, der Tochter eines verarmten Müllers, in der Grotte Massabielle bei Lourdes in einen ekstatischen Zustand gerät, in dem ihr eine ‚wunderschöne Dame’ erscheint. Gegen alle Widrigkeiten hält das Mädchen mit hingebungsvoller Liebe daran fest, die Dame sei wirklich da, spreche mit ihr und fordere sie dazu auf, ein Loch in die Erde zu graben, woraus dann die wundertätige, heilende die Quelle von Lourdes entspringt. Gegen ihre armseligen Alltagserfahrungen, die allen Glauben an ein gutes Objekt wie auch an ein tatkräftiges Selbst zu zerstören drohen, setzt Bernadette den idealisierenden Glauben an eine Welt von Schönheit, Liebe und Barmherzigkeit. Das erlaubt ihr, den Nachstellungen der weltlichen wie auch kirchlichen Machthaber zu widerstehen, die sie der Lüge, des Betrugs oder des Wahnsinns bezichtigen und sie zum Widerruf zwingen wollen. Die einfache Bevölkerung von Lourdes wird aber von Bernadettes authentischem Glauben derart mitgerissen, dass die Reaktionen der Machthaber geradezu einen Volksaufstand provozieren. Doch letztendlich fällt dieses Widerstandspotential den Machtinteressen von Kirche und Staat zum Opfer. Abschließend werden auf der Basis des Romans Überlegungen zur politischen Psychologie des Wunderglaubens vorgestellt. Der durch das Wunder erweckte Glaube an sich selbst verdankt sich einem starken Gefühl, das in der von Freud entdeckten Spannung zwischen lustvollem und destruktivem Erleben angesiedelt ist und sowohl zu autoritärem als auch zu antiautoritärem Handeln führen kann. Werfel veranschaulicht in der Gestalt der Bernadette das, was mit Slavoj Žižek und Hannah Arendt als Wunder des Glaubens bezeichnet werden kann, nämlich die Fähigkeit, dem eigenen Leben eine ganz neue Wendung zu geben, die einen Neuanfang bedeutet, der weder „kontrollierbar“ noch „vorhersagbar“ ist. In diesem Akt politischer Freiheit, verbindet der Mensch den in seiner psychischen Realität entstehenden Glauben an die eigene innere Wahrheit mit der äußeren Alltagswelt.

Titel
Wahrheit, Wahn und Wunder - Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie religiösen Wunderglaubens am Beispiel von Franz Werfels Roman Das Lied von Bernadette.
Verfasser
Angelika Ebrecht
Datum
2009-03
Art
Text

Über die Autorin

Ebrecht, Angelika
; Dr. phil.; Diplom Psychologin, Politologin und Germanistin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin DPV/IPA/DGPT, ehemals Privat-Dozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der
Freien Universität Berlin (Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften).

Derzeit Professorin für Psychologie an der Evangelischen Fachhochschule Berlin; Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Sozialpsychologie und Kulturtheorie, Genderforschung, politische Psychologie und Philosophie, kulturelle Anthropologie, ästhetische Theorie und Literaturwissenschaft.


Ausgewählte Veröffentlichungen
der Autorin

Ebrecht, Angelika (2008): Der Hut als zerstörerischer Phallus – Transgressionen der Geschlechterordnung und Destruktion der romantischen Liebe in Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ und Josef von Sternbergs Film „Der Blaue Engel“, In: Busch, Hans-Joachim / Ebrecht, Angelika (Hg.): Liebe im Kapitalismus. Psychosozial-Verlag,  S.49-70.


Ebrecht, Angelika (2007): Vom glücklichen Bewusstsein, vom unglücklichen Bewusstsein und vom plötzlichen Erscheinen des Guten, In: Türcke, Christoph / Decker, Oliver (Hg.): Kritische Theorie - Psychoanalytische Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag, S.182-195.

Ebrecht, Angelika (2006): Masochismus und Macht. Zur Konstitution von Herrschaft im Geschlechterverhältnis,
In: Haubl, Rolf / Busch, Hans-Joachim (Hg.): Spuren des Subjekts. Positionen Psychoanalytischer Sozialpsychologie, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht, S. 169-199.

Ebrecht, Angelika (2003):Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Gießen.

Bettinger, Elfi / Ebrecht, Angelika (Hg.) (2000): Transgressionen: Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts. Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Band 5. Stuttgart: Metzler.

Ebrecht, Angelika (2000): Phantasierte Zerstörung – Zerstörte Phantasie. Zur Konstitution und Destruktion von Realität in Symbolbildungsprozessen. In: Löchel, Elfriede (Hg.): Aggression – Symbolisierung – Geschlecht. Psychoanalytische Blätter 17, S. 34–61.

Ebrecht, Angelika (1999): Die List der Frauen – Beschädigte Weiblichkeit und politische Subjektivität. In: Hans-Joachim Busch, August Schülein (Hg.): psychosozial. Schwerpunktthema: Politische Psychologie. 22.Jg., Nr.75, Heft I, S. 57–68.

Ebrecht, Angelika (1999):Das gläserne und das steinerne Herz. Zur politischen Psychologie der Monarchie am Beispiel von Prinzessin Diana. In: Sabine Berghahn; Siegrid Koch-Baumgarten (Hg.): Mythos und Politik: Diana – von der Princess of Wales zur Queen of Hearts. Gießen: psychosozial, S. 117–132.


Links


http://www.evfh-berlin.de

http://www.querelles-net.de/

http://www.lourdes-france.org

http://www.lourdes2008.com

http://www.heiligenlexikon.de

http://www.youtube.com/watch?v=
Hm7lYlNGOdY&eurl=http%3A%2F%2Fwww
%2Eheiligenlexikon%2Ede%2
FBiographienB%2FBernadette%
5FSoubirous%5FMarie%5FBernard%2
Ehtm&feature=player_embedded




Kontakt


Angelika Ebrecht-Laermann
Evangelische Fachhochschule Berlin
Postfach 370255
14132 Berlin
Email: ebrecht-laermann@evfh-berlin.de